Michael Kretschmer, Sachsens CDU-Ministerpräsident, stellt die Wirkung von Demokratieprojekten infrage.
(Quelle: picture alliance/dpa | Hannes P Albert)
Am 25. Mai wurde in Chemnitz das Dokumentationszentrum für die Morde der Neonaziorganisation „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) eröffnet. In einem Gebäude in der Chemnitzer Innenstadt können sich ab sofort Besucher*innen über die Taten, die Hintergründe, die Opfer sowie die Aufklärungsversuche zum NSU-Komplex informieren. Es soll ein Ort des gemeinsamen Erinnerns, Forderns und Forschens sein. Die Vereine ASA-FF, RAA Sachsen und die Initiative Offene Gesellschaft haben das Zentrum gemeinsam mit vielen Familien und Freund*innen der Opfer des NSU erdacht und gestaltet.
Die Stadt Chemnitz wurde als Ort des Zentrums gewählt, weil das Kerntrio des NSU hier 1998 untertauchen konnte und kurz darauf damit begann, seine Morde zu planen. Später hielten sich die Neonazis auch in Zwickau versteckt. Sachsen wurde deshalb jahrelanger Unterschlupf des NSU, weil hier ein dichtes Unterstützer*innenetzwerk agierte und es viel Rückhalt für rassistische und rechtsextreme Ideologie in der Bevölkerung gab. Michael Kretschmer, der amtierende sächsische Ministerpräsident, war bei der Eröffnung des Dokumentationszentrums nicht dabei, er weihte zeitgleich eine Bundesstraße ein.
Sind rechtsextreme Jugendliche durch Demokratieprojekte erreichbar?
Am gleichen Tag erschien in der ZEIT ein Interview mit dem Regierungschef zu den aktuellen rechtsextremen Umtrieben unter Jugendlichen und Heranwachsenden in Sachsen. Kretschmer bewertete in diesem Zusammenhang die Arbeit von Demokratieprojekten im Freistaat: „Viele dieser Programme sind gut gemeint, aber sie erreichen oft nicht die Menschen, um die es eigentlich geht.“ Die Projekte seien zwar „wertvoll“, fänden „aber oft keinen Zugang zu jungen Menschen mit extremistischen oder autoritätskritischen Einstellungen“. Der Ministerpräsident begründete seine These mit der Annahme, dass die Projekte zu links und zu ideologisch seien. Auf Nachfrage der ZEIT erläuterte Kretschmer, welche Ansätze wirklich helfen könnten, um die rechtsextremen Entwicklungen aufzuhalten: „In den Neunzigerjahren wurde mit Streetwork, Sportprojekten und direkter Ansprache vor Ort viel erreicht“, glaubt der Ministerpräsident.
Die Fehler der 1990er und die Folgen
Die Realität sieht allerdings anders aus. Es waren die 1990er Jahre, in denen der Neonazi-Terror des NSU vom thüringischen Jena nach Sachsen kam und über 13 Jahre unentdeckt blieb. Sowohl in der Jugend- und Sozialarbeit als auch in der polizeilichen und geheimdienstlichen Handhabe des Rechtsextremismus wurden in den 1990er Jahre viele Fehler begangen.
Das Konzept der akzeptierenden Jugendarbeit wurde damals aus Bremen in die ostdeutschen Bundesländer übertragen. Vielerorts führte das zu einem unkritischen Umgang mit rechtsextremer Jugendkultur, so dass beispielsweise Jugendklubs entstanden, die ausschließlich von Rechtsextremen besucht wurden. Solche Orte dienten der Szene jahrelang als Rückzugsorte für Neonazi-Konzerte, Vernetzungen sowie die Planung von Aktionen. Auch waren diese Orte immer wieder Ausgangspunkt für rechtsextreme Gewalt und Hetzjagden. Die Misserfolge in der Übertragung des Bremer Ansatzes in die ostdeutschen Flächenländer wird seit Langem von Expert*innen kritisch reflektiert. In der professionellen Jugendarbeit hat sich mehrheitlich die Überzeugung durchgesetzt, dass ein menschenrechtsorientierter Ansatz für die Arbeit mit extremistischen Jugendlichen unverzichtbar ist.
Die polizeiliche Strafverfolgung des Rechtsextremismus erfolgte in den 1990er Jahren bekanntlich zögerlich. Neben Ermittlungsfehlern kam es oft zu Verharmlosungen rechtsextremer Straftaten. Exemplarisch hierfür stehen die zahlreichen Ermittlungsfehler der Polizei bei der Verfolgung des NSU-Terrors. Auch die Rolle des Verfassungsschutzes wurde in den NSU-Untersuchungsausschüssen kritisch aufgearbeitet. Bis heute bestehen viele offene Fragen und nicht geklärte Vorwürfe in Bezug auf die Mitverantwortung des Geheimdienstes.
Die eigentliche Aufgabe von Demokratieprojekten
Kretschmers Kritik zeichnet ein schiefes Bild. Es ist nicht die vorrangige Aufgabe von Demokratieprojekten, extremistische Jugendliche oder Heranwachsende zu erreichen. Demokratieprojekte sollen vor allem demokratische Werte und Haltungen bei allen Menschen stärken und sie sollen besonders Menschen unterstützen, die von Rechtsextremen oder anderen Demokratiefeinden bedroht werden. Aufgabe von Demokratieprojekten ist es, für Alltagsdiskriminierungen gegenüber gesellschaftlichen Minderheiten zu sensibilisieren oder sichere Orte für Menschen zu schaffen, die von Diskriminierung betroffen sind.
Aktuell finden in vielen Städten CSD-Demonstrationen statt, die sich für Vielfalt und gegen die Diskriminierung von LGBTIQ*-Menschen aussprechen. Die rechtsextreme Szene mobilisiert dagegen und ruft zu Gewalt auf. Wenn Demokratieprojekte dazu beitragen, dass queere Menschen auch im ländlichen Raum einen Ort haben, an dem sie einigermaßen sicher leben, lieben und feiern können, haben die Projekte eine wichtige Aufgabe erfüllt. Wenn Michael Kretschmer Sinn und Zielsetzung verkürzt, beteiligt er sich an einem Framing, dass grundsätzlich die Arbeitsweise und die Legitimität von Demokratieprojekten in Frage stellt.
Lücke in der Distanzierungsarbeit mit rechtsextremen Jugendlichen
Richtig ist allerdings die Feststellung des Ministerpräsidenten, dass es ein großes Problem mit einer Vielzahl rechter oder rechtsextremer Jugendlicher und Heranwachsender an den Schulen und in der Gesellschaft gibt. Auch ist richtig, dass es noch nicht genügend pädagogische Ansätze gibt, die geeignet sind, mit diesen Zielgruppen zu arbeiten. Zwar existieren Projekte oder feste Angebote in Sachsen, beispielsweise das Projekt pro:dis des Vereins AGJF Sachsen e.V., jedoch verfügen diese nicht über ausreichend Ressourcen, um die Nachfrage zu bedienen.
Gestärkt werden müssen insbesondere Eltern, deren Kinder sich radikalisieren. Nur wenn Eltern und Schulen oder Freizeiteinrichtungen wie Sportvereine zusammenarbeiten, können wirkungsvolle Ansätze entstehen. Eine Schlüsselstelle könnte hier die Zusammenarbeit zwischen Demokratieprojekten und Erziehungs- und Beratungsstellen oder mit Elternräten in Schulen und Kindertagesstätten sein.
Auch müssen Jugendliche und Heranwachsende unterstützt werden, die andere Jugendliche aufklären wollen, beispielsweise junge Menschen in den sozialen Netzwerken, die dort Aufklärungsvideos drehen und veröffentlichen. Der Peer-to-Peer Ansatz ist vielfach in der Politischen Bildungsarbeit erprobt und funktioniert zunehmend auch in der digitalen Welt.
Ein Problem vieler Projekte ist und bleibt die kurzzeitige Finanzierung. Wirksame Ansätze müssen oftmals ausgerechnet dann eingestellt werden, wenn sie sich aus einer Projekt-und Probierphase zu einem Regelangebot weiterentwickeln. Die Staatsregierung müsste exakt hierfür Rahmenbedingungen schaffen, dass erfolgreiche Ansätze übertragen und dauerhaft gefestigt werden. Hierfür dürfte es aber keine Kürzungen in den Bereichen, sondern ein Ausbau der Finanzmittel geben.
Einen ehrlichen und offenen Dialog beginnen
Die Äußerungen des sächsischen Ministerpräsidenten verdeutlichen einmal mehr, wie wichtig ein regelmäßiger Dialog zwischen der sächsischen Staatsregierung und der Zivilgesellschaft ist. Auch der Ministerpräsident sollte mehr zuhören, welchen wichtigen Beitrag Tausende von Menschen Jahr für Jahr in Sachsen leisten und welche Ressourcen nötig sind, damit der gesellschaftliche Zusammenhalt weiter gelingt. Das Erstarken der rechtsextremen Milieus und insbesondere rechtsextremer Jugendgruppen sollte für Michael Kretschmer Anlass sein, einen solchen Dialog zur Chefsache zu machen.