Das rote Dreieck wird von Hamas-Terroristen verwendet, um Feind*innen zu markieren.
(Quelle: AAS)
Inhaltswarnung: Gewaltvolle und extrem abwertende Sprache
Katharina König-Preuss ist langjährige Politikerin der Linkspartei und eine der wichtigsten antifaschistischen Stimmen im deutschsprachigen Raum. Sie setzt sich außerdem vehement gegen Antisemitismus ein – ob dieser nun von rechts, von Islamist*innen, aus der bürgerlichen Mitte oder von links kommt. Auf Social Media kritisierte König-Preuss den Beschluss der Linken auf dem Bundesparteitag in Chemnitz, die umstrittene „Jerusalem Declaration on Antisemitism“ zur Parteilinie zu erklären. Als Reaktion darauf erhielt sie, so berichtet König-Preuss, zahlreiche Kommentare und Nachrichten, in denen sie als „Faschistin“, „Rassistin“ oder sogar als „Zionistenfotze“ betitelt werde.
Kristina Lunz leitet das Centre for Feminist Foreign Policy. Sie hat einen ausführlichen Blogbeitrag darüber veröffentlicht, seit Monaten einer Schmierenkampagne ausgesetzt zu sein, initiiert von sich selbst als progressiv verstehenden Akteur*innen: weil sich Lunz gegen Antisemitismus positioniert und angeblich zuwenig gegen das Leid der Palästinenser*innen. Die Kampagne wird immer wieder von den immergleichen Akteur*innen angestoßen, weil die Empörung über Lunz als antisemitismuskritische Frau innerhalb sozialer Medien sehr gut funktioniert.
Terror auf Instagram
Das ://about blank ist ein antifaschistischer, unkommerzieller und kollektiv organisierter Club in Berlin. Seit 15 Jahren veranstaltet das Kollektiv linke Partys, aber auch Lesungen und Podiumsdiskussionen, sammelt Geld für queere, feministische und antifaschistische Gruppen und Projekte. Es ist ein Ort der solidarischen Begegnung und Organisation und unersetzlich für die antifaschistische Bewegung. Aufgrund der konsequenten Positionierung gegen jeden Antisemitismus sieht sich das ://about blank regelmäßig Angriffen ausgesetzt. Es wurde mit dem roten Dreieck, mit dem die islamistische Terrorgruppe Hamas ihre Feinde markiert, beschmiert. Auf den sozialen Medien finden sich Kommentare wie „Die A100 kann nicht schnell genug kommen“ – ein Bezug auf den Ausbau der Autobahn A100 durch den Berliner Stadtteil Friedrichshain, dem neben dem ://about blank auch zahlreiche weitere Clubs, Bars und Kulturprojekte zum Opfer fallen würden.
Angesichts einer im Mai veranstalteten Party in Gedenken an die Opfer des Nova-Festival veröffentlichte ein Berliner DJ eine Instagram-Story mit dem Partyposter und dem terrorverherrlichenden Kommentar: „The resistance has the chance to do the funniest thing ever“. Nichts anderes als die Billigung eines weiteren Massakers durch den angeblichen „Widerstand” – gemeint ist die Hamas – diesmal in einem Berliner Technoclub.
Organisierte und radikalisierte Empörung
Wer ein gewisses Gespür für soziale Medien hat, bemerkt, ob Hasskommentare unter einem Post organisch sind oder das Ergebnis eines angestachelten Shitstorms. Letzteres lässt sich daran erkennen, dass sehr viele, sehr ähnliche Kommentare aus einer gemeinsamen Blase an User*innen und zu einem ähnlichen Zeitpunkt gepostet worden sind. Meistens hat kurz zuvor ein*e reichweitenstarke Akteur*in, sei es explizit oder implizit, den Inhalt der von dem Shitstorm betroffenen Person auf der eigenen Plattform skandalisiert.
Soziale Medien funktionieren nach einer Massendynamik. Sie sind hervorragend darin, Emotionen, Affekte und Ressentiments zu unterfüttern, und bieten auch direkt eine Plattform, diese Gefühle herauszulassen. Praktischerweise ist das Objekt, das die Gefühle (scheinbar) hervorruft, auf der Plattform direkt greifbar. Der zwischenmenschliche Umgang mit Empörung auf sozialen Medien ist erstmal ein anderer als im direkten zwischenmenschlichen Kontakt. Der Mensch, auf den die User*in wütend ist, wird weniger als Subjekt wahrgenommen, das durch einen Hasskommentar verletzt wird, sondern erst einmal als Projektionsfläche, deren Kommentarspalte zur Distinktion genutzt werden kann.
Gerechtfertigte Verrohung
Ich selbst arbeite seit inzwischen gut zehn Jahren zu Online-Radikalisierung, meistens von Neonazis, Incels, der Querdenken-Bewegung. Es gibt Gemeinsamkeiten, die auch in der israelfeindlichen Szene immer wieder auftauchen. Die Dehumanisierung des Feindbildes, ein manichäisches Bild auch von politischen Gegner*innen als dem absolut Bösen, das bekämpft werden muss und vor allem der Moment der kollektiven Empörung, in dem sich die Mitglieder eines digitalen Kollektivs permanent gegenseitig bestätigen. Auch wenn die Ideologien unterschiedlich sind: Die Massenpsychologie von Online-Radikalisierung funktioniert weitestgehend gleich.
In der deutschen Mehrheitsgesellschaft treffen omnipräsente antisemitische Ressentiments auf ein durch Desinformationen gefüttertes Verständnis von Zionismus und dem Nahostkonflikt. Dazu kommt legitime Wut und Frustration über die ultrarechte Netanjahu-Regierung, die israelischen Kriegsverbrechen und die Situation in Gaza.
Interessant ist aber, dass sich diese Wut regelmäßig gegen antisemitismuskritische Linke richtet – sei es in sozialen Medien oder darüber hinaus. Oft bleibt es auch nicht nur bei empörten Kommentaren oder goysplaining, sondern mündet in konkreten Gewaltaufrufen oder tätlichen Handlungen. Das Verhalten der antiisraelischen Linken zeichnet sich stellenweise durch eine Häme und einen Sadismus aus, den ich selbst bisher primär auf organisierten Cybermobbing-Plattformen wie Kiwi Farms beobachtet habe. Zum Beispiel: die akribische Dokumentation jeder vermeintlichen Transgression. Listen vermeintlich legitimer politischer Feind*innen. Memes, die Gegner*innen zu einem humoristischen Punching Bag degradieren. Und in der Echokammer digitaler Räume bestätigen sich Nutzer*innen darin, dass diese Entmenschlichung des anderen, die nun wirklich nichts mehr mit legitimer Kritik zu tun hat, gerechtfertigt ist.
„Zionazis jagen“. Diese zwei Worte stehen unter einem Instagram-Post des Thüringer Linken-Politikers Bodo Ramelow. In seinem Posting hatte Ramelow sich kritisch über den Beschluss seiner Partei zur JDA geäußert. Der Begriff „Zio“, der sich innerhalb der antiisraelischen Szene ungebrochener Beliebtheit zur Feindmarkierung erfreut, stammt übrigens von David Duke – dem ehemaligen Grand Wizard des Ku Klux Klan.
Werden Worte Taten?
Memes und Sticker mit Forderungen nach „Antideutsche Strukturen zerschlagen” führen zwar nicht automatisch zu tätlichen Angriffen auf antisemitismuskritische Linke. Aber sie reihen sich ein in einen immer lauter werdenden Chor aus Stimmen, der jedes Engagement gegen Antisemitismus abwehrt und dämonisiert – stellenweise dann doch bis zur Gewalt.
Düzen Tekkal ist eine Menschenrechtsaktivistin, ihre Familie hat den Genozid an den Jesid*innen überlebt. Sie ist seit gut einem Jahr aufgrund ihrer Positionierungen gegen Islamismus und Antisemitismus immer wieder Diffamierungen und Angriffen ausgesetzt. Ende April stürmten antiisraelische Aktivist*innen eine Ausstellung zu jesidischem Leben, auf der auch Überlebende von IS-Gefangenschaft sprachen, und die von der von Tekkal gegründeten Organisation Háwar Help organisiert worden war. Begründet wurde der Angriff damit, dass die Aktivistin – die regelmäßig Solidarität mit der palästinensischen Zivilbevölkerung und Kritik an der Regierung und Kriegsführung Israels ausdrückt – einen angeblichen Genozid an den Palästinenser*innen unterstützen würde.
Nicholas Potter ist Journalist bei der taz und ehemaliger Mitarbeiter der Amadeu Antonio-Stiftung und von Belltower.News. Seit Monaten befeuern antiisraelische Aktivist*innen, unterfüttert vom mutmaßlich russlandnahen Propaganda-Kanal Red, eine Hasskampagne gegen Potter: Diffamierungen, Verdrehung seiner Aussagen, Beleidigungen. Die Angriffe gipfelten in dem Verkleben von zuerst Stickern und später Plakaten mit Potters Gesicht in Berlin, auf denen zur Gewalt gegen einen linken, differenzierten und kritischen Journalisten aufgerufen wird.
Das Bajszel ist eine linke Kneipe, die zahlreiche Veranstaltungen gegen Antisemitismus organisiert. Seit dem 7. Oktober 2023 wird der Raum immer wieder mit antisemitischen Parolen und roten Dreiecken beschmiert. Antiisraelische Aktivist*innen haben gegen Neuköllner Kneipe demonstriert, Steine in die Fenster geworfen, sogar einen Brandanschlag verübt, der eine Todesfolge hätte haben können. Auch andere linke Räume, die sich gegen Antisemitismus positionieren, wie die Rote Flora in Berlin oder das Conne Island in Leipzig, sehen sich regelmäßig Angriffen aus den eigenen Reihen ausgesetzt, die den Bereich des angemessenen politischen Streits längst verlassen haben.
Yuval Raphael hat das Massaker der Hamas am 7. Oktober überlebt und sang im Rahmen des Eurovision-Songcontests für Israel. Antiisraelische Aktivist*innen begrüßten die junge Frau bei ihrem Auftritt auf dem türkisen Teppich mit Morddrohungen, demonstrierten gegen die Sängerin, versuchten ihren Auftritt zu stören.
All diesen Zielen ist eine Sache gemein: Sie sind jüdisch oder setzen sich gegen Antisemitismus ein oder beides. Das macht sie im Weltbild der Angreifer*innen zu „Zionazis“, und damit, ungeachtet ihrer Kritik an der israelischen Regierung und deren Kriegsführung, zu legitimen Zielen.
Dies alles hat mit Kritik und einem notwendigen politischen Streit nicht mehr viel zu tun. Es ist Ausdruck einer kollektiven emotionalen Verrohung gegenüber israelischen, jüdischen und antisemitismuskritischen Personen, die sich seit dem 7. Oktober 2023 ungehemmt Bahn bricht, und deren Legitimität sich antisemitische Aktivist*innen in ihren digitalen und analogen Echokammern immer wieder gegenseitig bestätigen.
Strafbedürfnis trifft eindeutige Feindmarkierungen
Um die verbale bis tätliche Gewalt gegen das immer projektiv aufgeladene Feindbild zu legitimieren, muss das Feindbild erst zu einem solchen gemacht werden. Ramelow, Tekkal, Potter, das ://about blank, auch antifaschistische Gruppen und Bündnisse wie KES oder Feminism Unlimited: Sie alle bemühen sich um eine differenzierte Betrachtung des Nahost-Konflikts und des Krieges in Gaza, sie fordern ein Ende des Krieges, und haben sich deutlich von der in Teilen rechtsradikalen israelischen Regierung und der israelischen Kriegsführung distanziert. Aber all dies wird von ihren Angreifer*innen ignoriert, weil alleine schon die Kritik an Antisemitismus oder das Anerkennen eines Existenzrechts des einzigen jüdischen Staates ausreicht, um als Gegner*in markiert zu werden.
Ein beliebter Slogan der antiisraelischen Community lautet „Zionismus ist Faschismus“ – so rechtfertigen sie ihr Strafbedürfnis gegenüber zionistischen Jüdinnen*Juden oder Linken, die es wagen, auf Antisemitismus in den eigenen Reihen hinzuweisen. Dass dieser Slogan vor keiner wissenschaftlich relevanten Faschismus-Definition bestehen würde und eine gnadenlose Unwissenheit über die Geschichte des Zionismus offenbart – egal, denn es geht nicht um eine kritische und intellektuelle Auseinandersetzung mit einem der komplexesten politischen Konflikte der Welt und einem fordernden Themenfeld wie Antisemitismus, sondern darum, guten Gewissens den eigenen autoritären Gelüsten freien Lauf lassen zu können. Wer das Recht auf staatliche jüdische Souveränität automatisch als „Faschismus“ labelt, ist in der bequemen Position, sich nicht mehr mit der Geschichte der Region beschäftigen zu müssen. Es ist schließlich alles so einfach! Israel ist das in Landesgrenzen gegossene Böse, und damit automatisch jeder Widerstand gerechtfertigt – selbst wenn es sich um islamistischen, vom iranischen Mullah-Regime finanzierten Terrorismus handelt.
Generell, so der Tenor, sind die Betroffenen des Hasses israelfeindlicher Kräfte dann doch irgendwie selbst schuld an dem, was ihnen angetan wird. Weil: Würden sie sich nicht in der Öffentlichkeit gegen Antisemitismus positionieren, dann müsste sie auch niemand mit Hass und Beleidigungen überziehen. Einzelpersonen oder linke Gruppen, deren politische Wirkmächtigkeit sich im Großen und Ganzen eher in Grenzen hält, werden oftmals zu einflussreichen Akteur*innen, quasi zur rechten Hand Netanjahus überhöht. Auch als Düzen Tekkal über Monate hinweg immer wieder von Diffamierungen und Shitstorms betroffen war, rechtfertigten ihre Angreifer*innen dies damit, dass Tekkal mächtig und einflussreich sei. Diese Überhöhung des Feindbildes, um sich selbst als Underdog stilisieren zu können, ist ein integraler Bestandteil dessen, was der Soziologe Volker Weiß als „autoritäre Revolte“ bezeichnet.
Selbstreflexion? Fehlanzeige!
Israelfeindliche Linke sind nicht willens, den eigenen Antisemitismus als solchen zu erkennen und zu benennen. Denn das beißt sich ja mit dem Selbstbild als Kämpfer*innen für das Gute. Deswegen wird der projektiv aufgeladene Hass auf Israel kurzerhand als „Antizionismus“ legitimiert. Eine Auseinandersetzung mit dem Doppelstandard gegenüber dem einzig jüdischen Staat oder der Reproduktion antisemitischer Narrative im Sprechen über Israel bleibt aus. Im schlimmsten Falle endet dies sogar in einer Dialogbereitschaft mit islamistischen Kräften, bis hin zur Glorifizierung von islamistischer Gewalt wie dem Massaker des 7. Oktober.
Ein wichtiger Aspekt im Kampf gegen antisemitismuskritische Linke ist auch der Wunsch nach einer in sich reinen und geschlossenen Bewegung. „Antideutsche sind Spalter“, weil sie nicht Ruhe geben wollen, mit ihrer immerwährenden Nörgelei über Judenhass. Das ist ein jahrzehntealtes Narrativ in der linken Szenen, und auch ich habe das in jungen Jahren vertreten (an dieser Stelle möchte ich auf zwei Folgen des Podcasts „Don’t read theory“ hinweisen, die einen sehr guten Überblick über die Geschichte der antideutschen Linken geben). Um das eigene Selbstbild als aufrichtiges vorrevolutionäres Subjekt, das gerade in autoritären linken Gruppen dominiert, nicht beschmutzen zu lassen, wird jede Kritik an Antisemitismus kurzerhand zur „zionistischen Propaganda“ erklärt – das erspart die Reflektion der eigenen Vorurteile.
Wir leben in Zeiten des globalen faschistischen Backlash. Und es ist eine bewusste Entscheidung, anstatt gegen die Geflüchtetenfeindlichkeit und den Klassenkampf von oben, anstatt gegen organisierte Neonazi-Gruppen wie „Deutsche Jugend voran“, anstatt gegen die rechtsextreme Politik der AfD die eigene militante Energie gegen antisemitismuskritische Linke zu richten. Vor allem gegen Linke, die wie das ://about blank seit Jahren antifaschistische Support-Arbeit leisten. Gegen Genoss*innen wie König-Preuss, die schon genug mit Angriffen von Neonazis zu tun haben.
Es ist faszinierend und erschreckend gleichermaßen, mit welcher Empathielosigkeit, Häme und Gehässigkeit jene Menschen, die behaupten, für das gute Leben für alle eintreten zu wollen, auf andere Linke eintreten. Für Linke, die sich dieser Verrohung noch nicht hingegeben haben, ist es höchste Zeit, kritisch zu intervenieren – selbst bei inhaltlichen Differenzen mit den Betroffenen.
Denn diese unkritische Ignoranz gegenüber Affirmation oder gar Glorifizierung von Gewalt – und darunter fällt auch die Barbarei der Hamas – ist traurig und enttäuschend. Die Dehumanisierung von Feindbildern, die höhnischen Memes, die Aufforderung nach „Zios klatschen”, dies ebnet den Boden für Taten wie den Brandanschlag gegen das Bajszel, die tätlichen Angriffe gegen Journalist*innen, die kritisch über Antisemitismus berichten.
Die Suche nach Handlungsfähigkeit
Die Abwertung bis hin zur Gewalt gegenüber anderen Linken ist meiner Ansicht auch Ausdruck einer politischen Ohnmacht und Handlungsunfähigkeit mit Blick auf den Krieg im Nahen Osten. Egal was die Aktivist*innen hierzulande tun: Netanjahu und sein Kabinett werden weiterhin befehlen, den Gazastreifen bombardieren. Palästinenser*innen werden weiter hungern, weil Israel Hilfsgüter zurückhält und die Hamas Lebensmittel und Gelder hortet und ihre eigene Zivilbevölkerung als Propagandamittel im Krieg missbraucht. Immer noch vegetieren Geiseln in den Tunneln der Hamas dahin.
Aber eine „Zionistin“ beleidigen, einen Universitätshörsaal verwüsten, einen feministischen Vortrag zur sexuellen Gewalt am 7. Oktober stören? Das vermittelt ein Gefühl von zumindest irgendeiner Handlungsmacht, auch wenn es ein falsches ist. Deshalb richtet sich diese Gewalt ja auch so oft gegen Personen, Gruppen oder Institutionen, die nah und greifbar sind – an denen lässt sich der eigene frustrierte Wunsch danach, irgendwas zu tun, ablassen, und zudem mit einem autoritären Strafbedürfnis kombinieren. Die Aktivist*innen fühlen sich als Teil von etwas Großem. Das Leid der Zivilbevölkerung in Gaza wird vorgeschoben, um die eigenen autoritären Bedürfnisse zu befriedigen. Denn Angriffe gegen Einzelpersonen oder Antifa-Gruppen werden keinem durch israelische Luftangriffe verletzten Kind die Gliedmaßen zurückgeben.
Seinen vorläufigen und tragischen Höhepunkt erreichte diese antisemitische Verrohung am 22. Mai in Washington. Ein Vertreter der autoritär-sozialistischen und auch in der US-Linken umstrittenen Gruppe „Party for Socialism and Liberation“ erschoss zwei Mitarbeiter*innen der israelischen Botschaft, die gerade das Jüdische Museum verlassen hatten. Yaron Lischinski und Sarah Milgrim hatten eine Veranstaltung zur Organisation humanitärer Hilfe im Gazastreifen besucht. Als der Täter auf das frisch verlobte Paar schoss, rief er „Free Palestine”.
Neben Entsetzen findet sich in den Kommentarspalten deutscher und internationaler Medien Hass, Häme und Whataboutism: Der Anschlag sei im Vergleich zum Leid in Gaza irrelevant. Oder der Täter sei der neue Luigi Mangione, ein Held der revolutionären Bewegung.
Wenige Tage später tauchen um die Humboldt-Universität in Berlin Plakate mit dem Gesicht Lischinskis und einem roten Dreieck auf. Darüber steht „Make Zionists afraid“. Es ist ein unverhohlener Aufruf zum Mord.
Generell sprechen die Kommentare unter Artikeln oder Beiträgen, die (nicht nur linken) Antisemitismus kritisieren, eine eindeutige Sprache: immer geht es um den Nahost-Konflikt und um israelische Kriegsverbrechen. Antisemit*innen freuen sich geradezu darüber, endlich ihren Ressentiments unter dem Deckmantel der „Israelkritik“ freien Lauf lassen zu können. Eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Antisemitismus wird abgewehrt, weil Israel sei ja ein weißer Colonizer-und Apartheits-Staat, mindestens so schlimm wie das Dritte Reich! Es ist diesbezüglich auch bezeichnend, dass sich der Hass antiisraelischer linker Aktivist*innen selten gegen, sagen wir: Heckler und Koch, sondern sich regelmäßig gegen antisemitismuskritische Linke wendet. Von diesen muss nämlich niemand Repressionen oder Gewalt befürchten.
Aktivismus ohne Antisemitismus ist möglich
Es ist nicht so, als ob es keinen propalästinensischen Aktivismus gäbe, der ohne antisemitische Doppelstandards auskommt: Zum Beispiel die Organisation Cadus, die humanitäre Hilfe im Gazastreifen leistet. Die Gruppe Palestinians and Jews for Peace, die sich für einen solidarischen Dialog einsetzt. Die Bewegung Standing Together, gemeinsam gegründet von arabischen und jüdischen Israelis, die für eine Freilassung der Geiseln, gegen die eigene Regierung und die rechte Siedlerbewegung und für ein Ende des Krieges kämpft. Die Arbeit dieser Gruppen ist bewundernswert und wichtig, gerade auch als Moment der Kritik gegen antimuslimischen Rassismus innerhalb Teilen der israelsolidarischen Bewegung, die stellenweise sogar in dem ebenfalls brutal verrohten Zelebrieren rassistischer Polizeigewalt oder Ausweisungen nichtdeutscher Staatsbürger*innen mündet. Sie zeigt auf, dass Solidarität mit Palästina keinen Antisemitismus braucht. Vor allem braucht diese Solidarität keine Gewalt gegenüber antisemitismuskritischen Journalist*innen, jüdischen Aktivist*innen oder einer israelischen Sängerin.
Gerade in Zeiten wie diesen, in denen so viele Menschen einen grausamen Krieg beobachten wie ein Fußballspiel, braucht es diese um Solidarität, Empathie und Dialog bemühte Positionen statt Häme und Sadismus. Wir dürfen nicht Leid und Betroffenheit gegeneinander aufwiegen. Statt projektiv aufgeladener Feindbilder und selbstgerechter Denkfaulheit dürfen wir, gerade als Linke, nicht den Anspruch an Selbstkritik und Universalismus aufgeben. Das sind wir uns selbst und einem antifaschistischen Kampf als solchem schuldig.