Drücken Sie „Enter“, um den Inhalte zu überspringen

Anschlag: Wie kann die Tat aus Magdeburg eingeordnet werden?

Belltower.News

Der Migrationshintergrund des Täters dient als Vorwand zur Instrumentalisierung der Tat in Magdeburg durch AfD und Co.. Dabei verbreitete er selbst rassistische und islamfeindliche Erzählungen. Ist die Tat Ausdruck eines modernen Rechtsextremismus?

Von Kira Ayyadi|

Vier Tage vor Heiligabend gab es einen Anschlag auf den Magdeburger Weihnachtsmarkt. Ein Mann war mit seinen Auto in die Besucher gerast. Es gab fünf Tote und über 200 Verletze.

(Quelle: picture alliance/dpa | Heiko Rebsch)

Am 20. Dezember raste ein Mann mit einem Auto absichtsvoll auf den Magdeburger Weihnachtsmarkt. Er tötete sechs Menschen und verletzte mehr als 300. Die Todesfahrt ist der größte Anschlag in der Geschichte Sachsen-Anhalts. Eine verehrende Tat, die das ganze Land schockiert und Trauer und Wut hinterlässt. Rechtsextreme Kreise, bis zur AfD, versuchen daraus Kapital zu schlagen, obwohl der Täter rassistische und rechtsextreme Narrative verbreitete. Seine Motivlage ist nicht einfach einzuordnen, weil er in kein gängiges Raster passt.

Der Leiter der Magdeburger Staatsanwaltschaft erklärte bereits am Nachmittag nach der Tat, „Unzufriedenheit mit dem Umgang mit saudi-arabischen Flüchtlingen“ könne der Auslöser gewesen sein. Bundesinnenministerin Nancy Faeser sagte am selben Tag, sie könne nur gesichert sagen, „dass der Täter offensichtlich islamophob war“. Der Mann hat über die Jahre unterschiedliche Feindbilder aufgebaut: Saudi-Arabien, den Islam, einen Kölner Verein, der sich um die Interessen atheistischer Flüchtlinge kümmert und den deutschen Staat.

Unklare Motivlage

Was den Täter genau antrieb, mit einem Auto in die Menschenmenge zu fahren, ist bisher demnach noch unklar. Der 50-jährige Schiit war 2006 aus Saudi-Arabien eingewandert. Die Schiiten leben dort als teilweise unterdrückte Minderheit. Der Täter war in Sachsen-Anhalt Facharzt für Psychiatrie und arbeitete seit ein paar Jahren im Salzlandkreis in der Nähe von Magdeburg in einer Klinik. 2016 wird ihm Asyl gewährt, mit der Begründung, in seinem Heimatland drohe ihm die Todesstrafe, weil er den Islam kritisiere. Der Arzt war in den sozialen Netzwerken als aggressiver Islamkritiker und AfD-Sympathisant aufgefallen, hatte sich radikalisiert, offenbar gibt es Hinweise auf eine psychische Erkrankung. Seit Oktober 2024 war der Täter krankgeschrieben. Er überlebte den Anschlag und befindet sich seit der Amokfahrt in Untersuchungshaft. Während der Fahrt soll er unter Drogeneinfluss gestanden haben.

Auf X (ehemals Twitter) folgten dem Täter über 40.000 User*innen. Seine Sprache auf X ist sehr gewaltvoll, teils auch wirr. Dort finden sich etliche Posts, in denen er vor einer angeblichen Islamisierung Deutschlands warnt und dafür deutsche Politik und Behörden verantwortlich macht. An diesen, so kündigte er mehrfach an, wolle er Rache nehmen. Er soll auch Behörden mit einer Vielzahl von Mails und Briefen beschäftigt haben. Ex-Kanzlerin Angela Merkel erkor der Täter zur Feindin des Deutschen Volkes, da sie die Islamisierung Deutschlands vorantreibe. Bei Einführung der Todesstrafe habe sie es „verdient, getötet zu werden“ schreibt er auf X, damals noch Twitter in Englisch. Bereits im Mai 2024 machte er Anspielungen auf eine möglicherweise bevorstehende Tat: „Ich rechne noch in diesem Jahr mit meinem Tod. Der Grund: Ich werde um jeden Preis Gerechtigkeit bringen.“

Das Versagen der Sicherheitsbehörden

Wegen seines Hasses auf Gegner*innen war der Täter bereits mehrfach mit Behörden in Konflikt geraten. 2013 droht er etwa in einem Streit mit der Ärztekammer mit einem Anschlag und wurde verurteilt. Saudische Sicherheitskreise sollen bereits mehrfach vor dem Mann gewarnt haben. Nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur habe das Königreich seine Auslieferung beantragt, darauf habe Deutschland nicht reagiert. 

Wenige Tage vor der Tat traf sich der Mann für ein Interview mit der RAIR Foundation, einer Website, die impfskeptischen und antimuslimischen Inhalten Raum gibt. Er behauptete unter anderem, Deutschland führe einen Krieg gegen Ex-Muslime. Auf seinem X-Account erklärte der Täter, er habe Beweise dafür, dass deutsche Behörden Verbrechen an saudischen Flüchtlingen begingen. 

Hetzte gegen Geflüchtete und Muslime

Der Täter engagierte sich in der Geflüchtetenhilfe, wollte aber nur Geflüchteten helfen, die aus islamischen Ländern kommen und sich von der Religion lossagen. Seine X-Aktivitäten deuten auf paranoide Züge hin. Er glaubte, der deutsche Staat wolle verhindern, dass er die Wahrheit sage, dass Deutschland durch Migrant*innen islamisiert würde, als Teil des „großen Austausches“. Er glaubte, überwacht zu werden, dass die Polizei bei ihm eingebrochen sei. Laut dem MDR erstattet er zwischen April 2023 und Oktober 2024 fünfmal Anzeige. Er beklagte sich unter anderem, dass ihm ein USB-Stick aus dem Briefkasten gestohlen worden sei, der Beweise für Straftaten des saudi-arabischen Staates enthalte.

Der Sozialforscher Hans Goldenbaum ordnet in der taz ein: „In dieser Erzählung stehen die Deutschen sozusagen auf der falschen Seite der Geschichte, da sie aus seiner Sicht pro Geflüchtete und pro Islam sind und Leute wie ihn bis zum Tod verfolgen.“ Deshalb habe er getwittert: „Wenn die Deutschen uns töten wollen, dann werden wir sie abschlachten oder sterben oder stolz ins Gefängnis gehen.“

Rechte Szene will die Tat für ihre Zwecke nutzen

Der Täter war offensichtlich beeinflusst von rechtsextremen und teils rassistischen Narrativen, er befürwortete internationale und deutsche rechtsextreme Influencer*innen, die AfD und Elon Musk. Und dennoch wittert die rechte Szene eine Möglichkeit, Kapital aus der Tat zu schlagen, allein wegen des Geburtslandes des Täters. Besonders in Wahlkampfzeiten erhofft sich die AfD, mit dem Thema Flucht und Migration zu punkten.

Menschen, wie die Attentäter von Magdeburg, Mannheim und Solingen „haben in diesem Land nichts verloren und dürften gar nicht hier sein“, sagte etwa Parteichefin Alice Weidel auf dem AfD-Parteitag in Riesa. Was genau meint sie aber damit? Natürlich wäre es schön, wenn in Deutschland keine Mörder, Terroristen und Amokfahrer leben würden. Doch die könnte man schließlich nicht alle pauschal ausweisen. Auf X schrieb der Täter: „Die Linken sind verrückt. Wir brauchen die AfD“.

Viele Menschen begreifen noch immer nicht, wie Migrant*innen generell die AfD unterstützen können. Menschen mit Migrationsbiografien haben in der weiß-deutschen Mehrheitsgesellschaft häufig Zurückweisung, Ablehnung und Ausgrenzung erlebt. Um das zu kompensieren, um sich aus der Position der Marginalisierung herauszubewegen, werden manchmal dieselben Strategien angewandt, durch die man selbst marginalisiert wurde und wird. In einem Dominanzdenken werden dann unter Umständen andere Menschen abgewertet, um sich über sie zu erheben. Die eigenen Rassismus-Erfahrungen schützen eben nicht davor, selber rassistisch, gar rechtsextrem zu handeln. 

Eine Form des modernen Rechtsterrorismus?

Laut Goldenbaum handelt es sich bei dem Täter von Magdeburg um eine „marginale Figur innerhalb der Diskursgemeinschaft des globalen Rechtsextremismus“. Das mag zunächst kontraintuitiv klingen. Doch zentral für die moderne Form des Rechtsextremismus ist ein modernisierter Rassismus. Während sich die neonazistischen Parteien in den vergangenen Jahrzehnten noch offen zu ihrem Rassismus bekannten und dem Erhalt oder der Überlegenheit der „Rasse“ argumentierten, behauptet der modernisierte Rechtsextremismus heute zumeist, dass es lediglich um die Verteidigung der (deutschen/ europäischen/ weißen) Kultur und Identität gehe. Auch Menschen mit Migrationsbiografien können theoretisch Teil der Kulturgemeinschaft sein, sofern sie sich völlig assimiliert haben.

Der Täter passt in kein gängiges Schema

Ganz offensichtlich ist die Tat von Magdeburg schwer einzuordnen, da sie weder eine islamistische Tat war, noch eine klassisch rechtsextreme. Bisher schweigt der inhaftierte Täter. Die Bundesanwaltschaft ist für die Ermittlungen zuständig, wenn der Anfangsverdacht einer politisch motivierten Tat besteht.  Den scheint es nicht zu geben, denn die Generalstaatsanwaltschaft in Naumburg übernahm das Verfahren. Sie ermittelt nun auch in der Frage der Schuldfähigkeit des Täters. Ein Sprecher der Generalstaatsanwaltschaft Naumburg sagte laut MDR Anfang Januar: „Ob und wie er psychisch erkrankt ist, dafür werden wir ein Gutachten in den Auftrag geben.“ Die Ermittlungen würden voraussichtlich noch Wochen dauern.

Wir wissen bisher noch nicht, was die Motive des Täters waren, genau an diesem Tag mit einem Auto Menschen auf dem Magdeburger Weihnachtsmarkt zu töten. Die komplexe Gemengelage dieser Tat erschwerte es den Sicherheitsbehörden vermutlich, die Gefahr, die von diesem Mann ausging, korrekt einschätzen zu können, da er weder als klassisch islamistischer noch als rechtsextremer Gefährder galt. Der Attentäter fiel bei den Behörden offenbar durchs Raster, weil er in kein gängiges Schema passte.

Vielleicht wird er noch etwas zu seiner Motivation erzählen, vielleicht nicht. Was wir aber anhand seines X-Profils ableiten können, ist, dass es sich hier um einen offenbar psychisch kranken Mann handelt, der rechtsextreme und rassistische Narrative vertrat, aber selber einen Migrationshintergrund hat. Das mag auf den ersten Blick ein Widerspruch sein, doch er ist auch Ausdruck moderner Gesellschaften, die sich der Vereinheitlichung entziehen und stattdessen zahlreiche Facetten ausbilden, eben auch im Bereich des Rechtsextremismus. 

Views: 0