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2023: Das tödlichste Jahr für Schutzsuchende im Mittelmeer

Auf dem Fluchtweg von Afrika nach Spanien sind laut der Hilfsorganisation Caminando Fronteras allein im letzten Jahr 6618 Menschen gestorben. Im Vergleich zu 2022, in dem 2390 Menschen starben, hat sich die Todeszahl mehr als verdoppelt. 2023 war somit das tödlichste Jahr seitdem die Hilfsorganisation 2006 begann, die Todesfälle zu dokumentieren. 

Auf den Fluchtrouten im Mittelmeer gab es 2023 laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) 3041 vermisste bzw. tote Geflüchtete. Von 2014 bis Ende 2023 hat die IOM 62.072 Fälle von auf der Flucht gestorbenen Schutzsuchenden aufgezeichnet, davon sind 29,032 Menschen im Mittelmeer gestorben. Die Fluchtroute über das Mittelmeer ist demnach die tödlichste Route der Welt. Diesen Weg nimmt man nur auf sich, wenn einem an dem Ort, von dem man flieht, sowieso der Tod oder gewaltvolle Menschenrechtsverletzungen drohen.

Diese Daten stellen das Minimum an Todesfällen dar. Hilfsorganisation  gehen davon aus, dass die tatsächliche Zahl weit größer ist.

Flüchtlingsorganisationen fordern seit Jahren sichere Fluchtrouten, doch interessiert das weder die Europäische Union, noch die frühere oder aktuelle Regierung Deutschlands. Stattdessen wird der Diskurs immer stärker von Rassismus geprägt.

Die Ampel hatte in ihrem Koalitionsvertrag mehr Solidarität, Menschlichkeit und die Sicherung von Fluchtwegen versprochen. Aktuell kann davon nicht die Rede sein. Stattdessen werden immer mehr Menschen entrechtet und mit der GEAS Reform wird lebensgefährlichen Maßnahmen ein rechtlicher Rahmen gegeben.

„No one came to our rescue“

Der Ende November 2023 von der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen veröffentlichte Bericht „No one came to our rescue“ dokumentierte, wie die Behinderung von Seenotrettung und die bewusste Untätigkeit der europäischen Staaten zu mehr Todesfällen auf See führten. 

Auf dem Rettungsschiff Geo Barents beobachtete das Team der Hilfsorganisation, wie die europäischen Küstenstaaten wissentlich das Leben von Menschen gefährdeten. Sie dokumentierten, dass Rettungsschiffe wie die Geo Barents in weit entfernte Häfen geschickt werden, um die geretteten Schutzsuchenden an Land zu bringen. Die Häfen sind teilweise über 1000 Kilometer entfernt und die Fahrt dauert mehrere Tage. Das gefährdet nicht nur die verletzten Schutzsuchenden an Bord zusätzlich, sondern sorgt auch dafür, dass die Rettungsschiffe in dieser Zeit nicht für weitere Seenotrettung zur Verfügung stehen. 

So wurde die Geo Barents zwischen Juni 2021 und September 2023 in Summe über 70 Tage unnötig aufgehalten, weil das Rettungsschiff nicht zum nächstgelegenen geeigneten Hafen geschickt wurde. 45 weitere Tage wurde das Rettungsschiff in Häfen in Verwaltungshaft festgesetzt. Auch das ist kein Einzelfall, sondern Taktik.

Kein Schiff mit Rettungskapazitäten wurde zur Hilfe geschickt

Italien und Malta versagten oftmals schon dabei, in Seenot geratenen Booten überhaupt Rettung zu schicken oder schickten diese zu spät.

So zum Beispiel am 22.Oktober 2022, zwei große Holzboote mit etwa 1300 Menschen an Bord gerieten in Seenot. Doch die Geo Barents wurde von der italienischen Küstenwache aufgefordert, nicht einzuschreiten. Über 10 Stunden überwachte das Team die Kommunikationswege. Kein Schiff mit Rettungskapazitäten wurde zur Hilfe geschickt. Auch Kapitäne anderer Schiffe richteten sich vergeblich an die italienische Küstenwache. Die Crew der Geo Barents weiß bis heute nicht, ob die Menschen gerettet werden konnten, da die Küstenwache diese Informationen nicht veröffentlichte.

In dem Bericht von Ärzte ohne Grenzen werden noch weitere Vorfälle beschrieben, in denen systematisch Hilfe erschwert, verzögert oder Informationen zurückgehalten wurden.

Die Forderung nach einer Prüfung des italienischen Vorgehens durch die Europäische Kommission blieb ohne Konsequenzen. Die EU-Mitgliedsstaaten nehmen diese vermeidbaren lebensgefährlichen Aktionen einfach so hin, als wären ihnen diese Menschenleben egal.

Nur eine Rettung, sonst Kriminell

Italien hat noch eine weitere Masche, um Seenotrettung zu be- und verhindern. Sollte ein Schiff einer privaten Hilfsorganisation mehr als einem anderen, in Seenot geratenen Schiff helfen, bekommt es durch das Piantedosi Dekret eine Strafe von mehreren Tausend Euro verhängt und wird für mehrere Tage im Hafen festgesetzt, sodass es in der Zeit keine Menschenleben retten kann. 

So wurde der „Sea-Eye 4“ im August 2023 dieser Vorwurf gemacht. Für ganze 20 Tage durfte sie den Hafen von Salerno im Süden Italiens nicht verlassen. Zusätzlich sollten sie 3.333€ Strafe zahlen und das nur weil sie zwei Rettungsoperationen durchgeführt hatten. Der Sea-Eye-Vorsitzende Gorden Isler sagte dazu: „Hätten wir das nicht getan, wären Menschen ums Leben gekommen.“ 

So geht es vielen Hilfsorganisationen. Sie werden in ein Dilemma versetzt, entweder sie lassen aktiv Menschen sterben, oder sie retten Menschenleben und riskieren, dafür 20 Tage keine weiteren Schutzsuchenden retten zu können. Eine künstlich von Italien kreierte Situation, die so oder so Menschenleben kostet.

Tödliches Dekret

Legalisiert wurde dieses Vorgehen im Januar ´23 mit eben jenem, von der italienischen Regierung eingeführten Piantedosi Dekret. Demnach müssen Rettungsschiffe nach der ersten Rettung unverzüglich einen zugewiesenen Hafen ansteuern und dürfen bei weiteren Notrufen nicht eingreifen. 

Die italienische Küstenwache nutze das Dekret auch, um Rettungsschiffe in möglichst weit entfernte Häfen zu schicken, um sie auch so lang wie möglich an weiteren Rettungsaktionen zu hindern.

Ende Juni ´23 wurde beispielsweise der Humanity 1 mit 199 geretteten Menschen, von denen einige bereits 5 Tage auf See waren, der 1300km entfernte Hafen Ortona zugewiesen. Die Fahrt dorthin dauerte nochmals etwa 3 Tage. Zwei Menschen mussten währenddessen notevakuiert werden. Unter den Schutzsuchenden befanden sich schwangere Frauen und über 40 Minderjährige. Der Kapitän bat vergeblich um die Zuweisung eines näheren Hafens. 

Die teilweise stark dehydrierten und seekranken Menschen interessieren die italienische Küstenwache nicht. Wichtiger ist es offenbar, die Rettungsschiffe von See fernzuhalten.

Die Fluchtroute über das Mittelmeer ist die tödlichste der Welt und das italienische Dekret führt nur zu noch mehr Toten. Die Menschenrechtskommissarin des Europarates kritisierte in einem Brief das lebensgefährdende Dekret und forderte die italienische Regierung auf, dieses zurückzunehmen. Es verstoße zudem gegen internationales Seerecht, die Menschenrechte und gegen europäisches Recht.

Doch die Positionierung hat wenig gebracht. Im Juli ´23 reichte ein Zusammenschluss aus 5 NGOs Beschwerde bei der Europäischen Kommission ein. Passiert ist nichts. Das Dekret ist bis heute in Kraft und behindert weiterhin wissentlich und willentlich die Seenotrettung.  

Libysche“Küstenwache” – EU finanziert Menschenhändler

Die Bekämpfung von angeblichen Schleppern hat seit 2015 Priorität in der europäischen Migrationspolitik. Nur sind das nichts als vorgeschobene, leere Worte, denn statt sichere Fluchtwege zu schaffen, wird mit Menschenhändlern zusammengearbeitet.

So ist die libysche Küstenwache ein weiterer tödlicher Akteur, der aktiv das Leben von Menschen bedroht. Diese “besteht aus unterschiedlichen Warlords, die sich den Namen ‘Küstenwache’ gegeben haben, um Geld von Europa zu kriegen”, beschreibt die Wissenschaftlerin und Migrations-Expertin Nicole Hirt vom German Institute for Global and Area Studies (GIGA).

Mittlerweile ist gut belegt, dass die Küstenwache zum Teil aus Menschenhändlern besteht. Menschen, die von dort geflüchtet sind, werden zurück nach Libyen geschleppt, um dort zum Teil als Zwangsarbeiter verkauft zu werden. Sie sind systematischer Ausbeutung, Folter und sexualisierter Gewalt schutzlos ausgesetzt.

Der ehemalige Küstenwachen Kommandeur Abd al-Rahman Milad selbst wurde wegen Menschenschmuggels festgenommen. Seine Einheit erhielt ebenfalls Gelder von der EU.

Paradox, dass die EU eigentlich die Menschen bekämpfen möchte, die sie finanziert.

Pullbacks und Schusswaffeneinsatz

Verbrechen der libyschen Küstenwache gibt es viele. Von Pullbacks über gezielten Schusswaffeneinsatz auf Boote mit Schutzsuchenden oder Rettungsschiffen gibt es viele Vorfälle, die gegen internationales Recht verstoßen. Allein das Abfangen und Zurückschleppen von Geflüchteten nach Libyen, Pullback genannt, verstößt gegen internationales Recht.

Im Juli 2021 hat Sea-Watch aufzeichnen können, wie die libysche Küstenwache auf ein Boot mit Flüchtenden schießt

Im März ´23 bedrohten sie die Crew der „Ocean Viking“, einem Seenotrettungsschiff bei einem Rettungseinsatz, welches deshalb unter vorgehaltener Waffe die Flüchtenden zurücklassen musste.

Bei einem Rettungseinsatz der Sea-Eye 4 im Oktober ´23 bedrängte die libysche Küstenwache ein Schlauchboot mit Flüchtenden. Mehrere Menschen fielen dabei ins Wasser. Im Boot selbst wurden im Anschluss 4 Leichen gefunden. Mehrere Personen werden noch vermisst und es ist unklar, ob sie ertranken oder durch die gewaltbereite libysche Küstenwache zurückgeführt wurden. Eine schwangere Frau schwebte in Lebensgefahr, die Herztöne des Kindes nicht mehr nachweisbar. Auch zwei weitere Personen, die während des Rettungseinsatzes ins Wasser stürzten, kämpften ebenfalls um ihr Leben. Doch anstatt die Evakuierung möglich zu machen, verweigerte Italien die Hilfe und verwies auf die libysche Seenotleitstelle, die auch nach Stunden nicht erreichbar war. Nach mehreren Abweisungen wies Italien schließlich einen 8 Stunden entfernten Hafen zu. Ein Helikopter hätte nicht mal eine Stunde gebraucht. 

Die Küstenwache Libyens wird von der EU finanziert, ausgerüstet und ausgebildet. Todesopfer und Schußwaffengebrauch werden billigend in Kauf genommen, Menschenleben mit Füßen getreten und Menschenrechte sind dabei nicht mehr Wert als das Blatt Papier, auf dem sie stehen. Die EU weiß um die tödliche Gefahr der libyschen Küstenwache. Die grausamen Praktiken sind längst filmisch dokumentiert. Und auch der Menschenrechtsrat der UN warnt in einem Bericht vor den Menschenrechtsverletzungen durch Libyen.

Weiterführendes zu den europäischen Absprachen mit libyschen Warlords könnt ihr hier lesen.

EU-Agentur Frontex koordiniert illegale Pullbacks mit Menschenhändlern

Der Spiegel, zusammen mit Lighthouse Reports, konnte vor Kurzem erst aufdecken, dass die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache (Frontex) mit der libyschen Küstenwache illegale Pullbacks koordiniert. In etwa 2200 geleakten Mails, die in den letzten 3 Jahren gesendet wurden, werden die Positionen von Menschen auf der Flucht an die libysche Küstenwache weitergegeben.

Dabei hatte Hans Leijtens, der seit 2022 Frontex leitet, einen Neuanfang versprochen. An Pushbacks dürfe sich Frontex nicht beteiligen. Worte und Taten sind, wie man sieht, komplett gegensätzlich. 

Zu Zeiten seines Vorgängers, Fabrice Leggeri, war Frontex ebenfalls in illegale Pushbacks verstrickt. Frontex ortete und stoppte Flüchtlingsboote und übergab diese den griechischen Behörden, die die Schutzsuchenden aufs Meer hinausschleppten und in kleinen antriebslosen Rettungsinseln aussetzten. Leggeri wusste davon und versuchte, die illegalen Praktiken zu vertuschen. 

Die Kriminalisierung von Fluchthilfe

Die offizielle Begründung hinter der Bekämpfung von Schlepperei ist der Schutz von Geflüchteten. Dabei gibt die EU und auch Deutschland nicht den fehlenden sicheren Fluchtrouten und damit sich selbst die Schuld, sondern Menschen, die Flüchtenden helfen wollen. Wo kommen wir denn da hin, wenn europäische Länder endlich mal den Fehler bei sich suchen und Verantwortung übernehmen würden?

Die EU hat 2002 eine Richtlinie zur “Definition der Beihilfe zur unerlaubten Einreise” erlassen, die eine Kriminalisierung von Fluchthilfe auch ohne geldwerten Vorteil ermöglicht. In der Ergänzung dazu steht, dass die EU-Mitgliedsstaaten “nicht zu Sanktionen verpflichtet sind, wenn diese Handlung zum Zweck der humanitären Hilfe erfolgt.” Das ist der Freifahrtschein für jegliche Kriminalisierung, denn nicht dazu verpflichtet, heißt auch, dass Sanktionen umsetzbar sind, wenn gewollt. 

Schlepper ist somit potentiell jeder, der in irgendeiner Art und Weise Fluchthilfe leistet. Das BKA zählt dazu auch so absurde Dinge wie “Reisehinweise” oder Informationen zu Asylverfahren.

Die Bundesregierung hat erst kürzlich eine weitere Kriminalisierung gesetzlich festgehalten. War vorher noch ein Vorteil für den Hilfeleistenden ausschlaggebend, so ist mit der Änderung des § 96 des Aufenthaltsgesetzes nun auch die Fluchthilfe strafbar, wenn sie “wiederholt oder zugunsten von mehreren Ausländern” erfolgt. Damit kann jeder Fluchthelfer und jeder Flüchtende kriminalisiert werden. Diese Kriminalisierung ist durch große Proteste von Rettungsorganisationen zwar noch “auf den Landweg” begrenzt worden, durch eine Lücke ist jedoch Seenotrettung immer noch strafbar, wenn es sich um die Rettung von unbegleiteten Minderjährigen handelt. 

Fluchthilfe in den Medien

Statt sichere Fluchtwege zu schaffen und somit tatsächliche Menschenhändler, also Menschen die aus der Schlepperei einen Vorteil ziehen und die Geflüchteten durchaus auch in Lebensgefahr bringen, überflüssig zu machen, wird Fluchthilfe, selbst wenn sie selbstlos ist, immer stärker kriminalisiert.

Ein Dossier des Eine Welt Netzwerks aus dem Dezember 2019 betont, dass ein “Rückgriff auf inoffizielle Akteur*innen […] folglich in einem Mangel an sicheren und geregelten Einreisemöglichkeiten begründet [liegt] und nicht in der Omnipräsenz krimineller Netzwerke, welche die europäischen Behörden stetig aufzudecken versuchen.”

Auch im politischen und medialen Diskurs zeigt sich, dass der Tatbestand der “Schlepperei” genutzt wird, um Fluchthilfe zu kriminalisieren. Passive Beschreibungen wie “Flüchtlingsstrom” oder “werden eingeschleust” erzeugen ein Bild, das Flüchtende entmenschlicht und ihnen die Selbstbestimmung abspricht. Sie werden zu Opfer von Schleppern gemacht und Schlepper werden zu Tätern dämonisiert. Die Tatsache, dass es jedoch keine legalen Einreisemöglichkeiten gibt, und Flüchtende unvermeidlich auf illegalisierte Wege zurückgreifen müssen, findet medial nicht statt.

Der Kampf gegen die “Schlepperei” hat stattdessen sowohl medial als auch im politischen Diskurs eine Rechtfertigung in sich für immer weitere Verschärfungen. Diese führen wiederum zu mehr Kriminalisierung und es entsteht eine Abwärtsspirale.

Von Kriminalisierung und Abschreckung

Die vorgeschobene Suche nach “Schleppern” hat auch die Kriminalisierung von Geflüchteten zur Folge. Eine Studie von Borderline Europe dokumentiert, wie Griechenland willkürlich Flüchtende selbst als Schlepper anklagt und sie inhaftiert. 

Die Studie zeigt, dass nach jeder Bootsankunft und jedem Grenzübertritt einer der Geflüchteten wegen “Schmuggels” kriminalisiert wird. Die Polizei und Hafenbehörden sind in Griechenland sogar dazu verpflichtet, nach jeder Ankunft eine Untersuchung einzuleiten, um die vermeintlichen Schlepper zu identifizieren.

Die Kriterien sind dabei willkürlich und einen Aussage der Behörden reicht aus für eine Anklage und Verhaftung.

Eine rechtliche Belehrung erfolgt nicht oder schriftlich auf griechisch ohne die Möglichkeit einen Dolmetscher zur Hilfe zu holen. Die Betroffenen werden teilweise nicht mal über den Grund ihrer Verhaftung informiert. Stattdessen wird Ihnen auch gesagt, dass das Vorgehen Teil des Asylantrags ist und ohne zu wissen, was vor sich geht, wird Ihnen ein gefaktes Geständnis zur Unterschrift vorgelegt

Das klingt so unvorstellbar und doch ist diese Kriminalisierung Alltag in Griechenland. Wenig überraschend bilden Personen, die wegen Schmuggels verurteilt worden sind, die zweitgrößte Gruppe in griechischen Gefängnissen. 90% von ihnen sind Drittstaatsangehörige

Wenn wir sagen, du warst nicht in Europa, warst du auch nicht in Europa – die Fiktion der Nicht-Einreise

Das Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS) hätte eine Besserung bringen können. Es hätte den Rechtsbrüchen entgegenwirken können und sichere Fluchtrouten schaffen, doch stattdessen ist es eine Manifestation des europäischen Rechtsrucks geworden und wird, so befürchten Experten, zum weiteren Abbau der Menschenrechte führen.

Der Historiker Sascha Schießl analysierte die GEAS Reform und warnte vor einer faktischen Abschaffung der Rechts auf Asyl.

Denn GEAS schafft den uneingeschränkten Zugang zum europäischen Asylsystem ab. Schutzsuchende müssen ein Grenzverfahren durchlaufen, das zunächst den Anspruch auf Asyl überhaupt nicht prüft. Vielmehr wird geprüft, ob sie durch einen “sicheren Drittstaat” in die EU gekommen sind. Dabei spielen die individuellen Gründe für das Asylgesuch keine Rolle

Nebenbei wurden die Bedingungen für einen “sicheren Drittstaat” so stark aufgeweicht, dass sogar die Türkei, die nicht mal die Genfer Flüchtlingskonvention vollständig anerkennt und regelmäßig Schutzsuchende nach Afghanistan und Syrien abschiebt, als “sicher” gilt.

Sollten Schutzsuchende ein solches Land durchquert haben, kann ihr Antrag als unzulässig abgelehnt werden, ohne die inhaltliche Prüfung der Asylgründe. Rechtlichen Einspruch einzulegen wird hingegen unmöglich gemacht. Sollte das Grenzverfahren abgewiesen werden, Schutzsuchende auf ihrer Flucht also beispielsweise durch einen solchen “sicheren Drittstaat“ gereist sein, wird so getan, als wären sie nie in der EU gewesen, obwohl sie es waren (Fiktion der Nicht-Einreise). So wird ihnen der Zugang zum europäischen Rechtssystem verwehrt und faktisch der Zugang zum Grundrecht auf Asyl. Danach werden sie abgeschoben und wie das beispielsweise in Griechenland aussieht, hat die New York Times ausführlich dokumentiert

Die griechische Küstenwache greift Schutzsuchende auf griechischem Boden auf, verschleppt sie auf Boote und setzt sie auf dem offenen Meer aus. Die EU leitete diesbezüglich kein Verfahren ein. Offenbar ist es ihr einfach egal und es mangelt an Willen, europäisches und internationales Recht durchzusetzen. 

Mit der GEAS Reform werden die Pushbacks, die vor Griechenland längst Alltag sind, nun noch bestärkt.

Untätigkeit und leere Worte – Juristen kritisieren GEAS

Gegen die GEAS Reform gab es viel Widerstand. So wurde die Reform im Juni ´23 vor ihrer endgültigen Verabschiedung von einem Zusammenschluss aus über 800 Rechtsanwält*innen und Jurist*innen detailliert kritisiert.   

Sie betonten auch, dass das Asylrecht als direkte Lehre aus der Nazi-Zeit kein einfacher Grundsatz ist, sondern ein fundamentales Menschenrecht, das es zu schützen gelten sollte. 

Die Bundesregierung hatte im Koalitionsvertrag einen „Paradigmenwechsel“ in der Asylpolitik versprochen. Geflüchtete sollten besser geschützt werden. Geworden ist daraus nichts. Die Standards für Schutzsuchende in den Asylverfahren sollten verbessert werden. Umgesetzt wurde die praktische Abschaffung des Asylsystems.

Ziel sei auch eine “faire Verteilung von Verantwortung und Zuständigkeit bei der Aufnahme zwischen den EU-Staaten”. Stattdessen kann man sich durch GEAS nun von dieser Verantwortung freikaufen.

“Wir wollen die illegalen Zurückweisungen und das Leid an den Außengrenzen beenden“, heißt es im Koalitionsvertrag. In der Praxis werden weiterhin die libyschen Milizen der Küstenwache finanziert und bei Menschenrechtsverletzungen wird weggesehen. Menschen können, ohne ein Verbrechen begangen zu haben, bis zu einem halben Jahr in einem Grenzverfahren der Freiheit beraubt werden und da sie ja nun offiziell durch die “Fiktion der Nicht-Einreise” nie in der EU waren, obwohl sie es waren, können sie auch ohne Prüfung individueller Gründe ganz einfach “abgeschoben” werden. Aber halt, für eine Abschiebung muss die Schutzsuchende Person in der EU gewesen sein, nennen wir es doch Pushback, trifft es besser. 

Innenministerin sagte die Unwahrheit

Innenministerin Nancy Faeser war im Juni ´23 zu Gast in der ARD Sendung “Maischberger”. Dort sagte sie wahrheitswidrig, dass Menschen die vor Krieg und Terror beispielsweise aus Afghanistan oder Syrien fliehen, nicht in diese Grenzverfahren kämen. Wie wir schon zeigten: Ist das falsch, denn der individuelle Fluchtgrund wird nicht geprüft, sondern zuallererst, welche Länder die Schutzsuchende Person passiert hat.

Bei Schutzsuchenden aus Afghanistan oder Syrien ist das oft der “sichere Drittstaat” Türkei. Über die Türkei schreibt die Ampel im Koalitionsvertrag übrigens: “Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschen-, Frauen und Minderheitenrechte in der Türkei sind massiv abgebaut worden.” Nun, in solch einen “sicheren Drittstaat” möchte die Ampel Schutzsuchende, die vor Krieg und Terror fliehen, zurück pushen. Soviel zu “Wir wollen die illegalen Zurückweisungen und das Leid an den Außengrenzen beenden.

Es wurde viel versprochen, umgesetzt wurde und wird stattdessen eine Politik der Abschottung. Seit Jahren werden Schutzsuchenden immer mehr Rechte genommen. GEAS und das schön euphemistisch benannte Rückführungsverbesserungsgesetz reihen sich in die lange Liste der Verschärfungen ein und als Spitze des Eisbergs stellen sie nicht nur die Rechte von Geflüchteten in Frage, sie stellen den Rechtsstaat als solches in Frage.

Europa sorgt dafür, dass sie nie ankommen

Der öffentliche Diskurs und die daraus resultierenden deutschen und europäischen Handlungen sind eine Diskussion darüber, wie weniger Schutzsuchende in Europa ankommen. Aber es gehen nicht weniger los. Im Gegenteil, die Zahl der Geflüchteten steigt. Ende 2022 waren es weltweit 108,4 Millionen Menschen, die aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Das zeigt der jährliche Bericht der UNHCR für 2022. Ende 2021 waren es noch 89,3 Millionen Schutzsuchende Menschen. Der Bericht zeigt auch, dass wirtschaftlich reiche Länder vergleichsweise weniger Schutzsuchende aufnehmen als ärmere Länder. So wurden von den 46 am wenigsten entwickelten Ländern, auf die nur 1,3% des weltweiten Bruttoinlandsproduktes fallen, mehr als ein Fünftel aller Schutzsuchenden aufgenommen. 

Im Juni 2018 übergab die europäische Union der “libyschen Küstenwache” die Verantwortung für ihre eigene “Search and Rescue”- Zone (SAR-Zone). Die staatlichen Rettungseinsätze von EU-Mitgliedsstaaten wurden daraufhin eingestellt und die Einsätze privater Seenotrettungsorganisationen durch Auflagen behindert. Die Zahl der geretteten Personen sank von 22.752 Schutzsuchenden in der ersten Jahreshälfte auf 5.635 in der zweiten Jahreshälfte. Diese Zahl sank aber nicht, weil weniger Menschen flüchteten, sondern weil Europa dafür sorgte, dass sie nie ankommen. 

Grüne Asylpolitik: Vergessene Werte

Insbesondere die Grünen hatten die SAR-Zone Libyens aus der Opposition heraus kritisiert. Annalena Baerbock verurteilte im Juni 2018: „Europa droht sich weiter von seinem Wertegefüge zu verabschieden, denn wer auf Rückweisung auf hoher See setzt, Menschen an die libysche Küstenwache überführt, der bricht mit dem Völkerrecht.“ und „Man kann keine Zusammenarbeit mit der libyschen Küstenwache machen, einem Regime, einem Terrorregime, in deren Lagern gefoltert, vergewaltigt wird, wo Menschen draus fliehen.“

Auf Anfrage des ARD-Magazins Monitor an das Auswärtige Amt aus dem Juli 2022 wird die SAR-Zone Libyens aus der Regierungsposition nun allerdings verteidigt und gerechtfertigt: „Libyen ist völkerrechtlich verpflichtet, Seenotrettung in seinem Verantwortungsbereich zu organisieren und zu koordinieren.“ 

Es ist ja schön, wenn sie dazu verpflichtet sind, aber sie tun es nicht. Das auch nur zu erwarten, könnte realitätsferner nicht sein. Das weiß – offensichtlich – auch Annalena Baerbock. Doch bis heute sind, statt eines Kurswechsels bei all den Problemen in der Flüchtlingspolitik, nur weitere Verschärfungen in Aussicht.

Hört Ihnen zu!

Um zum Abschluss entsprechende Forderungen zu formulieren, sind Flüchtlings- und Menschenrechtsorganisationen weit besser geeignet als wir. Wir wünschen uns, dass ihnen zugehört wird, wenn sie nach der Einhaltung der Menschenrechte schreien, wenn sie sich gegen Rassismus stark machen, wenn sie warnen und die unzähligen Menschenrechtsverletzungen dokumentieren und vor allem wenn sie konkrete Forderungen und Lösungen für ein menschliches Miteinander aufzeigen.

Hier könnt ihr euch beispielsweise die Positionspapiere von Pro Asyl, Ärzte ohne Grenzen, Sea-Eye und dem Deutschen Institut für Menschenrechte zu Asyl und Migration ansehen. Wir möchten betonen, dass diese Aufzählung nicht vollständig ist und keine Wertung darstellt. Es gibt noch weitaus mehr Flüchtlings- und Menschenrechtsorganisationen denen zugehört werden sollte.

Artikelbild: mit freundlicher Genehmigung von Erik Marquardt

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