Dieser Artikel stammt von Netzpolitik.org.
Markus Beckedahl verlässt netzpolitik.org, zwei Jahre nach der Übergabe an das neue Chefredaktionsteam. Er wird sich in Zukunft anderen Aufgaben widmen. Zeit für einen Rückblick auf bewegte Jahre.
Wenn wir an Markus Beckedahl bei netzpolitik.org denken, fällt uns eines sofort ein: Das schallende Lachen, das durch die Redaktionsräume dringt. Diese diebische Freude, wenn irgendjemand mal wieder netzpolitischen Quatsch erzählt hatte oder sich die Chance für einen guten Artikel, für Agenda-Setting und Kampagne ergab.
Jetzt verlässt Markus das journalistische Kanonenboot netzpolitik.org, gut zwei Jahre nach der Staffelübergabe an das neue Chefredaktionsteam. Markus wird sich in Zukunft anderen Aufgaben widmen.
Wir wollen deshalb Danke sagen für zwei Jahrzehnte unermüdlichen Einsatz für digitale Grund- und Freiheitsrechte. Danke fürs Aufmischen der Netzpolitik- und Bürgerrechtsszene. Danke für das Vordenken von aktivistischem Journalismus an der Schnittstelle zur Zivilgesellschaft. Danke für scharfe Kritik an netzpolitischem Bullshit. Danke fürs Gründen von netzpolitik.org. Danke für gute Gespräche und Inspirationen. Danke für lange Nächte und jede Menge Spaß am Gerät.
Die Anfänge
Ein Rückblick auf Markus‘ Schaffen ist immer auch ein Rückblick auf die Geschichte des Politikfelds Netzpolitik, die mit niemandem in Deutschland so verwoben ist wie mit ihm. Markus hat Netzpolitik gemacht, lange bevor es diesen Begriff überhaupt gab. Und er hat netzpolitik.org von einem Hobbyprojekt und Ein-Mann-Blog mit Gespür und zusammen mit einem immer größer werdenden Team zu einer professionellen und vielfach preisgekrönten Redaktion entwickelt.
Seine Anfänge nahm netzpolitik.org in einer Zeit, als soziale Medien und Online-Journalismus noch in den Kinderschuhen steckten. Die noch junge Blogosphäre blühte auf. Markus startete das Blog netzpolitik.org als Ersatz für eine Mailingliste und teilte Links zum Thema Internet und Politik. netzpolitik.org wurde schnell zu einem wichtigen Knotenpunkt der Blogosphäre in der zivilgesellschaftlichen Debatte um die Gestaltung des Internets.
Aus den Blogger:innen und ihrer Community wurde die „Netzgemeinde“. Das ganze atmete die Luft von demokratischem Aufbruch, vom Ende der medialen Einbahnstraße und machte unglaublich Spaß. Diese Blogosphäre wurde plötzlich ein politisch sichtbares Element in der Medienlandschaft. Eine agile und schnelle digitale Szene nahm Einfluss auf Debatten.
Und mittendrin Markus mit netzpolitik.org, einem der Leitmedien dieser Blogosphäre. Mit der re:publica, die Markus mit anderen als Blogger-Konferenz gründete, gab er der jungen Szene ein jährliches Klassentreffen.
In der ersten Zeit prägten neben der Überwachung durch die Vorratsdatenspeicherung vor allem auch Debatten um freie Software, Software-Patente und Urheberrechte die Inhalte im Blog. Bei netzpolitik.org war von Anfang an klar: Es geht um digitale Freiheitsrechte. Um den Kampf für die Rechte der Menschen im Internet und darüber hinaus.
Knöpfe drücken
Ein geflügeltes Wort von Markus ist bis heute das „Knöpfe drücken“. Dieses Knöpfe drücken war erst ein Ausprobieren, wie mediale Mechanismen funktionieren – vom Blog über Twitter bis zur Tagesschau. Mit der großen Expertise zu allen netzpolitischen Themen und einer fetten Community im Hintergrund war einiges möglich.
netzpolitik.org prägte den Diskurs mit und war immer schnell mit einer fachkundigen Position im Netz. Diese Form des Agenda-Settings hat Markus optimiert.
Knöpfe drücken, das hieß auch zu schauen, wie sich netzpolitik.org gegen die Großen wehren konnte: Gegen die Deutsche Bahn zum Beispiel, die das Blog abmahnte – und dann verdutzt den Kürzeren zog.
Knöpfe drücken, das war auch: Wir tun hier etwas und woanders passiert etwas. Woanders haben sie Respekt und Furcht vor der Berichterstattung, die immer auch gleich eine ganze Meute von gut informierten Leser:innen hinter sich herzog, die ihre digitalen Rechte lautstark einforderten.
Knöpfe drücken, das hieß: Viel ausprobieren. Sind wir als Blogger:innen eigentlich Journalist:innen und können uns als solche akkreditieren? Was heute ganz selbstverständlich erscheint, war ein Kampf um neue Formen des Journalismus, für die Markus immer mit großer Selbstverständlichkeit und Selbstbewusstsein eingetreten ist.
Journalismus neu verstehen
Überhaupt sah Markus den Journalismus immer auch als Experimentierfeld für neue Formate. Nicht nur gab es bei netzpolitik.org schon Podcasts, als diese noch kaum jemand kannte.
Durch das Bloggen entwickelte sich ein ganz anderes Verständnis von Journalismus: Natürlich werden alle Quellen referenziert und alles verlinkt, was zum tieferen Verständnis beiträgt. Natürlich können Menschen auf andere Webseiten geleitet werden, natürlich werden Dokumente veröffentlicht. Leser:innen sind ebenbürtig und gleichberechtigt im Informationsinteresse – kein Klickvieh, das man leiten muss und dem man die Informationen, die einem vorliegen, scheibchenweise verkauft.
Natürlich werden die Inhalte kostenlos und unter einer freien Lizenz veröffentlicht. Es geht immer auch um die Freiheit der Information und eine Orientierung am Gemeinwohl.
Dieses Verständnis eines offenlegenden Journalismus prägt die Redaktion bis heute sehr stark. Wir wundern uns noch immer, dass er sich nicht breit durchsetzt und die Mechanismen, die schon in der Blogosphäre an den „Qualitätsmedien“ kritisiert wurden, immer noch bestehen.
Auch ein anderes Selbstverständnis von Journalismus beflügelte Markus in seinem Wirken: Wie die Blogosphäre stellte er vermeintliche Objektivität und Neutralität in Frage, die andere Medien wie eine Monstranz vor sich hertragen. Natürlich darf man sich mit einer guten Sache gemein machen, wenn die Fakten stimmen. Die Leser:innen sollen wissen, wo ein Medium und Journalist:innen stehen, weil es einfach ehrlicher ist. Diese neue Spielart des Journalismus, über die bis heute gestritten wird, hat Markus publizistisch vorangetrieben.
Gleichzeitig war Markus immer auch auf der Suche nach Geschäftsmodellen und rechtlichen Rahmenbedingungen für diesen neuen, gemeinwohlorientierten Journalismus. So entstand nicht nur das Modell netzpolitik.org, bei dem freiwillige Spenden die freien Inhalte für alle sichern, sondern auch ein Verband, der sich dafür einsetzt, dass gemeinwohlorientierter Journalismus endlich gemeinnützig wird.
Einfluss nehmen
Markus hat eine einmalige Expertise zu netzpolitischen Themen. Er kann jede spontane Medienanfrage zu irgendeinem Internet-Thema einfach aus dem Stehgreif auch nach drei Stunden Schlaf sprechfähig und erklärbärig genug im Fernsehen beantworten. Ob in seinem Hinterhof oder im Urlaub sonstwo auf der Welt.
Markus‘ Gespür für Themen und Stimmungen der vernetzten Öffentlichkeit ist legendär. Das war immer seine große Stärke als Chefredakteur. Als „political animal“ hat er das Wissen und den richtigen Riecher, welche Themen groß werden, welche Wege Debatten gehen und an welcher Stelle man reingrätschen muss, damit Freiheits- und Grundrechte verteidigt werden können.
Sein Gespür für Themen war einerseits langfristig. Markus war immer klar, welches netzpolitische Thema aus Brüssel wichtig werden würde. Auf der anderen Seite wusste er vorher Bescheid, welches Thema der Aufreger der Woche wird. So konnte er mit einer schnellen und bissigen Intervention im Blog oder auf Twitter Einfluss nehmen.
Überhaupt: Twitter. Über viele Jahre war Markus mit diesem quasi verwachsen, auf mehreren Monitoren lief der Nachrichtenstream. Hier ging keine netzpolitisch relevante Information vorbei, keine Debatte blieb liegen. Vom Smartphone und dem beständigen Draufschauen, das er nicht lassen konnte, kann die Redaktion ein Lied singen.
Die großen Kämpfe
Markus hat zusammen mit der wachsenden Redaktion und mit vielen anderen Mitstreiter:innen die wichtigsten netzpolitischen Kämpfe geprägt. Zentral sicherlich die Vorratsdatenspeicherung, die in den 2000er Jahren mit den „Freiheit statt Angst“-Demos Zehntausende auf die Straßen brachte. Bis heute berichtet netzpolitik.org eng an diesem Thema, das einfach nicht mehr weggeht.
Aber nicht nur diese anlasslose Überwachung, sondern auch Zensurbestrebungen jeder Art wehrte netzpolitik.org ab. Bedeutend hier auch der Kampf gegen „Zensursula“ 2009 und ihre Netzsperren, den das dann schon gewachsene netzpolitik.org leidenschaftlich führte.
Auch sperrige Themen wie das ACTA-Abkommen 2012 machte netzpolitik.org groß und trug zur Mobilisierung tausender Menschen auf den Straßen bei. Bei Kämpfen um das Urheberrecht war Markus immer auf der Seite der Nutzer:innen und des freien Internets. Auch 2019, als die EU erneut das Urheberrecht verschärften wollte und plötzlich wieder Zehntausende auf die Straße gingen.
Und dann waren da natürlich die Snowden-Enthüllungen, die ab 2013 belegten, was viele lange gefürchtet hatten: Massenüberwachung unserer Kommunikation durch westliche Geheimdienste. Allen voran natürlich von USA und Großbritannien, doch auch die deutschen Geheimdienste mischten mit. Die Nachwirkungen des Skandals begleitete netzpolitik.org so eng wie kaum ein anderes Medium: Welche andere Redaktion wäre so verrückt, jede Sitzung des NSA-Untersuchungsausschusses in einem Live-Blog zu dokumentieren? Welcher Chefredakteur hätte das jemals erlaubt?
Wie ein Ritterschlag sind im Nachhinein die Ermittlungen gegen Markus Beckedahl und Andre Meister wegen Landesverrats im Jahr 2015 zu sehen. Sie machten netzpolitik.org auch über die deutsche Netzgemeinde hinaus bekannt. Die solidarischen Spenden erlaubten den Ausbau der Redaktion. Wo der mittlerweile rechtsradikal abgebogene frühere Verfassungsschutzchef ein missliebiges Medium attackieren wollte, wurde dieses einfach nur größer und personalstärker durch diesen Angriff auf die Pressefreiheit.
Tatsächlich ist die Landesverratsaffäre gleich in doppelter Hinsicht ein Wendepunkt in der Geschichte von netzpolitik.org, der unser Medium bis heute prägt: Die öffentliche Debatte stellte ein für alle mal klar, dass Blogger:innen Journalist:innen sein können, mit den gleichen Rechten und Pflichten. Und die unglaubliche Unterstützung auf dem Spendenkonto stellte die Weichen dafür, dass wir die Redaktion ausbauen konnten.
Und so wurde das Projekt über die Jahre von Markus‘ Blog, von seinem „Baby“ zum gemeinsamen „Kind“ einer ganzen selbstverwalteten Redaktion, die gemeinsam die Geschicke in die Hand nahm und das Medium zusammen mit Markus prägte. Ein Prozess, der nicht immer einfach war, bei dem aber alle immer das große Ganze im Auge behielten: den Kampf für die Grund- und Freiheitsrechte.
Der Übergang
Die große Stärke an gründerbasierten Organisationen ist die Kraft, die eine mobilisierende und vernetzte Person einbringt. Zugleich ist das oftmals auch das große Problem solcher Organisationen, weil sie nur schwer Übergang finden zu einer Kontinuität, die auch ohne den großen Gründer auskommt.
Netzpolitik.org hat diesen Übergang erfolgreich geschafft. Es wäre unehrlich, wenn wir sagen würden, es habe dabei keine Schmerzen und Konflikte gegeben. Die gab es, sie gehören dazu.
Nun also der Abschied. Markus wird seine Energie, seine Kompetenz und Tatkraft, seinen Ideenreichtum und seinen politischen Spürsinn jetzt an anderer Stelle einsetzen. Wir wünschen ihm auf diesem Weg alles erdenklich Gute und sind schon sehr gespannt, wo und wie er das „Knöpfe drücken“ weiterentwickelt.
Für die Zukunft von netzpolitik.org heißt das, dass wir das, was Markus hier mit seinem kleinen Blog angefangen hat, nun weiterführen in der Tradition und mit den Werten, die dieses Projekt schon seit jeher hatte. In der Redaktion ist allen bewusst, dass es netzpolitik.org ohne Markus nie gegeben hätte und was für ein einzigartiges journalistisches Projekt er für den Themenbereich Netzpolitik sowie Grund- und Freiheitsrechte ins Leben gerufen hat. Das wird weiterleben, auch wenn sein Lachen nicht mehr durch die Redaktionsräume schallt.
Danke, Markus! Wir sehen uns.
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Author: netzpolitik.org