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Die Dinge richtigstellen: Eine Replik an Ylva Johansson

Dieser Artikel stammt von Netzpolitik.org.Der Autor ist…
Gegen beispiellos breite Widerstände will EU-Kommissarin Ylva Johansson ihren Vorschlag zur Chatkontrolle durchboxen. Im Vorfeld einer Anhörung vorm Parlament möchte sie mit einem Brief „die Dinge richtigstellen“. Das hier ist unsere ungefragte Antwort.
Warum wir uns nicht auf den Meinungsaustausch mit dem Europäischen Parlament über Ylva Johanssons Vorschlag zur Bekämpfung des sexuellen Kindesmissbrauchs freuen. – Alle Rechte vorbehalten IMAGO/TT; Bearbeitung: netzpolitik.orgDie Verhandlungen zur sogenannten Chatkontrolle geraten ins Stocken. EU-Innenkommissarin Ylva Johansson steht für ihren Vorschlag massiv in der Kritik. Er soll dem Schutz von Kindern dienen, enthält aber die Pflicht für Anbieter, auf Anordnung private Daten ihrer Nutzenden zu scannen. Damit sollen sie nach Hinweisen auf Missbrauchsdarstellungen und Grooming suchen. Johansson steht eine Anhörung im Innenausschuss des EU-Parlaments (LIBE) bevor.
Im Vorfeld hat Johansson einen englischsprachigen Brief veröffentlicht. Er trägt den Titel: „Die Dinge richtig stellen – warum ich mich auf den Meinungsaustausch mit dem Europäischen Parlament über meinen Vorschlag zur Bekämpfung des sexuellen Kindesmissbrauchs freue“.
Wir haben nicht den Eindruck, dass der Brief „Dinge richtig stellt“ und reagieren mit einer Replik in Johanssons eigenen Worten. Am Mittwoch, 25. Oktober um 14:30 Uhr können wir die Sitzung des LIBE gemeinsam live verfolgen.

Sehr geehrte Ylva Johansson,
am 25. Oktober werden wir uns im LIBE-Ausschuss einen Meinungsaustausch zu Ihrem Vorschlag zur massenhaften Überwachung privater Kommunikation und zur staatlichen Sammlung von Nacktbildern Minderjähriger ansehen. Am nächsten Tag hätte der LIBE-Ausschuss über den Vorschlag abgestimmt, wozu es nicht kommt.
Wir erwarten diese öffentliche Diskussion im Ausschuss mit Neugierde und Skepsis. Und wir möchten Ihnen erklären, warum.
Wir gehen mit Entschlossenheit an den Kampf für digitale Freiheitsrechte heran, weil wir in den letzten Wochen persönlich Realitätsverweigerung, Irreführung und Falschbehauptungen ausgesetzt waren. Die Befürworter von massenhafter Überwachung haben dabei tief in die Trickkiste gegriffen.
Die Heftigkeit der eingesetzten Mittel untergräbt deren Versuche, sich als die Vernünftigen in dieser Debatte darzustellen.
Die EU-Kommission hat in den sozialen Medien die Art von politischem Mikrotargeting an den Tag gelegt, die wir von Rechtsradikalen in der Migrationsdebatte erwarten, aber Befürworter*innen der Überwachung nicht zugetraut hätten. Es gab eine durch und durch manipulative Umfrage sowie irreführende, beratungsresistente und unwahre Äußerungen. Wenn man sich als Aktivistin oder Journalist für digitale Freiheitsrechte engagiert oder über diese berichtet, muss man sich von den Überwachungsbefürworter*innen als verkappte Lobby der Tech-Industrie bezeichnen lassen.
Ich kann Ihnen versichern, dass uns das nur in unserer Entschlossenheit bestärkt.
Zweitens gehen wir mit Transparenz an die Sache heran, denn es ging, geht und wird nur darum gehen, die Grundrechte und die Privatsphäre auch von Kindern und Jugendlichen zu schützen.
Es ist keine Überraschung, dass zu diesem entscheidenden Zeitpunkt ein Brief von Ihnen erscheint, in dem in keiner Weise auf die eindringlichen Warnungen von Datenschutzbehörden, Kinderschützer*innen und Menschenrechtsorganisationen eingegangen wird, sondern vielmehr der Eindruck erweckt wird, die Kritik bestehe vorrangig aus persönlichen Angriffen auf Sie als Kommissarin.
Nach der Lektüre Ihres Briefes haben wir den Eindruck, dass Sie sorgfältig recherchierte Kritik als eine Reihe von verlorenen Andeutungen beiseite schieben wollen. Den offenkundigen Einfluss millionenschwerer Lobby-Verbände beschreiben Sie als eine eine Auswahl von Treffen, die Sie hatten, von Veranstaltungen, an denen Sie teilgenommen haben, oder von Konferenzen, auf denen Sie gesprochen haben. In einem verschwörerischen Tonfall wird versucht, bei Ihren Kritiker*innen den Eindruck eines ideologischen oder finanziellen Einflusses zu erwecken, wo es keinen gibt.
Wir wissen, wer die Chatkontrolle gegen alle Widerstände durchsetzen möchte. Unsere Kolleg*innen von Zeit Online und BalkanInsight haben wochenlang gearbeitet, in enger Zusammenarbeit mit weiteren europäischen Medien, um aufzudecken, dass ein breites Netzwerk aus Tech-Firmen, Stiftungen, Sicherheitsbehörden und PR-Agenturen auf höchster EU-Ebene für die Chatkontrolle lobbyiert. Mehrere Millionen US-Dollar stehen hinter den Organisationen. Sie waren für den Vorschlag verantwortlich, der von der gesamten Kommission unterstützt wird. Sie haben in einem Video einer Lobby-Organisation mitgewirkt und sich mit ihr für Pressefotos getroffen.
Die Frage, die wir uns stellen, lautet: „Wer profitiert?“.
Wir können getrost sagen: in erster Linie die Überwachungsfantasien von Industrie und Ermittlungsbehörden. Online-Anbieter werden zunächst zu der nahezu unmöglichen Aufgabe verpflichtet, Missbrauch in ihren Systemen zu verhindern. Sobald – und es ist bloß eine Frage der Zeit – diese Vorbeugung fehlschlägt, könnten sie verpflichtet werden, selbst private Nachrichten zu durchleuchten. Durch diese Massenüberwachung – die selbst in autoritären Staaten vergeblich ihresgleichen sucht – wird das Fernmeldegeheimnis gebrochen sowie die Privat- und Intimsphäre von Abermillionen Menschen verletzt – auch von Kindern. Wenn Ihr Vorschlag angenommen wird, droht uns eine nie dagewesene anlasslose Massenüberwachung privater Kommunikation.
Selbst Kinder und Jugendliche werden von der Chatkontrolle nicht profitieren. Sobald Ihr Vorschlag Gesetz wird, müssen alle Anbieter auf Anordnung Maßnahmen ergreifen, um mit fehleranfälligen Bilderkennungsverfahren massenhaft Aufnahmen zu finden, die möglicherweise Nacktheit und Minderjährige zeigen. Zu erwarten sind Abermillionen irrtümliche Verdachtsmeldungen, darunter massenhaft Aufnahmen, die keinen Missbrauch zeigen, etwa von einvernehmlichem Sexting. Längst fordern Politiker*innen die Ausweitung der noch nicht beschlossenen Chatkontrolle auf Pornografie, Migration und Drogen. Es stellt sich also die Frage: „Wem nützt es?“.
Die Antwort ist einfach: Die Verfechter*innen des Überwachungsstaates profitieren von der Chatkontrolle. Und es gibt Vertreter*innen aus Politik und Wirtschaft, die vom Verkauf des Versprechens des Kinderschutzes profitieren.
Die kritische Öffentlichkeit durchschaut die Diskrepanz zwischen dem großen Versprechen von mehr Kinderschutz, das auf einem fehlgeleiteten Glauben an die Fähigkeiten von Bilderkennungs-Technologie beruht, und dem gleichzeitigen Frontalangriff auf Grundrechte wie Privatsphäre und vertrauliche Kommunikation.
In mehreren EU-Ländern haben Sie eine politische Mikrotargeting-Kampagne für die Chatkontrolle gestartet, die gezielt auf religiöse und politische Zielgruppen zugeschnitten war und eine vollkommen irreführende Meinungsumfrage zitiert, in der auf unanständige Weise Suggestivfragen genutzt wurden, um hohe Zustimmungswerte zur Chatkontrolle zu erhalten.
Wir fragen uns: Ist das nur manipulativ oder sogar rechtswidrig? Steht die Kampagne im Einklang mit der Datenschutzgrundverordnung und dem Digitale-Dienste-Gesetz?
Die Europäische Kommission wurde von einem millionenschweren Lobby-Netzwerk beraten. So präsentiert sich etwa die Firma Thorn als gemeinnützige Organisation aus, verkauft aber mit „Safer“ auch Software, die mittels sogenannter Künstlicher Intelligenz Darstellungen von Kindesmissbrauch aufspüren soll. Zu den Kunden zählt etwa das US-Ministerium für Heimatschutz, das sich die Anschaffung von Softwarelizenzen etwa vier Millionen US-Dollar kosten ließ, wie die Zeit berichtet. Vertreter*innen einer PR-Firma für Thorn nahmen an Expertensitzungen teil und die EU-Kommission ermöglichte Thorn gleich mehrfach, bei wichtigen Entscheidungsterminen dabei zu sein. Wir fragen, ob es sich dabei um eine seltsame Verbindung handelt. Wir fragen, ob die Überwachungsindustrie die Pläne der EU-Kommission mitbestimmt.
Und schließlich gehen wir mit Demut an die Sache heran. Denn nichts, was uns widerfahren ist, keine Realitätsverweigerung, keine fadenscheinigen Beschwichtigungen, sind vergleichbar mit dem, was Abermillionen Bürger*innen durch eine Chatkontrolle droht.
Unsere Demut angesichts der schlichten Stichhaltigkeit der Bedenken, insbesondere derjenigen, die Grundrechte von Kindern betreffen, wird nur von unserer Enttäuschung darüber übertroffen, dass Sie es für angebracht hielten, ihre Kritiker*innen im Vorfeld Ihres Auftritts vor dem Europäischen Parlament zur Zielscheibe von Unterstellungen zu machen.
Fachleute, die diese ultimative Übung in Geduld auf sich genommen haben, die die private Enttäuschung, monatelang gegen eine Wand anzureden, überwinden und weiterhin die Kraft finden, öffentlich für Grund- und Menschenrechte einzustehen, sie verdienen nichts als Mitgefühl und sanften Respekt.
Sie haben es nicht verdient, dass man ihnen unterstellt, sie seien unaufrichtig oder hätten keine Argumente. In einem Staat ohne Meinungsfreiheit hätten sie keine Macht, aber in einem demokratischen Europa haben sie Macht.
Wir lehnen die Chatkontrolle ab und begrüßen jede Unterstützung für Grundrechte und echten Kinderschutz. So wie die mehr als 460 Forscher*innen aus 38 Ländern in einem kürzlich veröffentlichten Schreiben oder die 87 NGOs in einem Offenen Brief oder die Vertreter*innen aus 17 deutschen Datenschutzbehörden oder die 165.000 Menschen, die bisher eine Petition gegen die Chatkontrolle unterzeichnet haben. All das sind Organisationen und Einzelpersonen, die sich gegen Ihren Vorschlag aussprechen.
Oder die zwei Drittel aller Jugendlichen zwischen 13 und 18 Jahren, die dagegen sind, dass Anbieter ihre E-Mails und Chatnachrichten durchsuchen. Nur jeder fünfte hält das für angemessen. Das geht aus einer repräsentativen Umfrage unter 8.000 Jugendlichen aus 13 Ländern in Europa hervor, die der europäische Dachverband digitaler Bürgerrechtsorganisationen EDRi und die Piratenpartei im Europaparlament in Auftrag gegeben haben.
Wir meinen, Sie sollten Ihren eigenen Vorschlag nicht unterstützen. Es sollte selbstverständlich sein, dass man Vorschläge im demokratischen Prozess auch wieder verwirft, wenn sie sich als problematisch erweisen. Würden wir diese Prämisse nicht akzeptieren, dann ergäbe das Gesetzgebungsverfahren in der Europäischen Union, bei dem sich aus guten Gründen neben der EU-Kommission auch das Parlament und der Rat beteiligen, keinen Sinn.
Wir haben unser Ziel von Anfang an klar formuliert. Wir setzen uns weiterhin für eine private und sichere Kommunikation ein und werden dies auch in Zukunft tun. Am 25. Oktober werden wir zuhören, wenn Sie die noch offenen Fragen beantworten.
Zum Abschluss noch ein freundlicher Hinweis. Wenn wir die vorgebrachten Argumente Ihres Briefs nachverfolgen, sehen wir, dass Sie Kritiker*innen unlautere Mittel vorwerfen und sich mit Nachdruck der Auseinandersetzung mit vorgebrachten Argumenten und der Abwägungen von Grundrechten verweigern. Dennoch werden wir nicht darauf verzichten, den gleichzeitigen Schutz von Kindern und Privatsphäre einzufordern. Niemand geht davon aus, dass man die Äußerungen einer EU-Kommissarin nicht ernst nehmen müsste. Nun, diese Fairness sollte in beide Richtungen gelten.
Wir sind stolz darauf, dass wir die Demokratie unterstützen, auch wenn deren Vertreter*innen uns kritisieren. Wir sind für Rechenschaftspflicht und Transparenz.
Wir wollen Kinder schützen, wir wollen die Privatsphäre schützen, und wir müssen beides tun. Genau darum geht es.
Wir können dies ohne mehr Überwachung tun, wenn Sie Ihren Vorschlag zurückziehen und stattdessen sinnvolle Maßnahmen ergreifen, die wirklich Kinder schützen.
Genau darum sollte es in unserer Debatte gehen.

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Author: Sebastian Meineck

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