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Bedenkliche Sogwirkung: Warum TikTok eine Notbremse braucht

Dieser Artikel stammt von Netzpolitik.org.Der Autor ist…
Die algorithmisch sortierten Videos auf TikTok können uns berauschen, aber auch beklemmen. Jetzt soll ein neuer Reset-Button Nutzer*innen mehr Kontrolle geben. Das wirft ein Licht auf die nach wie vor unterschätzte Seite von TikTok. Ein Kommentar.
Der Sog von TikTok ist für viele ein Genuss (Symbolbild) – Logo: TikTok; Strudel: StableDiffusion („creepy vortex“)80 Minuten TikTok am Tag, 40 Stunden im Monat – so viel Zeit verbringen Kinder laut einer Studie durchschnittlich mit der populären Video-App. Aufs Jahr gerechnet sind das schon 20 komplette Tage. Mich wundert das kaum, denn im unendlichen Strom von TikToks optimierten Video-Empfehlungen vergehen die Stunden wie im Flug. Auf der Couch liegen und sich dem Feed hingeben, das halte ich für sehr gute Unterhaltung.
TikTok führt nun eine neue Funktion ein, die Nutzer*innen etwas mehr Kontrolle über den Sog der Videos gibt. Ein Reset-Button soll den persönlichen Empfehlungs-Algorithmus auf Wunsch komplett zurücksetzen. Die Funktion ist nicht nur längst überfällig, sie lenkt auch den Fokus auf eine unterschätzte Seite der Video-App. Während Nachrichtenmedien weltweit spekulieren, welche sensiblen Daten von der App nach China fließen könnten, übersehen sie etwas Größeres. Es ist der gesellschaftliche Einfluss einer Plattform, die Abermillionen Menschen jeden Tag zum Lachen, Tanzen und Weinen bringt.
Die Sogwirkung von TikTok ist beispiellos. Als Nutzer muss ich keine Denkarbeit leisten. Ich kann, aber muss keine Abos verwalten oder Suchbegriffe verwenden. Ich muss mir nicht einmal merken, wer die Creator*innen sind, die ich gerne schaue. Die Startseite, bekannt als For You Page, serviert mir immer neue Videos, bis mein Akku leer ist. Dabei muss ich nichts tun als weiterzuwischen, sobald mir ein Video nicht gefällt. Ohne Mühe trainiere ich damit meinen persönlichen Empfehlungsalgorithmus. Und weil TikTok-Videos sehr kurz sind, liefere ich TikTok in kurzer Zeit eine Menge Infos darüber, was mich bei Laune hält.
Wenn der Sog plötzlich unangenehm wird
Nicht alle genießen diesen Sog gleichermaßen. Dazu gibt es Erfahrungsberichte von Nutzer*innen und journalistische Recherchen. Sie zeigen: Für manche wird die Sogwirkung beklemmend. TikTok bietet nicht nur Tanz-, Tier- und Comedyvideos, sondern auch Videos über Verzweiflung, Depression und selbstverletzendes Verhalten. Wer nach einer schweren Phase endlich besser klarkommt, kann durch solche Empfehlungen immer wieder runtergezogen werden.
Es gibt auch auch weniger drastische Fälle, in denen die Sogwirkung von TikTok ins Negative kippen kann. Vor einer Weile sah ich in meinem Feed ständig Menschen, die lebendige Meerestiere snacken. Ich will das nicht sehen! Aber das habe ich mir wohl selbst eingebrockt. Als so ein Video mal zufällig auf meiner For You Page auftauchte, konnte ich meinen Augen nicht trauen und habe es gleich mehrfach geschaut. Prompt dachte TikTok, man könnte mir mit noch mehr Videos dieser Art einen Gefallen tun.
Schon klar, wenn einem der Sog von TikTok zu unangenehm wird, dann kann man auch einfach sein Handy weglegen. Möglicherweise kommentieren manche Leser*innen unter diesem Artikel, dass TikTok-Nutzer*innen selbst schuld seien und allein deshalb schon Vollpfosten, weil sie sich die App heruntergeladen haben. Ich fände das überheblich.
Ohne schlechtes Gewissen auf TikTok
TikTok bietet eine berauschende Welt aus algorithmisch optimierter Unterhaltung. Das ist echt krass! Ich finde, wer das ausprobieren möchte und TikToks Datensammelei zumindest duldet, sollte TikTok ohne schlechtes Gewissen nutzen können. Außerdem ist TikTok inzwischen zum wichtigsten Schauplatz für Popkultur im Netz geworden. Je nach Umfeld muss man in Sachen Popkultur einfach auf dem Laufenden sein. Wäre ich heute Teenager, der auf dem Pausenhof mitreden will, dann wäre ich aber sowas von jeden Tag auf TikTok. Heute bin ich Tech-Journalist und fast jeden Tag auf TikTok.
Ich finde aber auch, TikTok hat eine Verantwortung gegenüber seinen Nutzer*innen. Sie sollten diese beispiellose Sogwirkung jederzeit stoppen können, wenn sie das möchten. Zumindest eine Maßnahme dafür ist der neue Reset-Button. Er ist wie eine Notbremse. Betätigt man den Button, dann ignoriert der Empfehlungsalgorithmus alles, was er über einen gelernt hat. Die For You Page ist dann nicht mehr voll mit personalisierten Videos. Stattdessen zeigt TikTok jene massenkompatiblen Inhalte, die man als brandneue Nutzer*in zu sehen bekommt.
In Kürze soll dieser Button für alle verfügbar sein: Profil > Drei-Punkte-Symbol > Einstellungen und Datenschutz > Inhaltspräferenzen. Wer gänzlich neu starten möchte, muss darüber hinaus noch händisch den gefolgten Creator*innen entfolgen.
Recht auf Vergessenwerden durch Empfehlungsalgorithmen
Ich finde, einen solchen Button sollte es bei allen vergleichbaren Empfehlungssystemen geben. Menschen sollten selbst entscheiden können, ob sie durch einen vorbelasteten Empfehlungsalgorithmus zurück in die Vergangenheit gezogen werden wollen. Im Reset-Button von TikTok sehe ich ein Beispiel für ein neuartiges Recht auf Vergessenwerden durch algorithmische Empfehlungssysteme. Den Begriff „Recht auf Vergessenwerden“ gibt es bereits in einem anderen Kontext: in der DSGVO (Datenschutzgrundverordnung) handelt dieses Recht davon, wann Nutzer*innen die Löschung ihrer personenbezogene Daten verlangen dürfen.
Neben der Sogwirkung hat TikTok noch eine zweite Besonderheit, und die würde ich als Suggestivkraft bezeichnen. Das Wort finde ich hilfreich, um zu beschreiben, warum Abermillionen Menschen an TikTok kleben bleiben, nicht aber an Kreuzworträtseln. TikTok ist besonders eindringlich. Die prägnanten Videos sprechen in hohem Maß Gefühle und Sinne an. Außerdem haben viele ihr Handy immer bei sich, so begleitet TikTok viele bis ins Bett und auf die Toilette.
Auch auf Handlungen hat TikTok Einfluss: Zahlreiche virale Trends laden Nutzer*innen unmittelbar dazu ein, Gags und Tänze selbst nachzumachen. Die Massen an spontanen Tanz- und Spaß-Videos aus Wohnzimmern, Schulklassen und Büros zeigen: Genau das funktioniert. Neue Musik wird nun oft zuerst auf TikTok groß, von dort landet sie in Spotify-Playlists und auf den Tanzflächen der Clubs. Wenn ein Medium derart stark Denken, Fühlen, Wollen und Handeln beeinflusst, dann hat es eine enorme Suggestivkraft.
Beruhigungspille für die Massen
Während Menschen mit TikTok gute Laune haben und die Welt vergessen, tun sie einige andere Dinge nicht: Sie twittern sich nicht in Rage über die Lage der Nation, sie teilen keine Links zu spannenden Texten auf Facebook und sie organisieren keine Straßenproteste in Messenger-Gruppen. Stattdessen belohnt TikTok Menschen mit Tausenden Likes und Follows, wenn sie sich unbesorgt und munter präsentieren, etwa beim Posen, Tanzen, Kochen, Witze machen, Sporteln oder beim Spiel mit dem Haustier.
Ich glaube, wenn TikTok bedenklich ist, dann deshalb. TikTok zelebriert und fördert eine Welt mit unkritischen Bürger*innen. Eine Welt, von der autoritäre Regime sicher träumen. Pro-chinesische Akteur*innen müssten nicht mal Propaganda-Videos in die Feeds der Nutzer*innen schmuggeln, auch wenn es dafür mitunter Hinweise gibt. Es genügt, wenn sich die Leute mehr für ein Lied über unvorteilhaft fallende Haare interessieren als für verletzte Menschenrechte.
TikToks Angebot an harmloser Unterhaltung ist groß genug, um Nutzer*innen dauerhaft bei Laune zu halten. Twitter und Facebook verlieren ohne aufwühlende Inhalte bald ihren Reiz, TikTok nicht. Ich halte TikTok für besonders geeignet, Menschen zu entpolitisieren. Auch wenn es durchaus Fälle von politischen Inhalten auf der Plattform gibt, die teils unter seltsamen Umständen ausgebremst oder gänzlich blockiert wurden.
Ich glaube nicht, dass TikTok gezielt als Beruhigungspille für die Massen entwickelt wurde. TikTok hat sich wohl einfach so entwickelt. Genauso, wie Twitter zu einer Arena für provokante Behauptungen geworden ist – und LinkedIn ein Laufsteg für lebendig gewordene Motivationsschreiben. Diese und andere Plattformen mögen ihren Einfluss auf Menschen haben, sind aber auch nur einer von vielen Faktoren. Die Generation TikTok ist zum Beispiel dieselbe Generation, die mit bemerkenswerter Entschlossenheit dagegen ankämpft, dass unser Planet in eine ungebremste Klimakatastrophe rast.
Bedenklich, aber nicht gefährlich
Zahlreiche Nachrichtenmedien gehen gerade der Frage nach, ob uns der chinesische Staat mithilfe von TikTok schaden könnte, etwa durch Ausspähen unserer Kontaktbücher und Standorte. Solche Fragen sind ziemlich engstirnig, wie mein Kollege Markus Beckedahl schon im Januar aufgeschrieben hat. US-amerikanische Datensammler wie WhatsApp-Konzernmutter Meta oder Google sind nicht weniger neugierig. Keinem Tech-Konzern sollte man gerne sein Kontaktbuch freigeben, mit China hat das wenig zu tun. Besonders schützen sollten sich etwa Aktivist*innen, Anwält*innen, Journalist*innen.
Für die Mehrheit der Abermillionen TikTok-Nutzer*innen finde ich etwas anderes bedenklich, und zwar die Sogwirkung und Suggestivkraft von TikTok. Ein endloser, algorithmisch optimierter Feed aus einprägsamen Kurzvideos, so etwas gab es vorher noch nicht. Ich halte TikTok allerdings nicht für ein Suchtmittel. Die Pathologisierung von Medienkonsum war schon vor mehr als 200 Jahren überzogen. Ich sehe in TikTok ein Genussmittel, und den guten Umgang damit müssen alle erst mal lernen. Gefährlich würde ich TikTok auch nicht nennen, von Gefahr zu sprechen wäre mir eine Nummer zu groß. Zum Vergleich: Schlafmangel ist gefährlich.
Inzwischen hat TikTok einen Warnhinweis für Jugendliche eingerichtet. Wenn sie länger als eine Stunde am Tag online sind, müssen sie einen Zahlencode eingeben. Mich überzeugen solche technischen Ansätze weniger. Ich habe mir so einen Zahlencode auch eingerichtet und lasse mich davon nicht aufhalten. Wenn man von einer Sache wegkommen will, dann helfen interessante Alternativen. Ich glaube zu den besten Mitteln gegen die entpolitisierende Suggestivkraft von TikTok gehören verblüffend profane Dinge: Familie und Freund*innen, Vereine und Brettspiele, und von mir aus auch ein wenig LinkedIn.

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Author: Sebastian Meineck

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