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In Berlin stockt derzeit der Rollout sogenannter Haftraummediensysteme. Sie sollen den Gefangenen Internet in die Zellen bringen, doch funktionieren nur mangelhaft.
Wer in der JVA sitzt, ist auch von digitaler Kommunikation weitgehend abgeschnitten. – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / Jürgen RitterMitarbeiten sollen sie, am Ende würde es ganz toll werden. An diese Worte der Anstaltsleitung erinnert sich ein Gefangener, der in der JVA Heidering sitzt. Wir werden in Karl nennen. Dort wurden im Frühjahr die neuen Haftraummediensysteme des Unternehmens Telio verbaut.
Fernsehen, Radio, E-Mails und mehr. All das sollen die Systeme mit dem sperrigen Namen den Gefangenen in die Zellen bringen und viele einzelne Geräte überflüssig machen.
An einem Tag im Frühling haben die Bediensteten daher bisherige elektronische Geräte wie Radio und Fernseher entfernt und das neue System eingebaut, erzählt Karl.
Es geht dabei nicht nur ums Daddeln am Bildschirm oder Zeitvertreib, es geht um das Grundrecht auf Resozialisierung durch den Zugang zu digitalen Medien: 2021 kündigte der damalige Berliner Justizsenator Dirk Behrendt an, er wolle den Gefangenen „Internet“ bereitstellen, um „das Leben in Haft dem Leben in Freiheit anzugleichen“ – wie es in einer Pressemitteilung heißt.
Die Systeme funktionierten nicht
Doch Recherchen von netzpolitik.org zeigen: Der Start des Pilotprojektes geht nicht nur schleppend voran, sondern hält auch nicht die Versprechen des Senats. Anstatt einem Internetzugang erhalten Gefangene Kiosk-Systeme mit Unterhaltung und wenig Kommunikationsmöglichkeiten. So können sie nicht einmal wie durch den Senat kommuniziert E-Mails verschicken: Für vier Monate funktionierte der „Digitale Brief“ überhaupt nicht.
Auszug der Leistungsbeschreibung zum Vertrag zwischen dem Berliner Senat und Telio.
Die Pressestelle des Justizsenats bestätigt netzpolitik.org nun, dass der Rollout der HMS angehalten werden musste: „Aus verschiedenen Gründen ist es bei der Schaffung der Betriebsvoraussetzungen zu technischen und organisatorischen Verzögerungen gekommen“, sagt eine Sprecherin.
Dr. Olaf Heischel, Vorsitzender der Interessenvertretung Berliner Vollzugsbeirat (BVB), erklärt netzpolitik.org, dass die alten Kabelanlagen nicht für das neue Telio-Produkt geeignet sind. Insbesondere in Tegel müssten möglicherweise neue Verkabelungen her. Es stelle sich die Frage, warum dieses Problem nicht vertraglich berücksichtigt wurde.
Mangelnde Infrastruktur hält den Rollout auf
Das Unternehmen hinter den HMS kennt die Infrastruktur der JVAen. Denn Telio beherrscht den Markt der Gefangenenkommunikation. Das Hamburger Unternehmen verkauft den Justizvollzugsanstalten und Justizministerien kostenlose Komplettpakete. Auch in Heidering verbaute Telio bereits Telefone in den Zellen.
Für die neuen Geräte setzt Telio auf die bisherige Kabel-Infrastruktur der JVAen auf. Kostengünstige Kabelmodems mit einem Touch-Bildschirm innerhalb der Hafträume stellen die Verbindung zu dem zentralen Server innerhalb der JVA her. Von dort sollen Services und Nutzerdaten gehostet werden, wie es die Leistungsbeschreibung vorsieht. Telio bietet dabei jegliche Geräte und übernimmt auch die Wartung. Das ergaben Recherchen von Golem.de aus dem Jahr 2022.
Eine Schriftliche Anfrage aus dem Mai dieses Jahres von Sebastian Schlüsselburg, Abgeordneter für die Linkspartei, gibt mehr Einblicke in den stockenden Rollout. So verzögern sich die Einbauten in den JVAen teils um Tage bis hin zu Monaten, oft wegen mangelnder oder veralteter Infrastruktur.
Die Gefangenen sind unzufrieden
Karl hat zwar ein HMS bekommen. Er ist aber unglücklich mit dem Gerät und berichtet, dass die Eingabe über die Bildschirm-Tastatur sehr langsam sei. Viel zu lange würde das Gerät brauchen, um jeden einzelnen Buchstaben zu erkennen. „Ich kenne nichts Vergleichbares, es wirkt selbst programmiert“, berichtet Karl, der seit mehreren Jahren wegen Computerkriminalität einsitzt.
Kabelmodem, das Telio für das Haftraummediensystem verbaut hat
Telio lässt sich das Produkt im Flatrate-Modell refinanzieren. Google News ist kostenfrei, für „Erweiterten Internetkontakt“ werden 2,33 Euro monatlich fällig. Für „Digitale Briefe“ nochmal 1,96 Euro. 13,95 Euro kosten TV und Radio, für einen Blu-Ray-Player in der Zelle kommen noch 2,90 Euro obendrauf. Für freie Menschen wirkt das vielleicht bezahlbar. Doch bei einer Bezahlung unter Mindestlohn bleibt nur wenig übrig für Medien und Konsumgüter.
13,95 Euro für Fernsehen und Radio
Die selbstorganisierte Gefangenenzeitschrift lichtblick hat in ihrer Ausgabe 00 von 2023 die Preise für das von ihnen ironisch betitelte „HaMSy“, veröffentlicht. „Wir dürfen uns freuen: das Digitale hält Einzug im Knast“, heißt es dort – gleichfalls ironisch. netzpolitik.org dokumentiert an dieser Stelle die dort genannten Preise. Die Pressestelle des Justizsenats hat diese Angaben so bestätigt: Nur seien es 13,95 Euro anstatt 12,95 Euro bei dem TV- und Radio-Programm.
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„Kosten für Mediendienste für Gefangene“ direkt öffnen
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Für die Gefangenen ist ihre Situation als Testperson eher unglücklich. Der Senat teilt netzpolitik.org zu dem Feedback der Gefangenen mit: Die „in Betrieb genommenen Dienste und Medien [laufen] noch nicht störungsfrei. Eine Einbeziehung der Gefangenen zu ihrem Nutzungsverhalten würde deshalb kein verwertbares Ergebnis erzielen.“
Gefangene berichten, dass sie bei Problemen wie Systemausfällen keine klaren Ansprechpersonen hätten. Der Senat teilt hingegen mit, dass Verantwortlichkeiten „zwischen den Anstalten, der Senatsverwaltung für Justiz und Verbraucherschutz sowie der Firma Telio Communications GmbH klar geregelt“ seien. Zudem stünden sie im wöchentlichen Austausch über Supportanfragen.
Dauerthema Rollout
Wir haben Telio unter anderem gefragt, wie viele Supportanfragen sie seit Beginn des Einbaus erhalten haben. Das Unternehmen teilt mit, dass die „aufgeworfenen Fragen […] sich auf ein laufendes Vertragsverhältnis“ beziehen und sie sich deswegen nicht äußern können. Des weiteren versichern sie, „dass unser Hauptaugenmerk bei der Implementierung des Haftraummediensystems stets auf den Bedürfnissen der inhaftierten Personen liegt“.
Auch Olaf Heischel vom BVB steht im regen Austausch mit dem Senat zu den HMS. Im monatlichen Jour Fixe sei der Rollout „bei jedem Termin Thema gewesen“, sagt er netzpolitik.org. Er weist darauf hin, dass auch andere Bundesländer auf das Berliner Modellprojekt aufmerksam geworden sind und sich beraten lassen.
Interface des HMS
Wenn der Modellversuch am Ende gelingt, kann sich Telio weiter als führender Anbieter für Gefangenenkommunikation profilieren. Vor einem Jahr hat das Unternehmen den kleineren deutschen Mitbewerber Gerdes gekauft. Vor wenigen Wochen folgte die Übernahme des kanadischen Unternehmens Synergy Technology Solutions.
Telio expandiert
„Die Telio-Philosophie fördert den in den USA bereits gestarteten Kulturwandel massiv“, sagte Oliver Drews, CEO der Telio Group, diesbezüglich. Der Kauf würde neue Märkte erschließen und die „Hamburger Telio Group auf dem Weg zum Weltmarktführer“ bringen – wie es in der Pressemitteilung zudem heißt.
Heischel berichtet aber auch, dass die Berliner Justizverwaltung und die Gefangenen früher mit Telio schlechte Erfahrungen bezüglich der Preise für die Produkte gemacht hatten, die auf die Gefangenen umgelegt werden. Aber Telio hat das Bieterverfahren gewonnen: bei den Haftraummediensystemen wie üblich mit einem Angebot von 0,00 EUR für den Staat.
Wenige Wochen nach unserem Gespräch musste Karl, mit dem netzpolitik.org sprach, verlegt werden. Er berichtet in einem Brief, dass er das HMS trotz aller Probleme vermisse. In seiner jetzigen JVA gibt es diese Möglichkeiten nicht. Doch lange muss er nicht auf den digitalen Zugang verzichten: Für Karl steht bald die Entlassung an.
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Author: Lennart Mühlenmeier