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„Unsere Demokratie ist komplett am Ende“, behauptet Alexander Raue, der in Sozialen Netzwerken unter dem Namen „Vermietertagebuch“ auftritt. In einem Video, das er am 13. April auf seinem Zweitkanal bei Youtube veröffentlichte, spricht er über die Bürgermeisterwahl im sächsischen Großschirma vom 3. März 2024. Die vorzeitige Wahl war nach dem Suizid des langjährigen Amtsinhabers Volkmar Schreiter (FDP) notwendig geworden.
Der AfD-Politiker Rolf Weigand gewann die Wahl in der sächsischen Kleinstadt mit 59,4 Prozent der Stimmen, durfte das Amt aber nicht antreten. Die Kommunalaufsicht des Landratsamtes Mittelsachsen erklärte die Wahl am 12. April für ungültig und ordnete eine Neuwahl an.
Raue bezeichnet das als „riesengroßen Skandal“ und behauptet: „Dreimal dürft ihr raten, wer in dieser Kommunalaufsicht für die Wahlprüfung sitzt, richtig, es sind die Altparteien.“ Sie hätten die Wahl rückgängig gemacht, weil ihnen das Ergebnis „nicht gepasst“ habe. Seine Behauptungen landeten auch auf Tiktok.
Doch hinter der Anordnung zur Neuwahl steckt eine gesetzliche Vorgabe, an die sich die Wahlprüferinnen und Wahlprüfer halten müssen. Wäre die eingehalten worden, hätte Weigand gar nicht gewählt werden können.
Auf Anfrage von CORRECTIV.Faktencheck reagierte Alexander Raue nicht.
Landratsamt Mittelsachsen: Keine politischen Parteien und Politiker in Wahlprüfung involviert
Die Kommunalaufsicht des Landratsamtes Mittelsachsen ist durch das Kommunalwahlgesetz gesetzlich verpflichtet, bei Bürgermeisterwahlen eine Wahlprüfung durchzuführen (Paragraf 27 und 38).
Die Pressestelle des Landratsamts Mittelsachsen teilt uns auf Anfrage mit, in der Aufsicht seien keine kommunalpolitischen Entscheidungsträger tätig. „Weder der Kreistag noch politische Parteien oder deren Funktionsträger bzw. deren Mitglieder sind in das Verwaltungsverfahren der Wahlprüfung involviert.“ Die Kommunalaufsicht werde durch einen Volljurist oder eine Volljuristin besetzt, weitere Mitarbeitende seien Verwaltungsfachangestellte und eine juristische Sachbearbeitung. Unterstellt ist die Aufsicht dem Landrat in Mittelsachsen – der ist parteilos.
Doch wer entscheidet darüber, wer in der Kommunalaufsicht tätig ist?
Über Personalien der Kommunalaufsicht entscheiden Landrat und Kreistag
Dazu antwortete uns das Landratsamt Mittelsachsen: „Über die Leiterin oder den Leiter müssen Kreistag und Landrat Einvernehmen herstellen. Über die Mitarbeiter entscheidet der Landrat.“ Fabian Michl, Juniorprofessor für Öffentliches Recht und das Recht der Politik an der Universität Leipzig, bestätigt das und verweist dabei auf die Sächsische Landkreisordnung und auf die Hauptsatzung des Landkreises Mittelsachsen. Eine Abweichung von dieser Regelung gebe es, wenn die Leitung der Kommunalaufsicht – wie aktuell auf der Webseite des Landratsamts dargestellt – kommissarisch wahrgenommen wird. Dann bestehe keine Rechtspflicht, dass der Landrat den Kreistag an der Entscheidung beteiligt.
Landrat in Mittelsachsen ist seit 2022 Dirk Neubauer. Er war Mitglied der SPD, doch trat 2021 aus der Partei aus, wie Medien berichteten und ist folglich parteilos.
Der Kreistag in Mittelsachsen setzt sich aktuell wie folgt zusammen: Die CDU (28 Sitze) hat die meisten der insgesamt 98 Sitze, gefolgt von der AfD (22 Sitze), den Freien Wählern (16 Sitze), der Linken (11 Sitze), SPD (9 Sitze) und mit jeweils 5 Sitzen FDP und Grüne, 2 Sitze hat der Regionalbauernverband Erzgebirge. Die Stimmen aus CDU, SPD, Grüne und FDP bilden keine Mehrheit.
Dass die „Altparteien“ die Bürgermeisterwahl in Großschirma für ungültig erklärten, stimmt also nicht. Unabhängig davon müssen Beamte, wie solche, die in der Kommunalaufsicht sitzen, „ihre Aufgaben unparteiisch und gerecht erfüllen und ihr Amt zum Wohl der Allgemeinheit führen“, wie das Beamtenstatusgesetz (§ 33, Absatz 1) festlegt.
Großschirma: Gesetzlich erforderliche Unterschrift von AfD-Politiker Rolf Weigand fehlte auf Wahlvorschlag
Warum die Bürgermeisterwahl überhaupt für ungültig erklärt wurde, erläutert das Landratsamt Mittelsachsen in einer Mitteilung auf seiner Webseite. Auf dem Wahlvorschlag von Weigand fehlte seine „eigenhändige Unterschrift“. Diese ist jedoch per Gesetz erforderlich (Paragraf 41, Absatz 1, Satz 3, KomWG). Dass der AfD-Politiker trotzdem zur Bürgermeisterwahl antreten durfte, sei ein Fehler des Gemeindewahlausschusses gewesen.
Das Landratsamt spricht von einem „vermeidbaren, rein formalen Fehler“ – der allerdings das Wahlergebnis beeinflusst habe und deshalb erheblich war. Denn hätte der Wahlausschuss korrekt gehandelt und Weigand aufgrund seiner fehlenden Unterschrift nicht zugelassen, hätte Weigand überhaupt nicht gewählt werden können.
Verfassungsrechtler Fabian Michl teilt die Einschätzung des Landratsamts. Um die Authentizität und Ernsthaftigkeit eines Wahlvorschlags zu gewährleisten, sei eine eigenhändige Unterschrift nötig, so Michl. Bei Wahlvorschlägen von Parteien und Wählervereinigungen sei das bereits rechtlich geregelt gewesen, eine vergleichbare Regelung für Einzelbewerber – Weigand wurde von der AfD nicht offiziell aufgestellt – habe bis 2022 gefehlt. Die Änderung trat am 9. Februar 2022 in Kraft.
Susanne Lippmann, Leiterin des Haupt- und Ordnungsamtes der Stadtverwaltung Großschirma, erklärte den Fehler gegenüber dem MDR Sachsen damit, dass dem Wahlausschuss die Gesetzesänderung nicht bekannt gewesen sei.
Andere Verstöße gegen Wahlvorschriften waren nicht relevant
Anders als von Alexander Raue in seinem Youtube-Video suggeriert, waren die anderen beiden Verstöße, die die Kommunalaufsicht bei ihrer Wahlprüfung feststellte, „ergebnisunerheblich“ – sie führten also nicht zur Ungültigkeit der Wahl.
Laut Landratsamt Mittelsachsen geht es bei einem der Verstöße darum, dass Weigand im Amtsblatt von Großschirma den Wahlaufruf auf der Titelseite als zweiter stellvertretender Bürgermeister mitunterzeichnete. Dazu sagt Raue: „Was bitteschön ist das für ein Unsinn? Weigand war der zweite stellvertretende Bürgermeister, also warum sollte er nicht als stellvertretender Bürgermeister das Amtsblatt unterschreiben dürfen?“
Die Pressestelle des Landratsamts Mittelsachsen erklärte uns gegenüber: „Als zweiter stellvertretender Bürgermeister darf Herr Dr. Weigand den verstorbenen Bürgermeister nur vertreten, wenn der Verhinderungsfall (Krankheit, Urlaub etc.) der ersten stellvertretenden Bürgermeisterin gegeben ist. Weil die erste stellvertretende Bürgermeisterin den Leitartikel im Amtsblatt der Gemeinde auf der Titelseite (Bürgerblatt von Februar 2024, Download) selbst unterzeichnete, war sie offensichtlich nicht verhindert.“ Dadurch sei es dem Wahlbewerber Weigand möglich gewesen, die Bürgerinnen und Bürger im Kontext der Wahl auf der amtlichen Plattform des Amtsblattes anzusprechen, während die anderen Wahlbewerber diese Möglichkeit nicht gehabt hätten.
Der zweite „ergebnisunerhebliche“ Verstoß betrifft die zu spät erfolgte Bekanntmachung der Gemeinde darüber, dass das Wählerverzeichnis eingesehen und eine Briefwahl beantragt werden darf. Laut dem Landratsamt Mittelsachsen erfolgte die Notbekanntmachung am 29. Februar 2024, kurz vor der Wahl. Doch die Sächsische Kommunalwahlordnung schreibt vor, dass die Gemeinde die Wahlberechtigten über die Beantragung der Briefwahl spätestens am 21. Tag vor der Wahl (Paragraf 7, Absatz 1, Satz 9) und über Informationen zum Wählerverzeichnis spätestens am 24. Tag vor der Wahl (Paragraf 8, Absatz 1) benachrichtigen muss.
Die Neuwahl zum Bürgermeister von Großschirma soll am 1. September stattfinden, wie Hauptamtsleiterin Susanne Lippmann gegenüber MDR Sachsen mitteilte.
Redigatur: Matthias Bau, Sophie Timmermann
Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Faktencheck:
- Mitteilung des Landratsamts Mittelsachsen „Bürgermeisterwahl in Großschirma ist ungültig“, 12. April 2024: Link (archiviert)
- Kommunalwahlgesetz Paragraph 41, Absatz 1, Satz 3, März 2024: Link (archiviert)
- Sächsische Kommunalwahlverordnung, März 2024: Link (archiviert)
- Ergebnis der Landtagswahl in Mittelsachsen, 3. Juli 2022: Link (archiviert)
- Ergebnis der Kreistagswahl in Mittelsachsen, 26. Mai 2019: Link (archiviert)
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Author: Kimberly Nicolaus