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Degitalisierung: Die unerträgliche Leichtigkeit des digitalen Scheins

Dieser Artikel stammt von Netzpolitik.org.Der Autor ist…
Ob beim Bafög-Antrag oder im Kampf gegen sexualisierte Gewalt: Viel zu oft nehmen wir eine vermeintlich einfache digitale Lösung, auch wenn die wenig zur Lösung des Problems beiträgt. Echte digitale Lösungen sind dagegen harte Arbeit, schreibt unsere Kolumnistin. Und bleibt trotzdem optimistisch.
Wer behauptet, Digitalisierung sei ein einfaches Vorhaben, irrt. – CC0 Midjourney („a single file folder floating in the air in an office space, blurred background, neonlight“)Wie so viele Episoden dieser Kolumne gibt es diese heute digital. Wobei ich mir gerne vorstelle, wie in irgendwelchen Amtsstuben oder Gesundheitseinrichtungen jemand am Montagmorgen die „neue Degitalisierung“ gedruckt und per Umlaufmappe verteilt, damit auch alle lesen, was die Kastl wieder Anstößiges über Digitalisierung geschrieben hat. Sollte das so sein, schreibt’s in die Kommentare. Abonnieren, Glocke und Daumen nach oben.
Aber nein, diese Kolumne gibt es zwar digital, aber gänzlich ohne aufgedrängte Interaktionsrituale für irgendwelche Algorithmen – nur Spenden helfen ab und zu.
Es lässt sich bei all der Digitalisierung der Eindruck gewinnen, es sei immer besser, dieses Digitale. Es steht für sich, weil es ja digital ist und das ist ja gut. Reden doch alle von dieser Digitalisierung.
Nun wird vielleicht am Ton dieses Einstiegs schon klar, dass es heute um die naive Annahme gehen soll, dass digitale Lösungen allein für sich gut seien. Diese Annahme ist die Wurzel vielen Übels in der Digitalisierung dieser Tage, speziell auch in Verwaltung und Gesundheitswesen. Heute soll es um verschiedene Arten von vermeintlichen digitalen Lösungen gehen. Sie alle sind irgendwie gut – glaubt man zumindest denen, die sie politisch als Erfolg feiern. Dabei ist alles nur ein unerträglicher digitaler Schein.
Elektronisch, aber irgendwie nicht digital
Von Jurist*innen habe ich eines gelernt: Eine präzise Ausdrucksweise ist unabdingbar, weil am Ende nur das rauskommt, was auch wirklich im Vertrag, im Gesetz oder in irgendeiner Art von juristischen Übereinkunft steht.
Viele schimpfen über das Onlinezugangsgesetz von 2017, das Verwaltungsleistungen wie den Antrag auf Elterngeld vom Papier ins Internet bringen soll. Vielleicht haben wir aber  einfach die Übereinkunft nicht sorgsam gelesen, bevor wir uns mit unseren Erwartungen darauf eingelassen haben.
Bund und Länder sind verpflichtet, bis spätestens zum Ablauf des fünften auf die Verkündung dieses Gesetzes folgenden Kalenderjahres ihre Verwaltungsleistungen auch elektronisch über Verwaltungsportale anzubieten.
Okay, zugegeben, das mit den fünf Jahren bis Ende 2022 hat nicht so ganz funktioniert, selbst wenn wir nach dem geschönten OZG-Dashboard gehen, das den aktuellen Stand der Umsetzung zeigen soll. Dort steht, insgesamt 136 Leistungen seien bundesweit online – auch wenn das im Einzelnen nur in einer einzigen Kommune der Fall ist. Aber elektronisch war das Ergebnis zumindest.
Bei den Leistungen, die online gingen, in time, da war zumindest das Ergebnis wahrhaft elektronisch. Nicht wirklich digital, weil etwa der BafÖG-Antrag eher die Drucker als die Server zum Schwitzen bringt. Aber hey, einige der mythischen 575 OZG-Leistungen war immerhin rechtzeitig online. Elektronisch. Von digital war ja nie die Rede.
Zahlen, aber irgendwie ohne Ziel
Die Rache der Journalist*innen an der Politik ist das Archiv. In den Tiefen des Internet findet sich da ein geradezu historisches Dokument. Der Umsetzungskatalog des Onlinezugangsgesetzes von 2018. Version 0.98. Darin steht:
Das vorliegende Dokument soll hierfür Klarheit schaffen, indem es die online anzubietenden Verwaltungsleistungen in etwa 575 OZG-Leistungen zusammenfasst. Die etwa 575 umzusetzenden OZG-Leistungen für Bürgerinnen und Bürger sowie für Unternehmen sind anhand von Lebens- und Geschäftslagen systematisiert.
Moment. Klarheit schaffen wollen, aber dann „etwa 575“ schreiben? Zahlen sind ja nicht wie Gedichte zu interpretieren. Sie haben eine definierte, präzise Bedeutung. Etwa 575 Leistungen, die sich im Laufe der Zeit noch dazu stark gewandelt haben. Von den wichtigsten 575 nämlich zu erst 100, dann 35, und am Ende 16 priorisierten Fokus-Leistungen, die übrig geblieben sind. So ganz erkennbar war die Priorisierung dann auch nicht mehr, aber am Ende ging es immer darum, in immer kürzer werdender Zeit vielleicht noch eine immer kleiner werdende Zahl von elektronischen Leistungen irgendwie online zu kriegen. Also zumindest in einer Kommune, damit es auch im OZG-Dashboard zählt.
Schwammige Zahlen, die aber nicht mal ein Ziel ausdrücken. Denn ob diese Leistungen irgendwelche Ziele erreichen, das war nie so wirklich Ziel der vielzitierten Schaufensterdigitalisierung nach OZG. Wie lang soll denn ein Antrag bis zum Bescheid brauchen dürfen? Keine Ahnung, aber egal, war ja nie das Ziel. Das relevante Ziel war ja immer nur etwas Digitales hinzukriegen.
Was hingegen am Ende-zu-Ende der Digitalisierung als Ganzes rauskommen soll, das war nie wirklich verbindlich. Die Vision für die digitale Verwaltung in Deutschland fehlt an allen Ecken und Enden. Steuererklärung in ein paar Minuten wie in Estland? So lange lädt an schlechten Tagen in Deutschland die Steuererklärung über ELSTER, wenn sie denn lädt.
Lösungen, aber irgendwie am Problem vorbei
Nun hat diese Kolumne bereits sehr viel frustrierenden Verwaltungs-Anteil. Die Hoffnung liegt nahe, dass es in anderen Bereichen besser läuft mit dieser Digitalisierung. Es läuft irgendwie vorwärts an anderen Stellen, ja. Nur nicht unbedingt in eine Richtung, die das Ausgangsproblem lösen würde.
Die geplante Chatkontrolle der EU ist so ein klassisches Beispiel einer digitalen Non-Solution. Bequem zwar, weil sich ein schwieriges Problem wie sexualisierte Gewalt gegen Minderjährige im Netz vermeintlich einfach mit digitalen Methoden lösen lassen soll. Aber leider auch nur eine digitale Scheinlösung.
Je tiefer man sich mit den Plänen der EU für die Chatkontrolle beschäftigt, desto mehr wird es ein ganz schlechtes und geradezu klischeehaftes Drehbuch eines digitalpolitischen Lobby-Dramas. Eine Technik mit hoher Fehlerrate, die einfach so in Kauf genommen wird. Das Recht auf vertrauliche und sichere Kommunikation, das aufgeweicht werden soll. Expert*innen in Deutschland, juristisch und technisch, die alle dagegen sind. Ein schlechter Film, bei dem immer mehr unschöne Verquickungen mit Tech-Lobbyismus und einer unheiligen Allianz von Sicherheitsbehörden bekannt werden. Mittendrin ein Schauspieler mit einem Glaubwürdigkeitsproblem.
Alles für eine Scheinlösung, die mehr Probleme schafft als sie löst. Aber hey, digital ist ja die Lösung. Bequem irgendwie und vielleicht sogar innovativ.
Digital allein ist kein Prädikat
Alles Beispiele digitalen Scheins. Auf ihre jeweilige Art vermeintlich leichte Lösungen für schwierige Probleme. Hier eine magische Technik, da ein paar Anträge elektronisch abwickeln können, dort irgendeinen Wert definieren, der ein Ziel sein soll.
Trotz dieser in der Realität komplett schief gelaufenen Beispiele glaube ich immer noch, dass Digitalisierung uns insgesamt weiterhelfen kann. Aber das hat nichts mehr mit Leichtigkeit zu tun. Das ist echt harte Arbeit, digitale Lösungen zu finden, die klare und sinnvolle Ziele erreichen. Am besten noch einigermaßen bald und immer im Rahmen eines meist engen Budgets.
Dazu brauchen wir eine konstruktiv kritische Kultur im Umgang mit dem Digitalen. Wir müssen aufhören Digitales als Scheinlösung für alles zu sehen, und stattdessen vieles hinterfragen. Ist die Lösung schneller, aber schließt sie auch keinen Menschen aus? Löst das ein Problem, aber schafft es nicht viele andere große Probleme in anderen Bereichen? Versuchen wir uns an der Erreichung sinniger Ziele zu messen oder wollen wir nur zu den coolen Tech-Bros gehören und schnell Cash machen? Schaffen wir eine Lösung, die andere mit unterstützt, oder wird es nur eine weitere abgelegene Insel innerhalb eines Ozeans voller Digitalinseln?
Digital allein ist dabei kein Prädikat, das irgendetwas besser macht. Ganz egal ob beim Onlinezugangsgesetz oder bei scheinbar magischen Technologien im Rahmen der Chatkontrolle. Nur fällt es meist leicht, sich auf Lösungen zu einigen, die irgendwie digital sind. Schlechte digitale Lösungen führen aber nicht zu Digitalisierung im guten Sinne, sie führen zu Degitalisierung. Digitale Lösungen in den Händen von Menschen mit scheinbar guten Motiven, aber fehlender Abwägung von technischen und sozialen Folgen, führen nicht zu digitalem Fortschritt, sie führen in digitale Dystopien.
Dagegen können wir etwas tun. Nur müssen wir dazu aufhören mit dieser unerträglichen Leichtigkeit des digitalen Scheins.

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Author: Bianca Kastl

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