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Mehrere Parteien und Kommunen planen Chipkarten für Asylsuchende. Mit den Bezahlsystemen können Aufenthaltsbeschränkungen durchgesetzt und Einkäufe eingeschränkt werden. Flüchtlingsorganisationen kritisieren die massiven Einschnitte in die Selbstbestimmung.
Immer mehr Politiker*innen fordern Bezahlkarten statt Bargeld für Geflüchtete. Das kritisieren Organisationen der Geflüchtetenhilfe vehement. – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / BihlmayerfotografieGleich zwei Vorschläge ließen die Bundespolitik in der vorvergangenen Woche aufhorchen. Zuerst preschte CSU-Chef Markus Söder vor und kündigte eine Chipkarte für abgelehnte Asylbewerber*innen an. Wenig später forderte auch die FDP eine bundeseinheitliche Bezahlkarte für Schutzsuchende. Vieles an den Vorschlägen bleibt noch vage, doch klar ist: Es geht um Abschreckung – und Kontrolle.
Bürokratie und Abschreckung
Bereits im Sommer wurde über das Thema Kartenauszahlung diskutiert. Ein Grund: Bürokratie. Viele Kommunen zahlen das sogenannte Taschengeld an Asylsuchende direkt aus, entweder in Form von Bargeld oder sogenannten Verpflichtungsscheinen. So begründet unter anderem Hannover die Einführung einer Socialcard, mit der sie „einen diskriminierungsfreien Zugang zur bargeldlosen Zahlung“ schaffen will.
Der Vorschläge von FDP und CSU schlagen hingegen rhetorisch in eine andere Kerbe. Mit einer Chipkarte sollen Überweisungen in Heimatländer verhindert werden. Im FDP-Beschluss heißt es dazu: „Damit schwächen wir einen entscheidenden Pull-Faktor.“ Als Pull-Faktoren werden positive Anreize bezeichnet, in ein bestimmtes Land zu kommen. Pull-Faktoren zu reduzieren, ist eine euphemistische Umschreibung für Abschreckung. Ob das wirklich funktioniert, ist wissenschaftlich mindestens umstritten.
Laut dem bayerischen Spitzenkandidaten Martin Hagen vereine eine Bezahlkarte die „Vorteile von Bargeld mit den Vorteilen von Sachleistungen“. Dies sei eine „pragmatische Lösung“.
Konzerne profitieren, Kommunen zahlen
Dem widersprechen Organisationen der Flüchtlingshilfe. Andrea Kothen, Referentin bei Pro Asyl, erinnert an die 1990er Jahre. Bereits dort habe es von Chipkarten über Papiergutscheine bis zu Lebensmittelkartons verschiedene Formen von Bezahlsystemen und Sachleistungen für Geflüchtete gegeben. „Profitiert haben davon mitnichten die Kommunen, sondern vor allem private Konzerne, die für die Bereitstellung und Abwicklung des Systems hohe Summen von den Kommunen oder Ländern kassierten.“ Kommunen hätten jedoch einen deutlich höheren Aufwand gehabt als für die Auszahlung von Bargeld.
Details zu geplanten Funktionen der Karte nennt die FDP nicht, auch nicht auf Nachfrage unserer Redaktion. Erst im August hatte der Parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Fraktion im Bundestag eine bundeseinheitliche Bezahlkarte noch abgelehnt. „Das ist auch richtig so, denn so können die Kommunen selbst entscheiden, was für sie die praktikabelste und pragmatischste Lösung ist“, sagte Stephan Thomae gegenüber der WELT (Paywall). Nun im Vorfeld der Landtagswahlen in Bayern und Hessen ändert sich offenbar der Kurs.
Beschränkung statt Selbstbestimmung
Zu möglichen Funktionen einer „digitalen Flüchtlingskarte“ ist man im CSU-geführten Bayern schon weiter. Markus Söder hat öffentlich bereits angekündigt, dass etwa abgelehnte Asylbewerber*innen keinen Alkohol kaufen können sollen. Welche anderen Produkte noch auf der Verbotsliste stehen, beantwortet die bayerische Staatsregierung nicht. Der Umfang dieser Einschränkungen werde noch geprüft. In Hamburg soll laut Ausschreibung etwa Glückspiel unter Umständen von der Karte ausgeschlossen werden.
Der Bayerische Flüchtlingsrat spricht hier von einem „massiven Einschnitt in das Recht auf Selbstbestimmung“. Der Staat mische sich hier auf eine Art und Weise in den persönlichen Bereich von Menschen ein, die ihm nicht obliegt und grundrechtlich mehr als diskutabel ist.
Schon der Ausschluss von Bargeld greift in die Freiheit von Geflüchteten ein. „Bargeld spielt in Deutschland im Alltag eine wahnsinnig große Rolle. Wenn mit der Chipkarte keine Bargeldabhebungen möglich sind, haben Geflüchtete nicht mehr die Möglichkeit, Geldgeschäfte des täglichen Lebens zu tätigen“, teilt der Flüchtlingsrat mit. Betroffen wären etwa Flohmärkte, Gemeindefeste oder der Pausenverkauf in der Schule. Für solche Geschäfte, räumt auch das bayerische Innenministerium ein, „wird es wohl erforderlich sein, dass ein geringer Betrag auch abgehoben werden kann.“
Geofencing und Zahlungsdaten
Zudem soll die bayerische Bezahlkarte „nur in dem nach Asylgesetz oder Aufenthaltsgesetz zulässigen Aufenthaltsbereich einsetzbar sein“, wie das bayerische Innenministerium erklärt. Hierbei spricht man von „Geofencing“, also der automatischen Kontrolle des Aufenthalts. Für Kothen von Pro Asyl sind die Aufenthaltsbeschränkungen an sich das Problem: „Die strikte Zuweisung des Wohnorts für Geflüchtete verhindert, dass sie ihre Selbsthilfekräfte aktivieren, etwa bei Freund*innen oder ihrer Familie privat unterkommen können oder dorthin umziehen, wo es die passende Fachärztin oder eine Arbeitsstelle gibt.“ Auch Reisebeschränkungen seien ein Problem, weil so der Besuch bei Freund*innen oder einer weiter entfernten Therapieeinrichtung erschwert würde.
Biometrische Daten sollen mit der Karte nicht gespeichert werden, so das bayerische Staatsministerium. Die Zahlungsdaten sollen anonym zur „statistischen Auswertbarkeit des Einsatzes“ ausgewertet werden können. „Zudem soll feststellbar sein, welche Karten in einem bestimmbaren Zeitraum gar nicht eingesetzt worden sind und ob gegebenenfalls der Verdacht auf einen Missbrauchsversuch besteht.“
Flüchtlingsorganisationen kritisieren Karte grundsätzlich
Der bayerische Flüchtlingsrat ist grundsätzlich gegen solche Sondersysteme: „Neben individuellen Wahlkampfinteressen stellt für uns die Idee der bargeldlosen Chipkarte einen weiteren Versuch da, schutzsuchenden Personen das Leben in Deutschland noch unbequemer zu gestalten. Diese Chipkarte ist vollkommen realitätsfern und mehr als integrationsfeindlich.“
Für Kothen von Pro Asyl stellen Sonderkarten für Geflüchtete eine sichtbare Diskriminierung an der Supermarktkasse dar. Zudem sei bei den Vorschlägen noch unklar, wer die Karten akzeptiere. Geschäfte aller Art müssten erst auf das neue System umgestellt werden. „Es ist fraglich, ob solch ein neues System tatsächlich eine Verbesserung für Geflüchtete und Behörden bringt oder nicht vielmehr zu neuen Problemen führt“, sagt Kothen. Sie fordert: „Die Chipkarte, die geflüchteten Menschen am besten ermöglicht, ein menschenwürdiges Leben zu führen und sich gesellschaftlich einzubringen, ist die Karte für ein Girokonto. Diese ist diskriminierungsfrei und letztlich auch für die Kommunen die einfachste und günstigste Lösung.“ Rechtlich haben die Schutzsuchenden Anspruch auf ein sogenanntes Basis-Konto. In der Praxis macht die Eröffnung jedoch immer wieder Probleme.
Wann kommen die Karten?
Trotz der vollmundigen Ankündigung des bayerischen Ministerpräsidenten könnte es noch dauern, bis die ersten Bezahlkarten in Bayern kommen. Es fehlt nach wie vor an einer Ausschreibung. Diese soll laut bayerischem Innenministerium „bald“ starten. In Hamburg ist die „Socialcard“ schon ausgeschrieben, hier soll das Projekt ab dem 1. Januar 2024 starten. Die Stadt Hannover teilt mit, dass man sich momentan noch in der Abstimmungsphase befinde.
Von Unternehmensseite hatte in der Vergangenheit unter anderem Wirecard für digitale Flüchtlingskarten lobbyiert, wie das Neo Magazin Royale gemeinsam mit FragDenStaat aufgedeckt hatte. Im bayerischen Landkreis Erding hatte der Finanzdienstleister bereits eine Karte betrieben. Der sogenannte „Kommunalpass“ war politisch bis in die CSU hinein umstritten. Mittlerweile ist Wirecard insolvent, der Kommunalpass damit Geschichte – und die CSU setzt voll auf die digitale Kontrolle und Abschreckung mittels Bezahlkarten.
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Author: Leonhard Pitz