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Wegen der Lobby-Verflechtungen bei der Chatkontrolle steht Ylva Johansson in der Kritik. In einer Stellungnahme an den EU-Innenausschuss, die wir im Volltext veröffentlichen, wirft sie nun recherchierenden Medien „Sensationslust“ vor und behauptet, dass sie alle Interessengruppen gleichermaßen anhöre. Doch daran gibt es erhebliche Zweifel.
EU-Innenkommissarin Ylva Johansson (Archivbild) – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / ABACAPRESSLetzte Woche hatte der Innenausschuss des Europaparlaments von der EU-Innenkommissarin Ylva Johansson eine Erklärung zu den Lobby-Verflechtungen ihres Hauses in Sachen Chatkontrolle gefordert. Jetzt hat Johansson per Brief geantwortet.
Die Berichte verschiedener europäischer Medien hatten zuletzt offengelegt, wie IT- und KI-Firmen zusammen mit Stiftungen, NGOs, Sicherheitsbehörden und PR-Agenturen seit Jahren und unter Einsatz von Millionen von US-Dollar bei der EU-Kommission für die sogenannte Chatkontrolle lobbyieren.
In ihrer Antwort, die wir im Volltext veröffentlichen, spricht Johansson von „sensationslüsternen Medien“, die den Eindruck erwecken wollten, dass ein Fehlverhalten bestehe. Dafür hätten diese Medien „öffentlich zugängliche Informationen als Enthüllungen dargestellt und unzusammenhängende Ereignisse und Meinungen nebeneinander gestellt, um eine Verschwörung zu unterstellen.“
„Normale Konsultationstätigkeit“
Die Recherchen europäischer Medien seien laut Johansson ein Versuch, „die normale Konsultationstätigkeit der Kommission falsch darzustellen“. Es habe sich um Konsultationen mit Technologieunternehmen oder mit Überlebenden von sexuellem Kindesmissbrauch gehandelt.
Johansson ist allerdings innerhalb dieser „normalen Konsultationstätigkeit“ in einem von Lobbyorganisationen produzierten Werbevideo aufgetreten und hatte das Video auf ihrem Twitter-Account verbreitet. Darüber hinaus hatte sich sich bei einer PR-Aktion einer der Organisationen als Unterstützerin bei einem Pressefoto gezeigt.
Zudem ist ein mit der Chatkontrolle befasster Mitarbeiter von Johansson gleichzeitig Mitglied in einer der Lobbyorganisationen.
Wichtigste Privatsphäre-Organisation abgewiesen
Weiterhin beklagt sich die EU-Kommissarin, dass sich die Medienberichte unfair auf wenige Organisationen fokussieren würden. So behauptet Johansson, dass sie sich mit einer Vielzahl von Organisationen auch zum Thema Privatsphäre getroffen habe. Sie spricht in diesem Zusammenhang von einen „ausführlichen Austausch mit Organisationen zum Schutz der Privatsphäre“
Dem widerspricht Ella Jakubowska vom Dachverband europäischer Digital Rights Organisationen EDRi, der europaweit Dutzende NGOs in Brüssel vertritt. Mit ihrem Statement versuche Johansson das Parlament und die europäische Öffentlichkeit in die Irre zu führen und zu manipulieren. Jakubowska weiter:
Europas größtes Netzwerk für digitale Rechte versuchte dreimal, sich mit der Kommissarin zu treffen, und wurde jedes Mal abgewiesen. Die Behauptung, der politische Entscheidungsprozess sei unvoreingenommen und repräsentativ gewesen, stellt eine falsche Darstellung der Realität dar.
In der Folgenabschätzung zur vorgeschlagenen Chatkontrolle-Verordnung seien zudem die von den Bürgern während der öffentlichen Konsultation geäußerten Bedenken in Bezug auf den Schutz der Privatsphäre zurückgewiesen worden, so Jakubowska weiter. Es seien Ratschläge von Technologen nicht berücksichtigt und sie sei sogar von ihrem eigenen internen Prüfungsausschuss wegen der Gefahr einer Massenüberwachung kritisiert worden.
Chatkontrolle umstritten – außer bei Johansson
Ein ungewohnt breites Spektrum von Interessengruppen und Institutionen wehrt sich gegen die geplante Chatkontrolle – die Kritik reicht von Behörden über Bürgerrechtsorganisationen bis hin zu Kinderschutzorganisationen. Sogar der Juristische Dienst der EU-Staaten bezeichnet das vorgeschlagene Gesetz als rechtswidrig.
Johansson hatte rund um das Thema Chatkontrolle schon wiederholt die Unwahrheit gesagt und irreführende Aussagen verbreitet. Die EU-Kommission, eigentlich unparteiische „Hüterin der EU-Verträge“, bewarb auch eine Petition pro Chatkontrolle.
Die Chatkontrolle-Verordnung hat derweil auch in den Verhandlungen des EU-Ministerrates einen schweren Stand. Eine kleine Gruppe EU-Staaten lehnt den aktuellen Gesetzestext zur Chatkontrolle ab. Weil die geplante Abstimmung scheitern würde, hat die spanische Ratspräsidentschaft das Thema vertagt.
Spannend bleibt auch, ob dem EU-Innenausschuss dieses Statement der Kommissarin ausreicht – oder ob er sie für weitere Fragen in den Ausschuss zitieren wird.
Update (18:10): Der Piraten-Abgeordnete Patrick Breyer, Mitglied im LIBE-Ausschusses und Mitverhandler der geplanten Verordnung, kommentiert per Pressemitteilung: Innenkommissarin Johansson versucht vergeblich, Lobbyismus-Enthüllungen zu bestreiten
Der Widerstand gegen den Gesetzentwurf kommt nicht in erster Linie von Big Tech, sondern von IT-Sicherheitsexperten, Menschenrechtsaktivisten, Journalisten und Kinderschutzverbänden, einschließlich der Opfer von sexuellem Kindesmissbrauch. Big Tech hat in Wirklichkeit die Chatkontrolle 1-Verordnung angeregt und in Johanssons ‚Backdooring Encryption Group’ mitgearbeitet. Sie sind auch an dem Lobby-Netzwerk WeProtect beteiligt.
Update (19:20): Die Kommission hat den Brief auch offiziell veröffentlicht.
Hier der Brief aus dem PDF befreit:
Date: Brussels, 3rd October 2023
From: Ylva Johansson, Commissioner for Home Affairs
To: Juan Fernando López Aguilar, LIBE Committee
Honourable Members of the European Parliament,
Thank you for your letter and the opportunity to comment.
In your letter you express concerns regarding undue influence and economic interests in relation to the proposal for a Regulation laying down rules to prevent and combat child sexual abuse.
This proposal is about protecting children from sexual violence. At its core is the need to balance all fundamental rights at stake, including those of children. In preparation of this proposal the normal consultative procedures were followed. Those consultations were broad and objective.
The media article you refer to, published in various versions by different media, is an attempt to misrepresent the normal consultative work of the Commission. In this case consultation with tech companies or with survivors of child sexual abuse.
To ensure the collection of the necessary evidence to help ensure the balance of fundamental rights – like the right to physical and mental integrity of children and the right to privacy – the Commission conducted extensive consultations with a wide variety of stakeholders for two years during the preparation of the proposal.
This included a wide range of experts from NGOs focused on privacy rights, NGOs focused on children’s rights, companies, academia, national authorities, and others. The impact assessment accompanying the proposal includes a dedicated section summarising these consultations (see its Annex 2).
The interactions with a variety of stakeholders are an essential part of the legislative process, as you are aware. The article referred to in your letter focuses on the interactions of the Commission with a small number of groups protecting children’s rights, including survivors.
By singling out this one group in the consultative process, it unfairly suggests favouritism. It also has the unfortunate consequence of undermining the legitimacy of these survivor groups, groups that represent some of the most vulnerable in society.
Let me remind you that, as the result of a Commission consultative process, the relevant services and Directorate Generals have had extensive exchanges with privacy rights organisations and online service providers opposed to additional legal obligations.
Let the text of the proposal speak for itself. One of its key pillars is technological neutrality. In other words, the proposal does not incentivise or disincentivise the use of any given technology, leaving to the providers the choice of the technologies to be operated to comply effectively with the obligations of the proposal, provided they meet the high standards set in the proposal and in EU law more generally. Technologies to detect online child sexual abuse have existed for years, and they are certainly not the monopoly of a single organisation.
Conversely, the regulation will foster the further development of measures to better protect children online, ‘safety by design’ technologies to prevent abuse and tools for detection when prevention fails. The obligations in the regulation will create a demand for such technologies that meet the strict requirements of EU law. Increased free competition among companies will create better and better tools, using state of the art technology, always ensuring the right balance of all the fundamental rights at stake as required in the legislative proposal.
The answer to the question ‘Who benefits’ from my proposal is: children. And who benefits from its rejection? Abusers who can continue their crimes undetected and possibly big tech companies and messaging services who do not want to be regulated.
In the 1.5 years since the Commission proposal was published, we have seen massive lobbying by groups opposed to the proposal, notably Big Tech lobbyists, towards all involved in the negotiations: the various presidencies of the Council of the EU, representatives of Member States and Members of the European Parliament. These companies spend more than 100 million euros per year to influence the EU’s digital policy, including the proposal on preventing and combating child sexual abuse online. These budgets dwarf the resources of NGOs defending children’s rights, including NGOs composed of survivors or their advocates.
My belief is that this article presents publicly available information as revelations, juxtaposes unrelated events and opinions to insinuate conspiracy. There is no basis. Indeed, on close reading of the article there is not even an explicit accusation.
It seems designed to give the impression of wrongdoing.
Let me assure you – there is none.
I am confident that the Honourable Members of the Parliament, those in the LIBE Committee, will judge the regulation on its merits, will continue to ensure the balance and the respect of all the fundamental rights at stake, regardless of sensationalist media, and will continue ensuring that children’s rights are treated equally to other fundamental rights. This is also the wish of the vast majority of EU citizens, as the recent Eurobarometer shows, who massively support the legislative proposal and the proper balance of all fundamental rights. It is therefore our shared responsibility as politicians to ensure that balance and do all we can to provide all children a future free from sexual abuse and its devastating, life-long consequences.
Yours sincerely,
Ylva Johansson
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Author: Markus Reuter