Mit einem Schild wird auf eine Videoüberwachung an der Kleinen Synagoge aufmerksam gemacht.
(Quelle: picture alliance/dpa | Martin Schutt)
Vorabdruck. Dieser Beitrag erscheint am 23. Juni 2025 in der Publikation „Thüringer Zustände 2024 – Rechtsextremismus und Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit in Thüringen“.
Die beispiellose Eskalation des Nahost-Konflikts seit dem 7. Oktober 2023 wirkte sich auch 2024 deutlich auf das antisemitische Vorfallgeschehen in Thüringen aus. Das belegen die Zahlen der Jahresstatistik der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) Thüringen: 392 Gesamtvorfälle dokumentierte die Meldestelle 2024 (2023: 297). 41 Prozent aller Vorfälle wiesen einen eindeutigen Bezug zum Terrorangriff der Hamas bzw. dem daraus resultierenden Nahostkrieg auf. Entsprechend stieg die Zahl israelbezogen-antisemitischer Vorfälle auf 197 (2023: 103) und machte 50 Prozent der Gesamtvorfälle aus. Die absoluten Vorfallzahlen in den vier anderen Erscheinungsformen blieben hingegen relativ konstant.
Damit entfielen erstmals seit Beginn der Erfassung durch RIAS Thüringen im Jahr 2021 die meisten Vorfälle im Freistaat auf eine andere Erscheinungsform als den Post-Shoah-Antisemitismus.
RIAS orientiert sich bei der Dokumentation von Antisemitismus an der Arbeitsdefinition der International Holocaust Rememberance Alliance (IHRA). So liegt israelbezogener Antisemitismus beispielsweise vor, wenn Israel und seinen Bürger*innen das Recht auf Selbstbestimmung bzw. das Existenzrecht abgesprochen wird (Delegitimierung) oder jüdische Menschen für die Handlungen Israels verantwortlich gemacht werden. In der Arbeitsdefinition wird festgehalten, dass „Kritik an Israel, die mit der an anderen Ländern vergleichbar ist, nicht als antisemitisch betrachtet werden [kann]“ (vgl. IHRA 2016). Hiervon unterschieden und deshalb als antisemitisch eingestuft werden beispielsweise Vergleiche der Politik des jüdischen Staates mit dem Nationalsozialismus (Dämonisierung) oder das Anlegen doppelter Standards an die Bewertung staatlicher Maßnahmen Israels.
Der seit Jahren kontinuierlich sichtbare Antisemitismus aus dem rechten Spektrum (vgl. Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Thüringen 2023 und 2024) stieg leicht von elf auf 14 Prozent. Allerdings zeigt die RIAS-Statistik 2024 daneben die Fortsetzung der Entwicklung aus dem letzten Quartal 2023: Ein erheblicher Anteil der Vorfälle, besonders die des israelbezogenen Antisemitismus, fand in linken, emanzipatorischen und akademischen Milieus statt. In 16 Prozent (2023: 8 %) der Fälle wurde antiisraelischer Aktivismus als politischer Hintergrund dokumentiert und bei sieben Prozent (2023: 2%) standen links-antiimperialistische Ideologien im Vordergrund. In 58 Prozent der Fälle war ein politischer Hintergrund nicht zu ermitteln.
Besonders die Zahl antisemitischer Vorfälle an höheren Bildungseinrichtungen stieg alarmierend: 46 gemeldete Fälle – also etwa jeder achte von RIAS dokumentierte antisemitische Vorfall – ereigneten sich an Thüringer Hochschulen. Die Äußerungsformen von Antisemitismus reichten dort von Schmierereien über Flyer und Plakate bis hin zu Infoständen und Veranstaltungen. Eine Reihe an Versammlungen und Sit-ins, auf denen antisemitische Äußerungen getätigt wurden, fanden außerdem direkt vor Hochschulgebäuden statt. In der RIAS-Statistik werden diese unter dem Tatort „Straße“ erfasst, da sie sich nicht auf dem Hochschulgelände selbst ereigneten. Dennoch sind Hochschulangehörige auch hier antisemitischen Äußerungen wie Sprechchören an zentralen Zugangswegen zu Hochschulgebäuden ausgesetzt.
So wurden RIAS Thüringen im vergangenen Jahr Parolen wie „Alle gegen Zionisten – Siedler, Mörder und Faschisten“, über Mikrofon getätigte Aussagen wie „Wir stehen selbstverständlich nicht für das Existenzrecht eines Apartheidstaates ein!“ oder „Terrorstaat Israel“- Schmierereien an Hochschulgebäuden gemeldet. An mehreren Thüringer Hochschulen wurden des Weiteren wiederholt die Wände von WCs mit antisemitischen Inhalten beschmiert, so zum Beispiel im Juni die Forderung „Stoppt den Holocaust in Gaza. Frieden für Palästina“. Auf der Toilette einer Fachhochschule stand gar die Aufforderung „Gas Jews“ (deutsch: „Vergast Juden“). Dass Antisemitismus an Orten des wissenschaftlichen Diskurses und der Vielfalt in derartig drastischer Form Ausdruck findet, ohne dass es ein konsequentes und weithin sichtbares Entgegentreten der betreffenden Institutionen gäbe, trägt in fataler Weise zu seiner Normalisierung bei und schuf ein Klima der Feindseligkeit. Die normale Ausübung von Wissenschaft, Lehre und Lernen wird so erheblich erschwert. Diese Situation ist für jüdische oder israelische Hochschulangehörige alltagsprägend und führt für viele Betroffene zu Unsicherheit, Angst und sozialer Isolation (AJC Berlin 2025).
Eine Triebfeder für das antisemitische Vorfallgeschehen im akademischen Kontext sind u.a. Hochschulgruppen, die dem antiisraelischen Aktivismus und dem links-antiimperialistischen Spektrum zuzuordnen sind. Dass diese alle Vorteile des Status als studentische Organisationen für die Verbreitung antisemitischer Narrative nutzen können, ist hochproblematisch. Es vergrößert die Gefahr der Normalisierung von Antisemitismus nicht nur innerhalb akademischer Institutionen, sondern auch außerhalb davon. Denn die betreffenden Hochschulgruppen sind über den universitären Rahmen hinaus aktiv, mit weiteren teils studentischen Gruppierungen aus dem links-antiimperialistischen Spektrum sowie mit migrantischen, queeren und anderen emanzipatorischen Communitys sowohl personell als auch infrastrukturell vernetzt.
Derartige Netzwerke waren 2024 die Haupträger der 46 von RIAS dokumentierten israelbezogen-antisemitischen Versammlungen. Die ausrichtenden Organisationen bewarben die Demonstrationen häufig gemeinsam als Solidaritätskundgebungen für die palästinensische Zivilbevölkerung. Legitime Solidarisierung und Empathie mit den Notleidenden in Gaza traten jedoch zumeist hinter antisemitische Agitation gegen den Staat Israel zurück. Der Staat Israel wurde regelmäßig als terroristisch, kolonialistisch und/oder imperialistisch dargestellt. So wiesen auf einer Demonstration in Jena die Redner*innen zwar einerseits auf das Leid der Menschen in Gaza hin, delegitimierten Israel jedoch gleichzeitig als „faschistischen Apartheidstaat“ und dämonisierten den jüdischen Staat als „Kindermörder“. Teilnehmende der Demonstration stellten den Terrorangriff vom 7. Oktober 2023 als Gerücht dar und bedrohten zudem Personen aus einer Gegenkundgebung mit Gewalt. Fälle von Bedrohungen und Angriffen sind für die Betroffenen besonders schwerwiegend und haben sich 2024 im Vergleich zum Vorjahr leicht erhöht. RIAS Thüringen verzeichnet für das Jahr 2024 insgesamt zwei Angriffe. Signifikant ist, dass beide im Kontext antiisraelischer Kundgebungen und israelsolidarischer Gegenproteste stattfanden und die angegriffenen Personen Israelfahnen trugen. Bedrohungen fanden zudem in antiisraelischen Kontexten statt: So wurde eine israelsolidarische Person mit einer Kopf-ab-Geste und zwei weitere mit dem Zeigen des Hamas-Dreiecks bedroht. Dass Angriffe und Bedrohungen in diesem Rahmen stattfinden, ist besonders besorgniserregend. Wenn das Wahrnehmen des Rechts auf Versammlungsfreiheit in einem körperlichen Angriff oder der Androhung von Gewalt endet, wird damit nicht nur die betroffene Person, sondern auch das demokratische Miteinander an sich angegriffen.
Die Verquickung der genannten Milieus über das Thema Antisemitismus konnte 2024 darüber hinaus vielfach in Schmierereien und Aufklebern beobachtet werden. In denen waren antisemitische Inhalte mit links-antiimperialistischen Symboliken oder den jeweiligen Anliegen der entsprechenden Communitys verbunden. Beispielsweise wurden Sticker mit den Aufschriften „Keine Pride der Apartheid“ oder „Stop Pinkwashing Colonialism“ sowohl aus Hochschulen gemeldet als auch auf der Straße gesichtet. Besonders häufig waren antisemitische Aussagen mit gekreuztem Hammer und Sichel verbunden. So gab es etwa aus dem akademischen Kontext eine Schmiererei, die den Satz „Free Palestine from Zionist Fascism“ mit diesem Symbol verband.
Allen diesen Gruppierungen – aus akademischem, links-antiimperialistischem und emanzipatorischem Umfeld – ist gemein, dass sie in ihren Aussagen Antisemitismus als politische Meinungsäußerung proklamieren, zum Beispiel, indem behauptet wird, Antizionismus sei kein Antisemitismus. Faktisch handelt es sich dabei aber um eine Umwegkommunikation. Diese ist in der radikalen Linken ebenso wie im rechtsextremen Spektrum schon seit vielen Jahrzehnten bekannt. Auch antisemitische Stereotype und Narrative, die sich in abgewandelter Form ebenso in rechten Milieus finden, wurden in den obengenannten antiisraelischen Versammlungen regelmäßig bedient. Beispielsweise ist der 2024 von RIAS in Thüringen immer wieder dokumentierte Sprechchor „Lasst euch nicht betrügen – alle Zionisten lügen! Lasst euch nicht betrügen – deutsche Medien lügen!“ nichts anderes als eine Abwandlung des überkommenen antisemitischen Narrativs vom „lügenden Juden“ bzw. der „jüdischen Lügenpresse“. Die wiederholt dokumentierte Parole „Free Palestine from German Guilt“ dagegen stellt wiederum eine aktivistische Variation des originär rechtsextremen Schlagworts „Schuldkult“ dar (Botsch 2024).
An diesen Beispielen wird deutlich: Antisemitismus bedient in Variationen immer wieder die gleichen Narrative und Stereotype, egal in welchen Milieus oder politischen Spektren er auftritt. Auffällig ist allerdings, dass viele politische Gruppen, Vereine und Dachverbände wie auch akademische Institutionen in Thüringen zu oft den antisemitischen Äußerungen ihrer Mitglieder nicht konsequent entgegentreten. Gerade israelbezogener Antisemitismus wird immer noch viel zu häufig als (legitime) Kritik verkannt. Diese Haltung fördert die Verbreitung antisemitischer Narrative und verhindert eine klare Auseinandersetzung mit dem Problem. Antisemitismus, der von linken oder emanzipatorischen Gruppen ausgeht, wird nicht in gleicher Weise adressiert wie der aus dem rechten Spektrum. Das kann dazu führen, dass dieser weiter ins gesellschaftliche und akademische Leben einsickern kann. Ein solches Versäumnis, Antisemitismus unabhängig von seiner Quelle konsequent zu bekämpfen, gefährdet langfristig die Integrität akademischer Institutionen und zivilgesellschaftlicher Initiativen. Es bedroht die Betroffenen, den sozialen Frieden in unserer Gesellschaft und letztlich unsere Demokratie.
Luca Schuldt ist Mitarbeiter der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) Thüringen.
Susanne Zielinski leitet die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) Thüringen.
Vorabdruck – dieser Beitrag erscheint am 23. Juni 2025 in der Publikation „Thüringer Zustände 2024 – Rechtsextremismus und Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit in Thüringen“ (Hrsg.: IDZ, MOBIT, ezra, KomRex) – www.thueringer-zustaende.de