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Faktencheck Lanz & Precht: Israel, der Gazastreifen & orthodoxe Juden

Gastbeitrag Dr. Michael Blume, Antisemitismusbeauftragter

Kennen Sie das, wachzuliegen, weil ein Gedanke nicht mehr aus dem Kopf verschwindet? Bei mir war das der Gedanke: Wenn die nichtjüdischen Fernseh-Talker Richard David Precht und Markus Lanz in einer ZDF-Podcast-Sendung reihenweise Falschbehauptungen über das orthodoxe Judentum verkünden – warum sollte dies dann von Jüdinnen & Juden richtiggestellt werden müssen? Wäre hier nicht erst einmal Wissenschaft als Faktencheck gefragt?

Nun hatte ich bereits vor zehn Jahren nach “Die Amish” ein auch in den jüdischen Gemeinden geschätztes sciebook über die sog. Ultraorthodoxen veröffentlicht, das hier auch kostenfrei als pdf verfügbar ist: “Die Haredim“. Es beweist übrigens auch, dass informierte und respektvolle Kritik durchaus ernst- und aufgenommen werden kann.

2019 hatte ich dann in Warum der Antisemitismus uns alle bedroht. Wie neue Medien alte Verschwörungsmythen befeuern vor antijüdischen Falschinformationen und Verschwörungsmythen sowohl im “westlichen” Netz wie gerade auch in islamisch geprägten Gesellschaften gewarnt:

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Und ich hatte mich auch wiederholt und klar zum Terrorangriff der Hamas auf die Republik Israel geäußert. Die Folge 110 von “Lanz & Precht” hatte ich mir schließlich ohnehin – unter fast körperlichen Schmerzen – angetan. Warum sollte ich also keinen Faktencheck zu den schlimmsten Falschbehauptungen bloggen?

Ich wehrte mich eine Zeit lang umherwälzend gegen diese Idee. Doch dann stand ich auf, setzte mich an den Computer und setze sie hiermit um.

1. Kein Arbeitsverbot im Judentum, aber historische Berufsverbote gegen das Judentum

Fangen wir an mit dem Satz, der sogar zu Protesten der Botschaft Israels geführt hat und inzwischen auch aus dem Podcast gelöscht worden ist. Dort hatte Precht behauptet, das (orthodoxe) Judentum würde bei Juden das Arbeiten verhindern, “Diamantenhandel und ein paar Finanzgeschäfte ausgenommen.

Doch es stimmt so ganz und gar nicht: Religiöse Juden schätzen das Studium von Thora & Talmud sehr und einige ultraorthodoxe Traditionen empfehlen daher für Männer möglichst lange Studien. Aber es gab und gibt kein Arbeitsverbot und schon gar keine Beschränkung auf Diamanten und Finanzen.

Im Gegenteil: Jüdinnen und Juden waren lange von vielen Berufen oder auch einfach Landerwerb ausgeschlossen und wurden von Christen und Muslimen, denen das Zinsnehmen religiös untersagt war, aufgefordert, als Händler und Bankiers zu arbeiten. Dies jetzt nachträglich zu einem angeblichen Eigen-Verbot des Judentums umzudrehen ist nicht weniger als Täter-Opfer-Umkehr und tradierter, antijüdischer Dualismus von Precht.

2. Säkulare Rechtsextreme, Orthodoxe & Ultraorthodoxe unterscheiden sich fundamental

Auch um die Minute 10 (je nach Bearbeitungsstufe) entgleist das Gespräch als Precht mit Berufung auf eine gemeinsame Sendung mit Omri Boehm behauptete, “die Orthodoxen und die Nationalisten in der Regierung krasser sind als Orban” und “rechter als die AfD”. Lanz assistierte, dies seien “Rechtsradikale, anders kann man das nicht sagen.”

Stop, Halt – möchte ich hier als Religions- und Politikwissenschaftler rufen! Hier werden drei sehr verschiedene und teilweise heftig streitende Strömungen zusammengerührt: 1. Säkulare Rechtsradikale, die meist gerade nicht nach religiösen Geboten leben, aber etwa die Wehrpflicht bejahen. 2. Modern-Orthodoxe, die meist sowohl die Republik Israel wie die Armee und auch weltliche Bildung bejahen und Freund-Feind-Dualismus ablehnen und 3. Ultraorthodoxe (Haredim, hebr. = Gottesfürchtige), die die Staatsform der demokratischen Republik samt Wehrpflicht ablehnen, eine messianische Theokratie anstreben und – wie etwa die christlichen Old Order Amish auch – weltliche Bildung häufiger ablehnen.

Als Beispiel nannte ich in fast allen meiner Bücher und auch hier auf dem Blog immer wieder Oberrabbiner Jonathan Sacks (1948 – 2020), seligen Angedenkens, der in großartigen Werken wie “Not in God’s Name. Confronting Religious Violence” (2015) evolutionäre Wissenschaft, nichtjüdische Philosophie und jüdische Studien auf höchstem Niveau und mit einem Plädoyer für friedvolles, dialogisches und gleichberechtigtes Miteinander verband. Rabbi Sacks war orthodoxer (Ober-)Rabbiner und später Mitglied im britischen House of Lords – und bei all dem das absolute Gegenteil eines “Rechtsradikalen”!

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Ich verdanke Rabbi Sacks auch inhaltlich enorm viel, bin mit einigen auch orthodoxen Rabbinern befreundet und finde es unerträglich, wie hier das orthodoxe Judentum mit Orban, AfD und Rechtsradikalismus vermengt und abgewertet wird. Dass es selbstverständlich auch israelische Rechtsradikale gibt – und meine Familie & ich seit Jahren von einem gestalket werden – bedeutet nicht, dass orthodoxe Jüdinnen und Juden pauschal unter diese Kategorie zu zählen wären.

3. Juden beten nicht “den ganzen Tag”, sondern 3 x täglich

Ausgerechnet im Kontext der Diskussion des Schabbat – des wöchentlichen Feier-, Ruhe- und Besinnungstages im Judentum – betonte Lanz, dass “diese Menschen… die meisten von denen arbeiten nicht” sehr “gestresst” seien, denn “den ganzen Tag bist du wirklich nur mit Beten beschäftigt”. Auch auf “die Kinder” übertrage sich “den ganzen Tag beten, Busse tun, Gott gefallen”.

Tja, nun gibt es im religiösen Judentum drei tägliche Gebete: Morgens, Mittags und Abends. Im Islam sind es fünf. Und die christlichen Benediktiner im Kloster Andechs verweisen auf ihrer Homepage auf das “immerwährende Gebet”, das sich in Vigil (Nacht) und Laudes (Morgen), Mittagshore, Komplet und Vesper gliedert.

Jüdische Kinder sind ausdrücklich noch nicht zur Einhaltung aller Gebote verpflichtet – erst mit dem ab Jugend möglichen Lese-Initiationsritus der Bar Mitzwa (Jungs) bzw. Bat Mitzwa (Mädchen, in einigen Traditionen) werden sie zu voll verantwortlichen Söhnen und Töchter der Gebote. Eine Erbsünde-Lehre, nach der schon kleine Kinder sich Gottes Versöhnung erst erdienen müssten, gibt es im Judentum ausdrücklich nicht! Gerade auch im Vergleich zu den anderen semitischen und abrahamitischen Religionen gibt es hier keinen Gebets-Exzess.

4. “Was ist das für ein Gott” im Judentum? Ein barmherziger und gerechter!

Aus seinen Annahmen ergebe sich, so Lanz, aber die Frage: “Was ist das für ein Gott, der das von dir verlangt?” Und nun eskalierte Precht völlig: 

“Das kann doch kein lieber Gott sein, der von morgens bis abends angebetet und verherrlicht werden will. Das widerspricht doch sozusagen den göttlichen Prinzipien des allmächtigen, allgewaltigen In-Sich-Ruhens. Ein Gott, der von Menschen so etwas verlangt, widerspricht doch der Gottesidee.” 

Precht griff hier auf eine griechisch-platonische “Gottesidee” zurück, der der mit seiner Schöpfung und besonders den Menschen empfindende, eingreifende, dialogisch lernende Gott der Bibel nicht genüge. In der Rede vom “lieben Gott” werden zudem die lutherisch-antijüdischen und bürgerlichen Traditionen hörbar, die den vermeintlich christlichen “Gott der Liebe” vom vermeintlich jüdischen “Gott des Gesetzes” unterschieden. Mit dem jüdischen Selbstverständnis hat auch dies freilich nichts zu tun: Die meisten jüdischen Gelehrten betonen, dass Gottes Wille stets sowohl als liebevoll wie auch als gerecht zu verstehen sei. Christen werden die gleiche Balance auch im Jakobus-Brief des Neuen Testamentes finden, den Luther daher nicht zufällig als “stroherne Epistel” abzutun versuchte und ans Ende seiner Bibelübersetzungen verschob. 

5. Das Judentum ist keine Verschwörung “anderer Mächte und Kräfte”

Nun warf sich auch wieder Lanz auf antisemitische Verschwörungsmythen:

“Das ist genau der Punkt und da kriegst du halt ganz schnell auch das Gefühl, okay, Gott ist das wahrscheinlich gar nicht, der das alles will. Sondern da sind andere Mächte und Kräfte dahinter, die ein großes Interesse daran haben, einen ganzen Menschen so emotional einzukesseln, zu kapern, wirklich fast als Geisel zu nehmen.” 

Dass orthodoxe Jüdinnen und Juden zu einem falschen Gott beten und unter dem Einfluss “anderer Mächte und Kräfte” stünden greift nun wirklich bis in den frühchristlichen Antijudaismus, die Gnostik und den Dualismus etwa des Marcion im 2. Jahrhundert nach Christus zurück, der zwischen dem vermeintlich wahren Gott der Christen und dem vermeintlich falschen Gott der Juden strikt unterschied, dazu auch die kanonischen Bibeln verändern wollte – und dessen Lehre von den christlichen Konzilien verworfen wurde.

Hier werden bei Lanz & Precht nicht nur außerweltliche oder menschliche Superverschwörer propagiert, dem orthodoxen Judentum wird auch vorgeworfen, über die jüdische Religion Menschen “fast als Geisel zu nehmen.” Und dies wenige Tage, nachdem die Terrororganisation der Hamas über 1.200 Menschen ermordete und zahlreiche, Hunderte Geiseln nahm – von denen viele bisher tot oder noch gar nicht geborgen werden konnten! Das ist mehr als gedankenlos und gehört nach meiner Wahrnehmung zu den schlimmsten Passagen dieser Folge.

6. Nicht nur im Judentum haben Religiöse im Durchschnitt mehr Kinder

Von den Mutmaßungen über eine Verschwörung innerhalb der jüdischen Traditionen schwenkte Lanz dann auch noch auf die Religionsdemografie: “Und du hast dann eben diese Konflikte in der israelischen Gesellschaft, die kriegen sehr, sehr viele Kinder. Und du kannst irgendwann auch nicht mehr anfangen, Politik gegen diese Leute zu machen. Das heißt, du hast plötzlich eine Politik, die sich automatisch immer weiter nach rechts ausrichtet.” 

Und, ja, jüdisch-orthodoxe und insbesondere ultraorthodoxe Familien haben im Durchschnitt sehr viele Kinder – ganz genau wie christliche Old Order Amish, Hutterer oder laestadianische Lutheraner eben auch.

Religionsdemografie ist kein Geheimnis und auch nicht auf eine Religion beschränkt. Grafik aus einem Blogpost zu Israel mit Quelle von 2018: Michael Blume.

Dass religiös praktizierende Theistinnen im Durchschnitt mehr Kinder als liberale und säkulare Nachbarinnen haben, beschrieb ich bereits 2009 in der Gehirn & Geist-Titelgeschichte “Homo religiosus“: Es ist dies ist ein Effekt, der ebenso die religiöse und politische Landschaft etwa in den USA und selbstverständlich in Gaza betrifft. Warum also wird es hier nur als jüdisch-israelisches Thema und Problem angesprochen?

Credit: Gehirn & Geist 04/2009, “Homo religiosus”.

Fazit

Der religions- und politikwissenschaftliche Faktencheck könnte noch lange weitergehen. Mich hat geärgert, dass das ZDF schrieb:

“Wir bedauern, dass eine Passage in der aktuellen Ausgabe von „Lanz & Precht“ Kritik ausgelöst hat. Wir haben die Passage aus der aktuellen Podcastfolge entfernt. Lanz und Precht werden das Gesagte in Kürze aufarbeiten.”

Darauf habe ich geantwortet:

“Liebes ZDF – das Problem an dieser Ausgabe von „#Lanz & #Precht“ war doch nicht, dass sie „Kritik ausgelöst hat“ – sondern dass sie vor #Antisemitismus & Täter-Opfer-Umkehr gegen #Israel & zugunsten der #Hamas strotzte! Wollt Ihr nicht das mal „aufarbeiten“?” 

Der öffentlich-rechtliche Rundfunk muss sich m.E. schon fragen lassen: Wer käme auf den Gedanken, nach terroristischen und massenmörderischen Anschlägen auf einen verbündeten Staat an dessen religiösen Feiertagen eine Sendung ohne politik- und religionswissenschaftliche Expertise auszustrahlen, in der die Religion der Angegriffenen auch noch sachlich falsch und negativ verzerrt dargestellt werden? Warum so etwas gegen die Republik Israel und das Judentum?

Dieser medienethisch unterirdische Vorgang hat mich buchstäblich um den Schlaf gebracht. Und ich kann nur hoffen, dass dieser Faktencheck bei der angekündigten Aufarbeitung dieser missglückten Podcast-Folge Berücksichtigung findet und für die Zukunft ernsthafte Expertisen eingeholt und Qualitätsstandards eingezogen werden.

Zum Thema:

Dr. Michael Blume ist studierter Religions- und Politikwissenschafter & promovierte über Religion in der Hirn- und Evolutionsforschung.Er ist seit 2018 Beauftragter der Landesregierung BW gg. Antisemitismus. Dieser Artikel erschien zuerst bei Spektrum.de. Artikelbild: Screenshot Youtube, ZDFheute Nachrichten: https://www.youtube.com/watch?v=qC3zzogREd0&ab_channel=ZDFheuteNachrichten.

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