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Thüringen: Der Damm ist längst gebrochen

Dieser Tage ist so oft die Rede von Tabubrüchen, dass man gar nicht mehr sicher ist, ob es sich überhaupt noch um Tabubrüche handelt. Wann ist die Normalisierung weit genug fortgeschritten? Es fühlt sich an, als hätte sich diesen Sommer etwas in diesem Land existentiell verschoben, als wären rote Linien neu gezogen worden, die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs eigentlich als gegeben galten.

In Thüringen hat die Opposition, bestehend aus CDU und FDP, gemeinsam mit der AfD mit 46 zu 42 Stimmen eine umfangreiche Senkung der Grunderwerbssteuer von 6,5 auf 5 Prozent durchgesetzt – gegen die Minderheitsregierung von Linken, SPD und Grünen. Nach Schätzungen von Finanzexperten bedeutet das einen Einnahmeverlust von 48 Millionen Euro pro Jahr für das Land Thüringen. Es ist das erste Mal, dass die AfD so erheblichen Einfluss auf den Landeshaushalt nehmen kann und Landespolitik aktiv mitgestaltet.

„Pakt mit dem Teufel“

Die Rot-Rot-Grüne Minderheitsregierung ist entsetzt, Ministerpräsident Bodo Ramelow von der Linkspartei sprach „von einem Pakt mit dem Teufel“. Aber von der Bundes-CDU-Spitze kommt Unterstützung für den Thüringer Verband: CDU-Chef Merz verteidigte am Abend vor der Abstimmung das, was bereits absehbar war – dass seine Partei mit der AfD abstimmen würde: „Wir machen das, was wir in den Landtagen wie auch im Deutschen Bundestag diskutieren, nicht von anderen Fraktionen abhängig“, sagte Merz bei RTL und verwies darauf, dass es keine Absprachen mit der AfD gegeben habe. Und auch CDU-Generalsekretär Linnemann verteidigt die Thüringer CDU, man dürfe sich nicht an „anderen Fraktionen“ orientieren. Kritik an der gemeinsamen Abstimmung mit einer offen rechtsextremen Partei nannte er „taktisches Geplänkel“.

Wenn man also nur zufällig mit Faschisten einer Meinung ist, kann man nach dieser Logik alle möglichen Gesetzesvorhaben mit ihrer Unterstützung durchdrücken. Es ist eine Vorschau auf die Möglichkeit schwarz-blauer Zusammenarbeit, die vor ein paar Jahren noch ein Ding der Unmöglichkeit schien. 2021 hatte Merz noch verkündet, dass auf Zusammenarbeit mit der AfD ein Parteiausschlussverfahren folgen müsse. Solcherlei Gewissensanwandlungen plagen Merz heute offenkundig nicht mehr – denn der Thüringer CDU-Chef Voigt hatte den Parteichef vorher über die Abstimmung informiert und von Merz Rückendeckung zugesichert bekommen.

Was will man schon machen – etwa nicht mit Rechtsextremen abstimmen?!

2020 hatte die CDU-Politikerin und Bildungsministerin von Schleswig-Holstein, Karin Prien, den damaligen Thüringer FDP-Chef Kemmerich scharf kritisiert, als dieser sich mit AfD-Stimmen zum Ministerpräsidenten wählen ließ: „Um Schaden von unserem Land und unserer Partei @CDU abzuhalten, müssen diejenigen, die dieses Desaster in Thüringen heute angerichtet haben, jetzt Verantwortung übernehmen und den Weg freimachen für einen Neuanfang.“ Jetzt verteidigte sie, die dem liberalen Flügel der Union zugerechnet wird, die Thüringer CDU – es sei „fast schon infam“, der Partei eine Nähe zur AfD zu unterstellen, klagte sie im Deutschlandfunk.

„Die CDU muss ihr Ding machen“, sagte die CDU-Vizechefin: „Das ist alles sehr unglücklich.“ „Ihr Ding“, das scheint momentan vor allem darin zu bestehen, die AfD noch salonfähiger zu machen, als sie es ohnehin schon ist – und ihr weiter Zulauf zu verschaffen. Schade, dumm gelaufen – was will man schon machen – etwa nicht mit Rechtsextremen abstimmen?

Zudem handelte es sich bei dem CDU-Antrag um eine leicht abgewandelte Variante eines Schriftstücks, das die AfD vorher vorgelegt hatte. Die AfD-Zustimmung war also nicht nur nicht überraschend – sie war von Beginn an einkalkuliert.

Kritik auch aus der Union und der FDP

Der Schleswig-Holsteinische Ministerpräsident Daniel Günther (CDU) kritisierte das Vorgehen der Christdemokraten in Thüringen: „Das war (…) ein schwerer Fehler“, sagte er. „Wir Demokraten haben eine gemeinsame Verantwortung, der AfD entgegenzutreten. Das erfordert eine CDU mit einer unverrückbaren Haltung: Es gibt mit unseren Stimmen keine Mehrheit, die auf die Stimmen der AfD angewiesen ist.“ Davon ist in Thüringen – und der Bundes-Parteispitze – nichts zu spüren. 

Auch in der FDP gibt es scharfe Kritik aus den eigenen Reihen: Die Vorsitzende der Jungen Liberalen, Franziska Brandmann, kritisierte die Thüringer FDP und die CDU in der ARD: „Rechtsextreme Parteien dürfen nicht normalisiert werden. Und um das zu verhindern, muss immer klar sein: Bürgerliche Politik muss ohne die AfD gemacht werden. Punkt“, sagte Brandmann und fügte im Hinblick auf die Gesetzesinitiative zur Senkung der Grunderwerbssteuer der CDU hinzu:

„Es verbietet sich für aufrechte Demokraten, politische Initiativen zu starten, deren Gelingen von der Unterstützung durch Rechtsextreme abhängig ist.“

Von „Brandmauer“ kann hier wirklich niemand mehr reden

Besonders auffällig war zunächst das Schweigen vieler Bundespolitiker*innen der FDP, die sonst auf Twitter das politische Tagesgeschehen live kommentieren. Der FDP-Vorsitzende und Finanzminister Christian Lindner schob derweil der CDU den Sündenbock für Thüringen zu: Es handle sich zwar um „kein gutes Signal“, aber „jetzt wollen wir Ursache und Wirkung nicht verwechseln. Es war ein Antrag der CDU-Landtagsfraktion“, sagte Lindner in Bezug auf das Abstimmungsverhalten seiner Partei in Thüringen. „Deshalb ist das jetzt die Verantwortung der CDU“ – als wären FDP-Abgeordnete hilflos und könnten einem leckeren Paket aus Steuersenkungen einfach nicht widerstehen, selbst wenn es nur mit Unterstützung von Rechtsextremen realisierbar ist. Von „Brandmauer“ kann hier wirklich niemand mehr reden.

Die Europa-Spitzenkandidatin der Liberalen, Marie Agnes Strack-Zimmermann, fand deutliche Worte: „Die FDP-Spitze ist sich einig, dass, solange die FDP in Thüringen ›den Kemmerich macht‹, es keinerlei Unterstützung der Bundespartei gibt“, sagte sie – ein Verweis auf den Thüringer FDP-Chef, der dank Höckes AfD (zumindest für ein paar Tage, bevor er zurücktrat) 2020 zum Ministerpräsidenten gewählt wurde, und von Höcke danach per Handschlag Glückwünsche annahm. Man wünscht sich, der eigene Parteivorsitzende würde ihr zuhören.

„Das heißt nicht Brandmauer, sondern das heißt Zusammenarbeit“

Die AfD in Thüringen wird vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem beobachtet – wegen rechtsextremistischer Umtriebe. Ihr Vorsitzender, Björn Höcke, führt den völkischen „Flügel“ der AfD an, der zwar offiziell aufgelöst ist, aber dessen Vertreter*innen nach wie vor großen Einfluss in der Partei haben. Höcke steht übrigens gerade vor Gericht – ihm wird Volksverhetzung vorgeworfen. Am 29. Mai 2021 verkündete der Mann, den man per Gerichtsurteil einen Faschisten nennen darf, bei einer AfD-Wahlkampfveranstaltung in Merseburg: „Alles für unsere Heimat, alles für Sachsen-Anhalt, alles für Deutschland.“ „Alles für Deutschland“ war die Lösung der nationalsozialistischen Sturmabteilung (SA) – ihre Verwendung ist in Deutschland verboten. Als (nach wie vor verbeamteter) Geschichtslehrer im Land Hessen dürfte sich Höcke dessen bewusst sein. Höcke zeigte sich hocherfreut darüber, dass die „die CDU heute den Mut aufgebracht hat“, den Gesetzentwurf „durchzuhalten“.

Wolfgang Schröder, Politologie der Universität Kassel, sieht in dem Vorgang in Thüringen eine Vorschau für die Landtagswahl 2024 und fasst zusammen: „Das heißt nicht Brandmauer, sondern das heißt Zusammenarbeit“, sagte er dem NDR. Die Verteidigung des Abstimmungsverhaltens von CDU und FDP hält der Politikwissenschaftler für nicht haltbar:

„Der Bezug auf die Sachpolitik, die in den Verteidigungsreden des gestrigen Abends zu vernehmen war, ist nicht glaubwürdig vor dem Hintergrund dieser riesigen Herausforderung, die mit der rechtsextremen Partei AfD und deren Rolle bei der zukünftigen Regierungsbildung in Thüringen verbunden ist.“

Gewaltiger Unterschied zwischen „mitstimmen“ und „mitbestimmen“

CDU-Politiker*innen beklagen derweil eine „Doppelmoral“ bei der Minderheitsregierung – die hätte schließlich auch schon Anträge mit Stimmen der AfD durchbekommen. Der Vergleich hinkt jedoch – damals habe es sich um eine Verfahrensfrage gehandelt, erklärt der Politologe Schröder im NDR, nicht um eine so einschneidende Veränderung in der Landespolitik, die der AfD aktive Gestaltungsmacht und Legitimation gebe. Bei der angesprochenen Abstimmung seien die Stimmen der AfD zudem nicht entscheidend für die Mehrheit gewesen. Der Unterschied zwischen „mitstimmen“ und „mitbestimmen“ sei ein gewaltiger – denn jetzt, so schreibt es Ann-Katrin Müller im „Spiegel“, könne die AfD zu Recht behaupten, dass sie „Häuslebauern“ geholfen habe, weniger Geld für den Eigenheimbau ausgeben zu müssen – Wasser auf die rechtsextremen Mühlen. Und die Verantwortung dafür tragen allein CDU und FDP. 

Grafik via Monitor

Es ist eine beängstigende Vorschau für die nächsten Landtagswahlen – denn immer stärker scheint sich herauszukristallisieren: Sobald die Prozentzahlen stimmen, ist zumindest die CDU (und in Teilen die FDP) bereit, mit der AfD gemeinsame Sache zu machen. Damit man nachts besser schlafen kann, werden Strohmann-Argumente bedient wie „Aber was, wenn eine Kita nur mit Stimmen der AfD gebaut werden kann?“ und Verweise auf „Sachpolitik“ aus der Mottenkiste gekramt – während man gemütlich Rechtsextreme immer weiter legitimiert.

Die Folgen für die Demokratie sind katastrophal: In Umfragen liegt die AfD in Brandenburg in dieser Woche erstmals mit 32 Prozent als stärkste Partei vorne. Alice Weidel frohlockt derweil auf Twitter: „#Merz‘ Brandmauer ist Geschichte – und Thüringen erst der Anfang. Es wird Zeit, dem demokratischen Willen der Bürger überall in Deutschland zu entsprechen.“ Was weder Merz noch Lindner einsehen wollen: Eine Mehrheit, die nur mit der AfD, einer rechtsextremen Partei möglich ist, ist keine demokratische Mehrheit. 

Artikelbild: Martin Schutt/dpa

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