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Wahlen in Mecklenburg-Vorpommern: „Die Normalisierung der AfD ist abgeschlossen”

Belltower.News


Symbolbild: Stimmzettel.

(Quelle: Flickr / Tim Reckmann / CC BY 2.0)

In Mecklenburg-Vorpommern fanden am 11. Mai vier Landratswahlen und mehrere Bürgermeister*innenwahlen statt. In drei der vier Landkreisen kommt es an diesem Sonntag zu Stichwahlen. Auch zwei Amtsinhaber stellen sich ihren AfD-Herausforder*innen. Über die Wahlergebnisse im Mecklenburg-Vorpommern, die Verstrickungen zwischen der AfD und anderen rechtsextremen Gruppen und einem Lichtblick für demokratische Parteien sprachen wir mit Daniel Trepsdorf vom Regionalzentrum für demokratische Kultur in Trägerschaft der RAA – Demokratie und Bildung Mecklenburg-Vorpommern e.V..

Belltower.News: Was lässt sich bisher zu den Wahlergebnissen vom 11. Mai und den Stichwahlen am Sonntag sagen?
Daniel Trepsdorf: Wir sehen besonders in den strukturschwächsten Regionen Vorpommern-Greifswald und Vorpommern-Rügen, dass der Amtsinhaberbonus nicht greift. Diese Landkreise zählen auch zu den strukturschwächsten Regionen in ganz Deutschland. In Vorpommern-Greifswald konnte sich der amtierende Landrat Michael Sack (CDU) nicht gegen Inken Arndt (AfD) durchsetzen, obwohl sie eine absolute Newcomerin ist. Den ersten Wahlgang führt er mit 39,4 Prozent zu 38 Prozent nur knapp an.

Der etablierte SPD-Kandidat Erik von Malottki hatte ein suboptimales Ergebnis, obwohl er einen sehr engagierten Wahlkampf führte und er auch in Berlin im Bundestag seit Jahren wie kaum ein anderer für die Belange der Menschen in MV gestritten hatte. Und das, obwohl sich Grüne, Linke und SPD bereits auf diesen Kandidaten geeinigt hatten. Das liegt nicht an der Kompetenz oder Sympathiewerten der jeweiligen demokratischen und progressiven Kandidierenden, sondern auch daran, dass die Menschen den Glauben an ihren persönlichen und ökonomischen Aufschwung in der Demokratie komplett verloren haben. Dies hat vor dem Hintergrund subjektiver aber darüber hinaus kollektiv-psychologischer Entfremdungs- und Enttäuschungserfahrungen im fünfunddreißigsten Jahr der Berliner Republik auch mit bis heute noch nicht aufgearbeiteten identitätspolitischen Fragestellungen in Ostdeutschland zu tun.

In Vorpommern-Rügen verfehlte der amtierende Landrat Stefan Kerth (parteilos) mit 49,2 Prozent nur knapp die absolute Mehrheit gegen Carlos Rodrigues (AfD). Letzterer glänzte im Wahlkampf nicht mit hervorragender Arbeit, sondern mit dem klassischen AfD-Rhetorik-Holzhammer: „Angstmache”, „Altparteienbashing” und dem Thema Flucht und Asyl als simplifizierender Allzweckwaffe der Rechtsextremist:innen. Aktuell sehen wir, dass die AfD oft Leute aus der zweiten Reihe aufstellt, die kaum einen Bezug zur jeweiligen Region haben. Die AfD hat immer noch die wenigsten Mitglieder und kann die Plätze kaum mit fachlich, geschweige denn charakterlich qualifiziertem Personal besetzen.

Im Landkreis Mecklenburgische Seenplatte liegt vor der Stichwahl am Sonntag Enrico Schult (AfD) vor Thomas Müller (CDU). Mit über 36 Prozent hat Enrico Schult sicherlich den Bonus, dass er ein bekannter Landespolitiker ist. Die Mecklenburgische Seenplatte hat sechs Partnerschaften für Demokratie und eigentlich eine sehr aktive demokratische Zivilgesellschaft. Obwohl Thomas Müller eine etablierte Kraft ist, sieht es nach einem Durchmarsch von Enrico Schult aus, wenn die demokratischen Parteien nicht zusammenhalten. Insgesamt fraglos eine besorgniserregende Entwicklung.

Wie kann man Enrico Schult verorten?
Es gab einen bundesweiten Tag der Demokratie, an dem sich viele Schulen beteiligten. Daraufhin hat er im Landtag eine kleine Anfrage gestellt und kritisiert, dass Grundschüler*innen, die noch nicht die Reife für dieses Thema hätten, indoktriniert würden. Es zieht auch immer wieder Verbindungen in die DDR und zur Staatsbürgerkunde, die es dort gab. Zudem wollte er eine Auflistung von Schulen, die sich daran beteiligt haben. Er nimmt damit die Demokratiebildung unter Beschuss. Auch in anderen Fällen kam es immer wieder vor, dass besonders Schulen in den Blick der AfD gerieten. Die AfD framt die Werte des Grundgesetzes als „links-grün”, dabei ist es in unserer freiheitlichen Demokratie schlicht und ergreifend normal, sich für diese Werte einzusetzen. Unabhängig von der individuellen parteipolitischen Präferenz.

Hat der Erfolg von Enrico Schult auch etwas mit der geografischen Lage des Landkreises zu tun?
Der Erfolg hat auch strukturelle Gründe. Seit der Kreisgebietsrefom vor einigen Jahren ist Mecklenburgische Seenplatte der größte Landkreis in Deutschland. Die Repräsentanz von demokratischen Strukturen, wie einer funktionierenden Verwaltung und Parteien oder ehrenamtlicher Politik, kann nicht auf der vollen Fläche abgedeckt werden. Rechtsextremismus dringt so in alle Kapillargefäße der Gesellschaft vor. Der ländliche Raum droht sukzessive institutionell zu verwaisen. Dort treffen leere Kassen, demografischer Wandel, wenig qualifiziertes Personal, unattraktive periphere Region, marode Infrastruktur und eine Investitionsbremse aufeinander und damit macht sich die Demokratie das Leben selbst schwer.

Hat das mit der Entwicklung in Ostdeutschland zu tun?
Die fehlende ökonomische und soziale Anerkennung ostdeutscher Lebenswirklichkeiten bringt uns zu dem Punkt, dass es ein strukturelles Zurückgesetzt-Sein im demokratischen Alltag gibt, besonders nach vierzig Jahren Erziehung im autoritären System. Wir produzieren zu viele Verlierer*innen, um das System gegenüber autoritären Überwältigungsversuchen zu sichern. Das müssen wir uns als Demokrat*innen auf die Fahne schreiben.

Auch vor den Hintergründen der Kommunalwahl im letzten Jahr, wo die AfD in kleinen Wahlkreisen in Mecklenburg-Vorpommern bis zu 60 oder 70 Prozent erreichen konnte, ist die Normalisierung der AfD in vielen Teilen Ostdeutschlands abgeschlossen. Man wählt nicht mehr insgeheim rechtsextrem und „ballt die Faust hinter den Vorhängen der Wahlkabine”, sondern man tritt wütend, selbstbewusst und aggressiv als AfD-Wählerin im öffentlichen Raum auf.

Hatte die Einstufung der AfD als gesichert rechtsextrem einen Einfluss auf die Ergebnisse?
Das sehen wir nicht. Und wir gehen auch nicht davon aus, dass das in naher Zukunft einen Einfluss haben wird. Für viele Menschen ist die AfD zu einer ganz normalen, wählbaren Partei geworden. In Mecklenburg-Vorpommern waren bürgerlich-konservative ganz vorne dabei, wenn es um die Normalisierung der AfD ging. Vor zwölf Jahren wurde in der mobilen Beratung häufig der Umgang mit der NPD (heute „Die Heimat”) thematisiert. Da ging es beispielsweise darum, ob man NPD-Mitglieder auf der Straße oder beim Bäcker grüßen soll. Heute sind wir eher an dem Punkt, dass wir sagen: Umarmen Sie die AfD nicht zu offensichtlich (so sie es denn überhaupt tun müssen), denken sie an Ihre Verantwortung. Da wird sich im konservativen Lager parteiübergreifend zum Einzug in den Landtag gratuliert. Man trinkt Kaffee gemeinsam, man duzt sich, man scherzt. Die Brandmauer war hier in Mecklenburg-Vorpommern nie mehr als ein sanfter, im Küstenwind rauschender Schilfhain: durchlässig, durchschaubar und sehr flexibel gehandhabt, je nach politischem Tagesgeschäft.

Das sieht man auch daran, dass die AfD in fast allen Landkreisen die Positionen der stellvertretenden Kreispräsidenten erhalten hat. Eine faktische Machtposition, die sie ohne Not bekam.

Welche anderen Gruppierungen sieht man denn noch in Mecklenburg-Vorpommern?
Auch das BSW ist hier sehr stark und hat gute Kontakte in die verschwörungsideologische Szene. Beispielsweise tourte in der letzten Woche der Verschwörungsguru Daniele Ganser durch Schwerin. Dort treffen sich BSW, Basis und AfD und schütteln sich die Hand.

Ein anderes eindrückliches Beispiel ist der Fall von Haik Jäger. Er ist Kreistagsmitglied für die AfD und wollte als Bürgermeister von Neukloster kandidieren. Jetzt wurde er aber vom Wahlausschuss ausgeschlossen, unter anderem wegen Verbindungen in die militante Prepper- und Rechtsterrorismus-Szene auch zur Gruppe Nordkreuz.

Was ist deine Prognose für die Landtagswahl 2026?
Für uns ist die juristische Sachlage klar: Artikel 21, Abs. 2 GG, also das Parteienverbot, muss als einziger Präventivartikel im Grundgesetz in diesem Fall gezogen werden. Das AfD-Verbot muss mindestens geprüft werden, auch wenn es nicht die beste Lösung ist. Es ist mit rein rhetorischen Mitteln in den Parlamenten nicht mehr möglich, die AfD zu stellen. Auch juristische Mittel müssen ins Feld geführt werden, das gehört zu unserer wehrhaften Demokratie dazu und dies haben die Mütter und Väter der Grundgesetzes auch so vorgesehen. Insbesondere aufgrund der historischen Erfahrung, die Deutschland und Europa machen mussten. Ansonsten werden wir in Mecklenburg-Vorpommern den Präzedenzfall erleben, dass wir bei den Landtagswahlen 2026 eine CDU Minderheitsregierung unter Duldung der AfD haben. Diese Warnzeichen sehe ich mit der ultrakonservativen CDU hierzulande deutlich.

Im Landkreis Ludwigslust-Parchim hat der amtierende SPD-Landrat Stefan Sternberg sein Amt mit 57,9 Prozent gegen die AfD verteidigt. Was hat er richtig gemacht?
Wenn sich progressive Akteure in Führungspositionen von demokratischen Parteien ins Zeug legen und die Herausforderungen, insbesondere was das Thema Flucht und Asyl angeht, beizeiten anpacken und mutig und konstruktiv lösen, dann muss man keine Angst vor der AfD haben. Das hat Stefan Sternberg in den letzten sieben Jahren exemplarisch durchexerziert. Er ist ein sehr beliebter, kompetenter und bürgernaher Politiker, hat auch den Wahlkampf der Ministerpräsidentin Manuela Schwesig organisiert und kennt als ehemaliger Bürgermeister von Grabow die Region.

Als es darum ging, Geflüchtete im Landkreis unterzubringen, hat er sich einige Stimmen aus der Wissenschaft zu Herzen genommen und auf dezentrale Unterbringung und die Beteiligung der Bevölkerung durch Bürgerforen gesetzt. Da hat er sich verschiedene Träger gesucht und ist im Dialog mit Bürger*innen das Thema angegangen. So hatten viele plötzlich das Gefühl, eine eigene Handlungsmacht zu haben, indem sie selbst aktiv den Integrationsprozess von Geflüchteten begleitet haben und sich dafür einsetzten.

Und das unterscheidet ihn von anderen Landräten?

Unbedingt. Der Landrat von Westmecklenburg, Tino Schomann (CDU), setzte beispielsweise stark auf die Polarisierung und Skandalisierung des Themas Asyl, was zu einer Eskalationsspirale führte und schließlich auch Vorfälle, wie die rechtsextreme Stimmngsmache in Upahl und Grevesmühlen, mit sich brachte.

Sternberg setzte aber nicht nur auf eine unaufgeregte und fachlich versierte Art, die ihm schlussendlich mit 57,9 Prozent zum Erdrutschsieg verhalf, er verstand es auch, Themen der Zukunft der Region anzugehen. Immerhin ist der Landkreis Ludwigslust-Parchim der zweitgrößte in Deutschland. Er hat auf die Themen Mobilität und Gesundheitsvorsorge gesetzt, führte Rufbusse ein und bündelte Kliniken für eine bessere Vernetzung.

Damit hat er Themen bedient, die vor Ort eine große Relevanz haben, statt auf Flucht und Migration, was ja häufig gerade von rechter Seite hochgekocht wird. Durch die Beschäftigung mit anderen, für die Bevölkerung sehr wichtigen, Themen, konnte der Frust, der so oft entsteht, nicht so stark von der AfD abgerufen werden, wie das andernorts der Fall ist.

Ist das besonders relevant in strukturschwachen Regionen? Auch in ganz Deutschland?
Ja! Der Bus ist kein reines Fortbewegungsmittel, er ist vielmehr ein Symbol für die funktionierende Demokratie. Man kann die Demokratie allein im ländlichen Raum nicht gewinnen, aber schlimmstenfalls kann man sie dort sehr schnell verlieren. Und dies gilt nicht nur für den Osten des Landes, sondern für die gesamte Berliner Republik.

Daniel Trepsdorf ist Leiter des Regionalzentrums für demokratische Kultur Westmecklenburg (© Oliver Bochert)

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