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Vorratsdatenspeicherung: Wenn die Abwehrfront bröckelt

Dieser Artikel stammt von Netzpolitik.org.

Als letzte Woche ein weiteres Urteil des Europäischen Gerichtshofs zur Frage der Vorratsdatenspeicherung verkündet wurde, war die Aufregung groß. EU-Staaten dürfen Providern nun eine Pflicht zur allgemeinen und unterschiedslosen Vorratsspeicherung von IP-Adressen auferlegen, wenn diese Speicherung keine genauen Schlüsse auf das Privatleben der betroffenen Person erlaubt.

Der Zugriff auf IP-Adressen ist seither auch weniger geschützt. Unter bestimmten Bedingungen ist bereits die Verfolgung von Filesharing über IP-Adressen möglich, um die es in dem französischen Hadopi-Fall ging. Die Behörde Hadopi spricht bei den ersten beiden Verstößen an Filesharer eine Warnung aus. Dafür muss Hadopi sie aber zuvor finden: Die französische Regierung erlaubt daher, die Identitätsdaten der Filesharer über deren IP-Adressen von Providern abzufragen.

Nachdem sich die erste Aufregung gelegt hat, lohnt sich ein weiteres Nachdenken über die Entscheidung, vor allem mit dem Blickwinkel auf die scheinbar unendliche deutsche Debatte um die anlasslose Massenüberwachung. Die Erosion der Rechtsprechung des EuGH war für viele Beobachter leider absehbar, auch wenn nicht wenige auf die Standfestigkeit in Fragen der Ablehnung einer verdachtslosen Telekommunikationsdatensammlung gehofft hatten.

Das absolut Notwendige

Matthias Bäcker, Professor für Öffentliches Recht an der Universität Mainz und Prozessbevollmächtigter der SpaceNet AG, die mit einer EuGH-Entscheidung erfolgreich die Vorratsdatenspeicherung in Deutschland stoppen konnte, bewertet die Entscheidung gelassen: Der EuGH hätte zwar nun „noch eine weitere Schippe draufgelegt“, da jetzt die Begrenzung auf schwere Kriminalität nicht mehr gelte, aber seit dem Jahr 2020 sei bereits ein Prozess des Zurückruderns zu beobachten gewesen.

Das EuGH-Urteil aus dem Jahr 2016 war das radikalste und erklärte eine anlasslose Vorratsdatenspeicherung für unvereinbar mit dem Unionsrecht. Auch in den beiden EuGH-Urteilen des Jahres 2020 hielt das Gericht an seiner Linie fest, dass weiterhin für Telekommunikationsanbieter im Grundsatz die allgemeine und unterschiedslose Speicherungs- bzw. Weiterleitungspflicht von Verkehrs- und Standortdaten nicht mit dem Unionsrecht vereinbar sei. Denn ein solcher Eingriff in die entsprechenden Grundrechte beschränke sich eben nicht auf das absolut Notwendige.

Bei der Speicherung von IP-Adressen ließ der EuGH aber bereits 2020 Ausnahmen zu und bewertet sie als weniger intensive Grundrechtsbeeinträchtigung. Denn eine IP-Adresse ließe weniger Aufschluss darüber zu, wer mit einem Betroffenen kommuniziere, und sei als geringere Gefahr für eine umfassende Profilierung von Nutzerinnen und Nutzern anzusehen.

Doch der politische Druck ließ nicht nach, und beim Luxemburger Höchstgericht bröckelte die Abwehrfront. Denn es kamen auch nach dem Urteil weitere Versuche nationaler europäischer Gesetzgeber hinzu, um alle Kommunikationsdaten noch anlasslos festzuhalten, die vielleicht gerade noch möglich erscheinen. Letztlich hat der EuGH bei den IP-Adressen nun dem hohen Druck wieder etwas nachgegeben.

Eigentor für den EuGH

Bäcker beschreibt den nicht nachlassenden politischen Druck, den er auch als Prozessbevollmächtigter in Luxemburg deutlich verspürt habe. Die ergangenen EuGH-Urteile seien in Deutschland breit diskutiert worden, hätten in anderen Staaten der EU jedoch weit weniger Akzeptanz gefunden. Generell sei die Akzeptanz der EuGH-Urteile anderswo in Europa geringer als in Deutschland, das mit dem Bundesverfassungsgericht ein angesehenes Höchstgericht hat, dessen Vorgaben hohen Respekt genießen. Eine solche Institution fehlt in einigen EU-Staaten oder ihr wird in der gesellschaftlichen Debatte weniger Bedeutung eingeräumt. Damit verändert sich auch der politische Umgang mit EuGH-Urteilen. Die Mehrzahl der Regierungen der EU-Staaten wollen zudem mindestens die anlasslose Speicherung der IP-Adressen.

Das neue Urteil versucht, Begrenzungen einzubauen und vor allem einer Profilierung des Surfverhaltens vorzubeugen. Inhaltlich überzeugen können diese Begrenzungen den Juristen Bäcker indes nicht. Die Beschränkungen der Nutzung der IP-Adressen sei vielleicht für die Hadopi-Stufen möglich, aber sonst nur schwer vorstellbar. Etwa beim Zugriff in Strafverfahren wäre nicht klar, wie eine Profilierung der Betroffenen vermieden werden solle.

Doch welches problematische Signal setzt das Hohe Gericht, wenn es seine eigene Rechtsprechung in kleinen Schritten aufweicht? Da wäre einmal die Wirkung nach innen, also eine Botschaft an die EU-Staaten, dass ein jahrelanges Trommelfeuer gegen Grundrechte auch Erfolge nach sich zieht, dass rote Linien des Gerichts nicht wirklich rote Linien sind. Denn ein Zurückrudern hinter eigens festgeschriebene Grenzen ist das neue Urteil in jedem Fall, mögen sie auch weniger signifikant sein als zunächst befürchtet.

Das könnte zum Eigentor für den EuGH werden, der seine Autorität aus seinem kontinuierlichen Eintreten für die Grundrechte zieht. Für das Nicht-EU-Ausland, vor allem in Staaten, deren Menschenrechtslage problematisch ist, erscheint das Zurückweichen vor dem Überwachungsdruck und das schrittweise Zulassen anlassloser massenhafter Datenberge wie ein Menetekel: Wenn auch in der EU der Massenüberwachung immer weniger Einhalt geboten wird, macht das den Kampf anderswo auf der Welt nur noch schwerer.

Diesmal hat das Plenum aller Richter entschieden. Offensichtlich kam keine Einigung in der Großen Kammer zustande, so dass eine Plenarentscheidung her musste. An ihr dürfte nun allerdings eine Weile festgehalten werden, auch weil das aktuelle Urteil das letzte in absehbarer Zeit sein wird. Neue Entscheidungen stehen in Luxemburg erstmal nicht an.

Insofern bleibt ein Grund zur Freude für alle, denen die Grundrechte am Herzen liegen: Die Standortdaten und auch die Metadaten der Kommunikation bleiben vor anlassloser Massenüberwachung fürs Erste geschützt, Kontakt- und Bewegungsprofile aller Menschen anhand von Kommunikationsdaten soll es eigentlich in der EU nicht geben. Denn in der Frage, ob eine anlasslose Massenüberwachung der Kommunikationsdaten der gesamten Bevölkerung mit den Grundrechten vereinbar ist, hat sich nichts geändert, auch wenn einige EU-Staaten versuchen, die bestehenden EuGH-Urteile zu umgehen. Die Antwort auf die Frage lautet weiterhin im Grundsatz nein.

Kein Appetit auf noch eine blutige Nase

Vorratsdatenspeicherung in Deutschland nicht abgeschafft

Das Urteil könnte für die deutsche Debatte dennoch bedenkliche Folgen haben und die Streitigkeiten in der Ampel vertiefen. Wer hierzulande nicht mehr durchblickt: Der aktuelle Stand in der bundesdeutschen Debatte ist eine Art Stellungskrieg – keiner bewegt sich. Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) hatte zwar verkündet, dass sich die Bundesregierung auf das Quick-Freeze-Verfahren geeinigt hätte, das grundrechtsschonender ist. Für „Quick Freeze statt anlassloser Vorratsdatenspeicherung“ hätte der Minister „seit vielen Monaten gekämpft“ und sei nun erfolgreich gewesen.

Aber das scheint alles Ansichtssache. Denn auf den Fuß folgte eine Erklärung des SPD-geführten Innenministeriums (BMI), die eine anlasslose Vorratsdatenspeicherung von IP-Adressen fordert, als hätte es Buschmanns Ankündigung der Einigung nie gegeben. Das BMI stellte seine Sicht dar: Die Einigung „beinhaltet ausdrücklich keine Vereinbarung darüber, ob und wie IP-Adressen künftig gespeichert werden“. Diese Frage werde explizit ausgeklammert. „Anders als der erste Entwurf des BMJ, der eine Abschaffung dieser Regelung vorsah, soll der künftige Entwurf, so wie wir die Verständigung innerhalb der Koalition verstehen, eine solche Regelung eben nicht beinhalten.“

Buschmanns Haus kündigte zwar an, einen aktualisierten Referentenentwurf zu Quick Freeze bald in die „Ressortabstimmung“ geben zu wollen. Doch seit Wochen herrscht nun wieder Stillstand.

Vorratsdatenspeicherung

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Die derzeitige Fassung der Vorratsdatenspeicherung ist in Deutschland eben nicht abgeschafft und nie aus dem Gesetz gestrichen worden. Der Verband der Internetwirtschaft eco, der die SpaceNet AG beim Gang zum EuGH unterstützt hatte, forderte vor dem aktuellen Urteil im Zusammenhang mit der politischen Einigung auf das Quick-Freeze-Verfahren daher die konsequente Aufhebung der Vorratsdatenspeicherung.

Die SpaceNet AG hat ihren Fall zwar vor dem EuGH gewonnen, sie muss keine Telekommunikationsdaten ohne Anlass speichern, betont Bäcker. Auch für die Deutsche Telekom besteht keine Speicherpflicht. Es bleibt klargestellt, dass das deutsche Gesetz gegen EU-Recht verstößt.

Aber was ist mit anderen Providern? Könnte die Bundesnetzagentur nun eine Speicherung der IP-Adressen von anderen Providern wie etwa Vodafone verlangen? Dass nach dem aktuellen EuGH-Urteil das deutsche Gesetz anwendbar sein könnte, will Bäcker nicht ausschließen.

Umso dringlicher wird es, dass der Gesetzgeber nun Klarheit schafft. Da könnte der Koalitionsvertrag weiterhelfen, denn darin hat sich die Ampel darauf geeinigt, dass Daten nur „anlassbezogen und durch richterlichen Beschluss“ gespeichert werden sollen.

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Author: Constanze

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