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Sexualisierte Gewalt gegen Kinder: „Der Gesamtüberblick fehlt komplett“

Dieser Artikel stammt von Netzpolitik.org.Der Autor ist…
Wie hat das Internet sexualisierte Gewalt verändert? Was hilft dabei, Kinder zu schützen? Und was sind nur Scheinlösungen? Ein Interview mit Daniel Moßbrucker.
Wir sehen immer nur Ausschnitte des Problems. – Gemeinfrei-ähnlich freigegeben durch unsplash.com Josh NuttalMonatelang hat der Journalist Daniel Moßbrucker mit einem Recherche-Team des Panorama-Magazins (ARD) und STRG_F (NDR/funk) recherchiert, wie Alltagsfotos von Kindern in Foren für Pädokriminelle landen. Nach dieser Recherche machte er weiter. Im September hat er ein Buch veröffentlicht – „Direkt vor unseren Augen: Wie Pädokriminelle im Internet vorgehen – und wie wir Kinder davor schützen“.
Wir haben mit Moßbrucker darüber gesprochen, welche verschiedenen Bereiche zu sexualisierter Gewalt im Netz gehören, warum die politische Diskussion oft zu kurz greift und was uns beim Überblick über die Probleme fehlt.

netzpolitik.org: Was hat dich dazu bewegt, ein Buch zu so einem schwierigen Thema zu schreiben?
Daniel Moßbrucker: Ich habe über Darknet-Foren für Pädokriminelle recherchiert und währenddessen gedacht: „Wahnsinn, Du lernst gerade so viel über eine ganz andere, parallele Welt.“ Aus guten Gründen ist diese Parallelwelt für die Mehrheit der Menschen komplett unbekannt. Wir wollen da gar nicht sein und wir dürfen das auch nicht. Aber in einem journalistischen Beitrag, den man daraus am Ende macht, kann man nur einen Teil des Ganzen erklären.
Ich habe zunehmend verstanden, wie diese ganzen Mechanismen funktionieren, die Denkweisen, wie in dieser Szene das Darknet mit dem Clearweb zusammenhängt. Das mal ausführlicher zu schildern, fand ich wichtig, weil es häufig Thema in politischen Diskussionen ist. Aber auch, weil bei Menschen, die sich nicht täglich mit Pädokriminalität befassen, natürlich Fragen auftauchen. Zum Beispiel: Welche Fotos kann ich eigentlich von meinen Kindern bei WhatsApp teilen?
Und dann meldete sich auch eine Buchagentin, nachdem wir unsere Recherche veröffentlicht hatten. Da dachte ich: Wenn ich denke, dazu könnte man ein Buch schreiben, und eine Agentin sich meldet, dann passt das ja.
Im Darknet zeigt sich nur ein kleiner Teil des Ganzen
netzpolitik.org: Du hast zwar mit den Recherchen zu Pädokriminalität im Darknet angefangen, aber in deinem Buch geht es ja um noch viel mehr. Was gehört eigentlich dazu, wenn wir von sexualisierter Gewalt gegen Kinder im Netz reden?
Daniel Moßbrucker: Das, was ich im Darknet recherchiert habe, ist sozusagen der krasseste Teil des Ganzen. Da trifft sich – in Anführungszeichen – die Elite der Pädokriminellen, die auch technisch sehr versiert ist. Das ist aber nur ein kleiner Teil des Ganzen, wie im Analogen. Da haben wir beim Thema sexualisierter Gewalt gegen Kinder oft ein Bild von einem Mann vor Augen, der irgendwo im Gebüsch hockt und dann ein Kind vom Fahrrad reißt, verschleppt und missbraucht. Das ist eine Schreckensvorstellung und es gab ein paar solcher Kriminalfälle. Es sind aber eher Ausnahmen im Promillebereich.
Ich habe für das Buch viel mit Leuten gesprochen, die mit Betroffenen von sexualisierter Gewalt zusammenarbeiten. Und interessanterweise kann man sagen, dass sexualisierte Gewalt an Kindern durch die Digitalisierung eigentlich in allen Bereichen, die es vorher schon gab, an Dynamik gewonnen hat. Ein Bereich sind etwa ganz klassische Anbahnungsversuche von Erwachsenen an Kinder.
Der „Normalfall“ von sexualisierter Gewalt passiert im sogenannten Nahbereich: in der eigenen Familie, im eigenen Freundeskreis, der Familie, in der Nachbarschaft, im Sportverein, in der Schule, in den Kindertagesstätten. Überall dort, wo Erwachsene sehr intensiv ein Vertrauensverhältnis mit den Kindern aufbauen können.
netzpolitik.org: Wie hat Digitalisierung dort das Problem verändert?
Daniel Moßbrucker: Smartphones haben es den Tätern und Täterinnen sehr viel einfacher gemacht, Machtbeziehungen weiter zu festigen, die es immer schon gab und immer auch geben wird.
Der Sozialarbeiter Lukas Weber hat das im Buch sehr schön beschrieben. Es war immer schon schwierig für Kinder, die von sexualisierter Gewalt betroffen sind, davon loszukommen und abzuschalten. Aber ohne Smartphone oder WhatsApp war es noch möglich – nach dem Sportunterricht war da der Täter ja erst mal weg bis zum nächsten Trainingslager oder zum nächsten Wettkampf.
Sexualisierte Gewalt an Kindern hat viele Formen
Heute schreibt er dann nach dem Training vielleicht: „Du siehst so toll aus, wenn wenn du diese Übung machst. Ich freue mich schon auf das nächste Mal.“ Und wenn das Kind nicht reagiert hat bis zum Morgen, wird geschrieben: „Warum antwortest du mir denn nicht? Magst du mich nicht mehr?“ Es hat keine Ruhe mehr.
Die digitale Dimension baut darauf auf, was im Analogen passiert: Egal ob es um physische Übergriffe geht oder das Verschicken von anzüglichen Fotos, das Kommentieren von Äußerlichkeiten an Kindern und anderes. All das ist sexualisierte Gewalt an Kindern.
netzpolitik.org: Gibt es in der digitalen Welt auch neue Phänomene, die es vorher nicht gab?
Daniel Moßbrucker: Was heutzutage noch dazukommt und wo die Kinder vielleicht sogar gar nichts mehr davon mitbekommen: Wenn sie oder die Eltern Fotos verschicken, die dann von Pädokriminellen kopiert werden. Das sind häufig sehr harmlose Bilder, die dann wiederum aber in Foren von Pädokriminellen kommentiert werden.
Und dann gibt es den großen Bereich des Cyber-Grooming, also wo Kinder etwa in Computerspielen von Unbekannten in Chats verwickelt werden. Auch dort geht es meistens darum, dass die Kinder am Ende Aufnahmen von sich machen sollen. All das wird subsumiert unter diesem großen Begriff der sexualisierten Gewalt an Kindern.
netzpolitik.org: Wie gut ist denn der Überblick, wie groß die Probleme sind? Kann man diese verschiedenen Bereiche überhaupt beziffern?
Daniel Moßbrucker: Aus meiner Sicht kann man das nicht und das ist eines der größten Probleme in dieser Diskussion. Vor allem die politische Diskussion lebt von Schreckenszahlen. Das sage ich nicht, um irgendwas zu verharmlosen. Während der Recherche für das Buch habe ich herausgefunden, dass ab Mitte der 2000er immer neue Zahlen herausgegeben wurden. Was davon hängen blieb: Das Problem ist ganz, ganz groß.
Nur singuläre Zahlen
Diese Zahlen waren aber immer singulär: Mal sagt Interpol, so viele 100 oder 1.000 Kinder haben wir gerettet. Eine andere NGO sagt, so viele Bilder sind im Umlauf. Dann sagt eine Polizeibehörde, so viele Webseiten wurden abgeschaltet. Aber der Gesamtüberblick, der fehlt komplett. Ich wage die These, dass niemand auf dieser Welt weiß, wie groß die Dimensionen sind.
Ich bin mir mittlerweile relativ sicher, dass rein quantitativ die Zahl der Personen, die in den Darknet-Foren regelmäßig aktiv sind, am geringsten ist. Das hat vor allen Dingen den Grund, dass es natürlich eine technische Hürde ist, da reinzukommen. Es ist auch nicht ganz einfach, sich dort einzunisten. Ich habe mittlerweile mit mehreren Betreibern solcher Foren anonym gechattet und gehe von wenigen 10.000 Menschen aus, die solche Foren regelmäßig aufsuchen.
Das sind ganz andere Dimensionen als beim Cybergrooming. Da gibt es viel mehr Täterinnen und Täter, weil es einfacher ist. Da gibt es mehr betroffene Kinder, da gibt es mehr Menschen, die in Online-Games unterwegs sind. Wir konnten auch näherungsweise durch unsere Recherchen ermitteln, wie viele Fotos kopiert und woanders veröffentlicht werden. Dort reden wir vermutlich über eine Anzahl von Fotos im hohen einstelligen Millionenbereich, die so zirkulieren.
Aus meiner Sicht ist es aber unmöglich, sexualisierte Gewalt im Netz vollständig zu beziffern. Wichtig ist mir aber: Wir dürfen nicht vergessen, dass gerade der physische Missbrauch von Kindern häufig ohne digitale Spuren praktiziert wird, wenn es beispielsweise in der eigenen Familie passiert.
netzpolitik.org: Politische Forderungen zu dem Thema drehen sich oft um Repression und neue Ermittlungsbefugnisse. Aber welche Möglichkeiten gibt es denn schon heute?
Daniel Moßbrucker: Was funktioniert, ist der Ansatz „Löschen statt sperren“. Das bedeutet: Wenn du zum Beispiel bei Instagram ein Bild siehst und denkst, das kann nicht legal sein, dann kannst du das melden. Zum Beispiel bei Jugendschutz.net, eco, FSM und oder direkt bei jeder Polizeibehörde inklusive dem BKA. Und dann gibt es beim BKA eine Einheit, die die Provider anschreibt und sagt: „Hey, das ist illegal, nehmt das aus dem Netz.“ Dafür gibt es Personal und die Sachen verschwinden meist schnell. Das läuft gut.
Ermittlungserfolge für die Abschreckung
Was nicht so gut läuft: Dieses Löschen konzentriert sich nur auf Inhalte, die im Clearweb verbreitet werden. In Darknet-Foren werden auch viele Links zu Hosting-Anbietern im Clearweb geteilt. Die könnte man auch löschen lassen, das passiert aber nicht konsequent.
Man muss auch anerkennen, dass gerade das deutsche BKA einige Erfolge hatte, Täter zu ermitteln. Solche Erfolge sind vor allem zur Abschreckung wichtig. Ein richtiger Schlag gegen die Szene ist es aber nicht, denn es dauert oft nur wenige Wochen, bis ein Nachfolge-Forum da ist. Mit den identischen Inhalten – nur von anderen Leuten betrieben. Das heißt, der Effekt dort ist nicht sehr nachhaltig.
netzpolitik.org: Was kann man außerhalb der Strafverfolgungsbehörden tun?
Daniel Moßbrucker: Die politischen Diskussionen haben sich vor allem auf repressive Maßnahmen konzentriert. Im Bereich der Prävention gibt es weniger Interesse, dazu zählt zum Beispiel die personelle und finanzielle Ausstattung von Beratungs- und Aufklärungsstellen. Ich habe mit vielen dieser Beratungsstellen gesprochen und alle klagen darüber, dass sie jedes Jahr erneut Anträge schreiben und um Stellen kämpfen müssen. Sie sind extrem abhängig von staatlichen Geldern und es gibt ein wahnsinniges Kompetenzwirrwarr, sodass Expertinnen und Experten teilweise nicht den Überblick haben, in welchem Bundesland jetzt wer zuständig ist. Und am Ende ist gar keiner zuständig.
Wir fragen zu wenig, wie wir Betroffenen von sexueller Gewalt helfen können und wie die Jugendämter ausgestattet sind. Wo man meiner Meinung nach am meisten ansetzen müsste, ist die Frage der sogenannten Schutzkonzepte.
Rund drei Viertel der Taten passieren im sogenannten sozialen Nahfeld. Das heißt: Institutionen wie Schulen, Kindergärten und Sportvereine müssen ein Schutzkonzept gegen sexuelle Gewalt entwickeln. Es gibt Mechanismen, wie man eine Institution strukturell so umbauen kann, dass es sehr viel unwahrscheinlicher wird, dass es zu einem Ausnutzen von Vertrauensverhältnissen zwischen Kindern und Erwachsenen kommt. Zum Beispiel, dass nicht drei Jahre lang nur ein einziger Erwachsener im Verein mit einem Kind zu tun hat.
Es gibt zu wenig Schutzkonzepte
Bis zum heutigen Tag haben gerade einmal fünf Bundesländer diese Schutzkonzepte an Schulen für verpflichtend erklärt, nämlich in Berlin, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein. Aber das heißt längst nicht, dass jede Schule dort wirklich eines hat. Dabei wäre das wahnsinnig wichtig und würde wahrscheinlich signifikant mehr bringen in der Prävention und in der Verhinderung von Taten als manche digitale Ermittlungsmaßnahme.
Es bringt aber auch nichts, Prävention gegen Repression auszuspielen. Es ist ja auch völlig nachvollziehbar, dass der Staat sagt: Das sind schwere Straftaten. Wir müssen immer wachsam sein, ob unsere Strafverfolgungsbehörden noch in der Lage sind, diese Kriminalität wirksam zu bekämpfen. Aber auch dort ist dann eben die Frage: Was brauchen wir wirklich?
netzpolitik.org: Was denkst du zu den aktuellen Forderungen rund um Vorratsdatenspeicherung und Chatkontrolle?
Daniel Moßbrucker: Ich will gar nicht sagen, dass zum Beispiel eine Vorratsdatenspeicherung gar nichts bringt. Wenn der Staat auf deutlich mehr Daten zugreifen kann, wird er auch wahrscheinlich mehr Treffer haben. Die Frage ist nur: Wie steht das im Verhältnis zu dem Eingriff und können wir damit rechnen, dass sich diese Szene dem anpasst? Und ich glaube, das wird sie tun. Das hat sie bisher immer getan.
Wenn es eine Vorratsdatenspeicherung geben würde, würden auch die letzten Pädokriminellen, die jetzt noch ohne Anonymisierungswerkzeuge im Netz sind, umsteigen. Es gibt schon jetzt sehr viele Hinweise für Ermittlungsbehörden, aber oft bleiben etwa beschlagnahmte Handys mehrere Monate bei der Polizei liegen, ohne dass sie ausgewertet werden. Personalmangel in den Behörden ist ein wichtiges Thema. Und mit mehr Ermittlungsbefugnissen gäbe es noch mehr Daten, die man auswerten müsste.
Der politische Diskurs ist verkürzt
Ein Staatsanwalt, der nicht namentlich genannt werden wollte, hat es auf den Punkt gebracht. Er hat gesagt, dass eine Vorratsdatenspeicherung schon helfen könnte. Aber er jetzt schon Angst vor dem Tag hat, wo es diese ganzen Daten gibt, weil die Behörden damit personell völlig überfordert wären. Das hört man in der Diskussion aber nur selten. So funktioniert Politik: scheinbar einfache Lösungen für komplexe Probleme.
Mich stört vor allem, dass der politischen Diskussion einfach nichts anderes einfällt als immer wieder diese Dauerbrenner aus der Schublade zu holen und damit ja auch wahnsinnig viel politischen Diskurszeit aufzubrauchen, in der man eigentlich auch andere Dinge diskutieren könnte und sollte. Die Chatkontrolle ist dafür das jüngste Beispiel.
Maßnahmen wie ein Schutzkonzept zu erarbeiten, braucht natürlich viele Ressourcen. Das ist teuer, das wollen sich viele politische Verantwortliche schlichtweg nicht leisten und setzen andere Prioritäten. Und deswegen wird der politische Diskurs auf diese repressiven Maßnahmen verkürzt. Und das ist, glaube ich, der Kern des Problems.

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Author: Anna Biselli

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