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Digitale Barrierefreiheit: Was das Internet bräuchte, um für alle da zu sein

Dieser Artikel stammt von Netzpolitik.org.

Digitale BarrierefreiheitWas das Internet bräuchte, um für alle da zu sein

Fast ein Drittel der Bevölkerung kann an Angeboten im digitalen Raum nicht oder nur eingeschränkt teilhaben. Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz soll es deshalb ab Juni 2025 allen Menschen ermöglichen, das Netz gleichberechtigt zu nutzen. Doch das Gesetz greift zu kurz.


Lilly Pursch – in Nutzerrechtekeine Ergänzungen
Optimus Prime, der Lieblingsroboter des 40-jährigen Benedict, ist im Netz für Menschen mit Lernschwierigkeiten nur schwer erhältlich. – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / Depositphotos

Montagmorgen, Benedict sitzt vor dem Laptop. Er möchte sein erspartes Geld für eine Action-Figur seines Lieblingsroboters Optimus Prime ausgeben. Benedict ist großer Fan der Transformers-Filme. In denen spielt Optimus Prime eine Hauptrolle.

Die meisten Internetnutzer:innen würden auf einer Einkaufsplattform ihrer Wahl auf das Produkt klicken und mit einem weiteren Klick bezahlen, ein einfacher Prozess. Bei Benedict ist das anders. Auf dem Weg zu seiner Figur von Optimus Prime begegnen ihm verschiedene Schwierigkeiten.

Benedict möchte die Figur auf der Einkaufsplattform Amazon kaufen. Er denkt nach und tippt, doch er weiß nicht wie man Amazon schreibt und gelangt erst nach mehreren Anläufen auf die Seite. Als er sie erreicht, findet er schnell das Suchfeld, doch bei der Suche nach „Transformers“ schleichen sich Schreibfehler ein und es werden nur Transformatoren angezeigt, Bauelemente der Elektrotechnik. Benedict kratzt sich am Kopf, das ist nicht das wonach er sucht. Er versucht es weiter.

Benedikt ist 40 Jahre alt, hört gerne „Die Toten Hosen“ und interessiert sich für Politik. Er schaut öfters Bundestagssitzungen, „aber es fällt mir schwer, komplizierte Texte zu verstehen“, sagt er. Benedict hat Lernschwierigkeiten.

Fast ein Drittel der Menschen kann das Internet nur eingeschränkt nutzen

30 Prozent der Bevölkerung erleben Barrieren im digitalen Raum, so die Aktion Mensch, zum Beispiel weil sie nur wenig Lesekompetenz haben, nicht Muttersprachler:in sind, mit motorischen Einschränkungen oder einer Sehschwäche leben. Der Barrierefreiheit soll ein Gesetz zum Durchbruch verhelfen. Ab dem 28. Juni 2025 gilt in Deutschland das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG), das die 2019 verabschiedete EU-Richtlinie European Accessibility Act umsetzt.

Das BFSG verpflichtet erstmals auch die Privatwirtschaft, mit Ausnahme von zum Beispiel kleinen Dienstleistungsbetrieben oder interaktiven Lernplattformen, zur digitalen Barrierefreiheit. Einer solchen Verpflichtung unterliegen Behörden schon seit 2020. Die „Aktion Mensch“ begrüßt das Gesetz als einen „wichtigen Baustein auf dem Weg zu einer inklusiveren digitalen Gesellschaft“. Bislang erfüllen nur die wenigsten Anbieter die Vorgaben des BFSG.

Das Gesetz regelt unter anderem den Aufbau von Webshops, Kontaktformularen und Terminbuchungsmasken. Außerdem werden Seitenbetreiber verpflichtet, eine „Erklärung zur Barrierefreiheit“ zu veröffentlichen, die selbst ohne Hürden zugänglich ist und Informationen bereithält, wie die Betreiber:innen die Barrierefreiheit auf der Webseite sicherstellen. Zudem muss es eine Kontaktmöglichkeit für Nutzer:innen geben, über die Barrieren gemeldet werden können.

Die Angst, auf etwas Falsches zu klicken

„Für Menschen mit Lernschwierigkeiten ist das Internet oft ein Problem“, sagt Inga Schiffler, Dolmetscherin, Übersetzerin und Trainerin für Leichte und Einfache Sprache. Die Angst sei groß auf etwas Falsches zu klicken. So hätten Menschen mit Lernschwierigkeiten berichtet, aus Versehen zu viel bestellt zu haben, weil noch etwas im Warenkorb war und sie es nicht gemerkt hätten.

Meist seien die Seiten mit Absicht nicht intuitiv gestaltet. „Beispielsweise stehen die gesponserten Produkte immer oben. Das ist ja auch Absicht. Die Nutzer:innen sollen nicht schnell und einfach nach Preis ordnen können, weil ja die gesponserten Ergebnisse gepusht werden sollen“, sagt Schiffler.

Benedict nutzt das Internet täglich und hat Wege gefunden, wie es für ihn funktioniert. „Ich mache nur Seiten auf, die ich kenne“, sagt er. Um sich zu informieren, nutzt er Social Media – TikTok, Facebook, YouTube und X sind seine Quellen. Benedict liest dort aber nicht nur, sondern will auch am Geschehen teilhaben. „Wenn ich eine konkrete Meinung habe, dann schreib ich auch mal einen Kommentar“, sagt er.

Nicht immer reagieren alle Nutzer:innen freundlich auf Benedict. Eine Reaktion sei „Ihr gehört hier nicht hin“ gewesen. Gemeint war vermutlich: Menschen mit Behinderung gehören nicht nach Deutschland, ins Internet oder sogar: auf diese Welt. „Das ist nicht schön zu hören“, sagt Benedict. Er versucht in solchen Fällen, seine Meinung zu vertreten und über das Leben mit Lernschwierigkeiten aufzuklären.

Blind im Netz

Vor ganz anderen Hürden stehen Menschen, deren Sehfähigkeit eingeschränkt ist. Plattformen wie TikTok und Instagram bieten hauptsächlich visuell wahrnehmbare Inhalte. Während es für Benedict ein Vorteil ist, dass das Internet immer visueller wird, schließt diese Entwicklung sehbeeinträchtigte oder blinde Menschen noch stärker aus.

Christiane Möller arbeitet beim Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV). Sie ist selbst blind und kennt die Hürden. „Man kriegt ja immer Fotos geschickt, auch über soziale Medien, und bislang war man da ziemlich ausgeschlossen. Es sei denn, alle schreiben immer dazu, was auf dem Bild für sie zu sehen ist.“ Diese Deskription nennt sich Alternativ- oder Alt-Text.

Hilfsmittel, mit denen sehbeeinträchtigte Personen Computer nutzen können, gibt es einige. Möller nutzt etwa einen sogenannten Screenreader. „ Das ist eine komplexe Software, die Bildschirminhalte nicht nur von oben nach unten vorliest, sondern ich kann auch gezielt Elemente, beispielsweise Überschriften oder Bereiche auf einer Webseite, mit Hilfe bestimmter Tastenkombinationen ansteuern.“

Möller nutzt auch eine Braillezeile, ein Gerät das mit dem Computer verbunden wird und die Bildschirmtexte auf eine Zeile in Brailleschrift überträgt, also sie in fühlbar erhabene Punktmuster übersetzt. „Damit kann ich Text mit meinen Fingern lesen“, sagt Möller.

Auch ihr Smartphone ist ein wichtiges Hilfsmittel. Sie bedient es mit der standardmäßig integrierten Vorlesefunktion, die heißt bei Apple VoiceOver und bei Android TalkBack, und Wisch-Gesten zur Steuerung. Doch selbst mit dieser technischen Unterstützung klappt die Bewegung im Netz nicht immer reibungslos.

Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz erfüllt die Ansprüche der Netzhüter nicht

Die Kriterien für eine barrierefreie Website schreiben unter anderem die Web Content Accessibility Guidelines (WCAG) der Internetnormierungsinstitution World Wide Web Consortium fest. Diese gehen in ihren Forderungen deutlich weiter als das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz. Nach WCAG braucht eine Website einen ausreichend hohen Kontrast zwischen Vorder- und Hintergrundfarbe, uneingeschränkte Bedienbarkeit mit der Tastatur und Screenreader-Kompatiblität. Zudem sollten Formulare barrierefrei bedienbar und Bilder mit Alternativ-Texten versehen sein. Wie barrierefrei eine Webseite tatsächlich ist, kann mit Testtools geprüft werden.

Für Menschen wie Benedict, die über Lernschwierigkeiten verfügen, braucht es laut WCAG vor allem sogenannte Leichte Sprache. Sie ist in Deutschland als Form der sprachlichen Barrierefreiheit inzwischen anerkannt und wird über einen Regelkatalog definiert. Um möglichst einfach zu sein, enthält die Leichte Sprache keine Fremdwörter und Abkürzungen. Außerdem besteht sie aus kurzen, nicht verschachtelten Sätzen.

Besonders wichtig sind aber die Erklärungen, die den Leser:innen dabei helfen, Informationen einzuordnen. Inga Schiffler, Trainerin für Leichte Sprache, sieht darin ein „Teilhabekonzept für eine klare Zielgruppe“.

Benedict wünscht sich, dass es mehr Webseiten in Leichter Sprache gibt, damit er sich selbstständig informieren kann. Doch für Medien ist das eine Ressourcenfrage. Nur die wenigsten Texte werden in Leichte Sprache übersetzt.

Benedict wünscht sich auch die Möglichkeit, fremdsprachige Wörter auf Webseiten ins Deutsche zu übersetzen: „Falls da jetzt zum Beispiel ein Wort in Englisch steht, dann stehe ich natürlich vor einem Rätsel, weil ich nicht so gut Englisch kann“, sagt er. „Und dann wäre es gut, wenn ich auf dieses Wort klicken und das dann so übersetzen kann“. Nicht nur für Menschen mit Lernschwierigkeiten wäre das eine sinnvolle Funktion, sondern auch für viele andere, die bestimmte fremdsprachige Wörter nicht kennen.

Wie nützlich sind Sprachmodelle zum Abbau von Barrieren?

Etwas komplexer als die Leichte Sprache ist die Einfache Sprache. Die Tagesschau veröffentlicht seit Mitte dieses Jahres regelmäßig die „tagesschau in Einfacher Sprache“, um mehr Menschen einen Zugang zu aktuellen Nachrichten zu ermöglichen. Einfache Sprache richtet sich nicht an Menschen mit Lernschwierigkeiten, sondern an eine breitere Zielgruppe. Dazu gehören Menschen, die Deutsch nicht gut verstehen können.

Inzwischen kommt bei der Erstellung von Texten in Leichter oder Einfacher Sprache immer öfter sogenannte Künstliche Intelligenz zum Einsatz. So lassen sich etwa mit ChatGPT Texte vereinfachen. Ein weiterer Vorteil von Chat-Programmen ist die Möglichkeit, Rückfragen zu stellen.

Doch ein Allheilmittel ist KI nicht. „Bei Leichter Sprache geht es oft darum, dass Informationen leichter nachvollziehbar aufgebaut werden“, sagt Schiffler. „Und das schafft KI noch nicht. Oft fehlen auch zusätzliche Erklärungen oder der Kontext wird nicht richtig erkannt. Gerade bei sensiblen Inhalten sind die Resultate noch unbefriedigend. Für einen ersten Eindruck, eine ‚Quick-and-Dirty-Version‘, liefert sie aber schon recht gute Ergebnisse.“

„Minimalumsetzung“ der europäischen Vorgaben

Obwohl ein Angebot in Leichter Sprache für Menschen wie Benedict zentral wäre, ist deren Einsatz nach dem Barrierefreiheitsstärkungsgesetz nicht verpflichtend. Der Sehbehindertenverband DBSV kritisiert, dass sich die Bundesregierung nur für eine „Minimalumsetzung“ der europäischen Vorgaben entschieden habe. Die Vereinten Nationen hatten die Bundesregierung deshalb im Jahr 2023 gerügt.

Die Barrierefreiheitsrichtlinien des World Wide Web Consortium teilen die Anforderungen in drei Kategorien auf: A (niedrig), AA (mittel) und AAA (hoch). Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz sieht als Zielmarke nur AA vor. Dabei würde eine noch höhere Barrierefreiheit, also die Kategorie AAA, einer noch breiteren Zielgruppe die Teilhabe ermöglichen.

Obendrein würde eine besser strukturierte Webseite die Auffindbarkeit durch Suchmaschinen verbessern. Es läge also im Interesse der Webseitenbetreiber:innen, ihre Angebote so inklusive wie möglich zu gestalten.

Benedict hat dann, trotz all der Herausforderungen, doch noch seine Optimus-Prime-Actionfigur auf der Einkaufsplattform gefunden. Um sie zu kaufen, bräuchte er allerdings ein Kundenkonto und müsste einen Zahlungsweg einrichten. Benedict überfordert das. Deshalb kauft er lieber in Geschäften ein. „Ich bestelle ziemlich wenig im Netz, und nur wenn ich es unbedingt brauche“, sagt er, „und wenn dann frage ich, ob mir jemand dabei helfen kann.“ Das tut er auch diesmal. Eine Bekannte unterstützt ihn und ordert die Figur.

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Author: Lilly Pursch

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