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Alles für Relaxo: Pokémon Sleep will Kinder beim Schlafen belauschen

Dieser Artikel stammt von Netzpolitik.org.Der Autor ist…
Ein neues Pokémon-Spiel verlangt tiefe Einblicke in die Privatsphäre von Kindern: Sie sollen ihr Handy mit ins Bett nehmen und nachts ihr Mikrofon einschalten. Am besten jeden Tag. Fachleute für Kinder- und Datenschutz finden das übergriffig.
Das Handy soll nicht einfach nur mit ins Schlafzimmer, sondern direkt auf die Matratze. – Alle Rechte vorbehalten Relaxo: Pressematerial von Pokémon Sleep; Diagramm und Schriftzug: Screenshot; Montage: netzpolitik.orgWaschen, Zähneputzen, Pokémon spielen: So sieht die Abendroutine aus, wenn man die neue App Pokémon Sleep in sein Leben lässt. Sobald sich der Tag dem Ende neigt, wird es ernst. „Es ist bald Zeit fürs Bett!“, warnt Pokémon Sleep per Push-Nachricht. „Vergiss nicht, dass Relaxo vor dir einschlafen muss!“ Relaxo ist das wichtigste Pokémon im Spiel. Eine Art schwerfälliger Bär, der für seine Liebe zum Schlaf bekannt ist.
Auch die Spieler*innen sollen schlafen, und zwar so viel wie möglich. Fürs Schlafen bekommen sie nämlich Punkte – allerdings nur, wenn sie sich dabei minutiös überwachen lassen. Das Handy soll dafür mit ins Bett, direkt auf die Matratze. Sonst könne die App den Schlaf nicht richtig aufzeichnen, mahnt ein Popup-Fenster.
Die Spieler*innen sollen ihr Handy über Nacht als Abhörwanze benutzen, das Handy-Mikrofon hört mit. Zusätzlich soll der Beschleunigungssensor erfassen, ob man sich im Bett wälzt. Also bloß nicht zappeln.
Über eine Million Downloads
So eine stundenlange Aufzeichnung zehrt am Akku, deshalb sollen Spielende vorm Einschlafen noch ihr Ladekabel anschließen. „Leg dein Gerät nicht unter Kissen oder Decken, da es überhitzen könnte!“, warnt die App außerdem. Wer glaubt, das macht doch niemand freiwillig mit, der irrt sich: Allein im Google Play Store für Android wurde die am 17. Juli erschienene App mehr als eine Million Mal heruntergeladen. Immerhin ist Pokémon eine der beliebtesten Spiele-Marken der Welt.
Während manche Menschen befürchten, Instagram könne sie heimlich übers Handy-Mikrofon belauschen (wofür es keine Belege gibt), lässt Pokémon Sleep keinen Zweifel: Spieler*innen sollen ihr Mikrofon selbst einschalten und die ganze Nacht lang laufen lassen. Dabei richtet sich Pokémon Sleep auch an Kinder. Im Google Play Store wird die App ab 0 Jahren empfohlen, im App Store von Apple ab 4 Jahren.
Wir haben die Funktionen der App getestet und außerdem Fachleute um Einschätzung gebeten. Die Verbraucherzentrale hat Pokémon Sleep aus medienpädagogischer Sicht bewertet. Das Projekt mobilsicher hat den Datenverkehr der App untersucht. Und die Datenschutzbehörde Baden-Württemberg hat eine erste, rechtliche Einschätzung vorgelegt. Der Tenor: Pokémon Sleep ist eine übergriffige App, die tief in die Privatsphäre ihrer Spieler*innen vordringen möchte.
Auf unsere E-Mail mit ausführlichen Fragen hat die für den deutschen Markt zuständige Pokémon-Pressestelle vorwiegend ausweichend reagiert. Der Konzern teilt auf Englisch mit: „Wir ermutigen auch immer Eltern, sich an den Spielerfahrungen ihrer Kinder zu beteiligen.“ Bei der Alterskennzeichnung sieht sich Pokémon nicht in der Verantwortung: Das würden die App Stores festlegen.
Verbraucherzentrale: „Spiel-Terror“ im Kinderzimmer
Anweisungen, um sich selbst beim Schlafen zu überwachen. – Alle Rechte vorbehalten Screenshot: Pokémon Sleep
Auf Anfrage von netzpolitik.org hat der Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv) Pokémon Sleep unter die Lupe genommen. Die Verbraucherzentralen sind gemeinnützige Anlaufstellen, die Interessierte im staatlichen Auftrag beraten. In ihrer Kritik nimmt Referentin Carola Elbrecht die Pokémon-App auseinander.
Es beginnt schon mit dem Hinweis beim Start der App, sich die Nutzungsbedingungen „bitte mit einem Erziehungsberechtigen“ durchzulesen. Dieser Hinweis sei „eine Farce“, sagt Elbrecht. „Kinder sind nicht oder nur beschränkt geschäftsfähig. Das heißt, Eltern müssen zustimmen“. Die Pokémon-Pressestelle schreibt hierzu: Der Hinweis sei nicht die einzige Schutzmaßnahme im Spiel.
Elbrecht kritisiert, dass Kinder ausgerechnet vor und nach dem Schlafen Pokémon Sleep spielen sollen. „Der erste und letzte Gedanke gilt zwangsläufig der App“, sagt sie. Das nutze den Spieltrieb von Kindern aus und könne suchtfördernd sein. „Kinder sind sich im Zweifel der Tragweite dieses Verhaltens nicht bewusst“, warnt die Verbraucherschützerin. Das Spiel mache aus angeblich gutem Schlaf eine digitale Währung, wie Elbrecht erklärt. Es sei „perfide“, dass diese Währung durch das Spiel Einzug in Kinderzimmer hält.
Virtuelle Kekse teurer als reale Kekse
Für 180 virtuelle Diamanten gibt es drei Pokékekse. – Alle Rechte vorbehalten Screenshot: Pokémon Sleep
Auch echtes Geld spielt bei Pokémon Sleep eine Rolle. Der teuerste In-App-Kauf bei Pokémon Sleep für Android kostet 97,99 Euro. Bei einer ab 0 Jahren gekennzeichneten App sei das „unverständlich“, sagt Elbrecht. Beim App-Start erklärt ein Hinweisfenster: „Die App kann vollständig gespielt werden, ohne Geld auszugeben.“
Wer das trotzdem tut, erhält etwa für 97,99 Euro insgesamt 7.000 virtuelle Diamanten. Diese Diamanten lassen sich wiederum in Kekse eintauschen. Solche Kekse können Spieler*innen an ihre Pokémon verfüttern. Innerhalb von Sekunden knuspern die Pokémon den Snack weg und tänzeln vor Freude.
Die Kekse sind erstaunlich hochpreisig. Bei 97,99 Euro springen 117 der billigsten Kekse heraus, das macht etwa 84 Cent pro virtuellem Keks. Zum Vergleich: Ein realer Doppelkeks mit Schokocreme kostet je nach Angebot nur um die 11 Cent. Die Pokémon-Pressestelle schreibt hierzu, das sei kein angemessener Vergleich. Virtuelle Kekse hätten „absolut keinen Bezug“ zu physischen Keksen. Man könne das Spiel auch ohne In-App-Käufe „genießen“.
Nicht nur nachts hält Pokémon Sleep die Spieler*innen auf Trab, auch tagsüber gibt es zu tun. Zu dieser Zeit ist Relaxo wach und möchte mit Beeren gefüttert werden. Eine Push-Nachricht ruft zur Arbeit: „Beeren, Beeren, überall Beeren! Pikachu hat viele Beeren für dich gesammelt!“ Pokémon Sleep appelliert auch an die Gefühle der Spieler*innen: „Gib alles, damit Relaxo so groß und stark wie möglich wird“, heißt es in der App.
Wenn sich ein Spiel derart im Alltag aufdrängt, bezeichnet das Elbrecht als „Spiel-Terror“. Die Pokémon-Pressestelle weist darauf hin, dass man Push-Nachrichten abschalten könne.
Geburtstagsdatum ohne relevante Wirkung
Push-Benachrichtigungen: Die Pokémon rufen. – Alle Rechte vorbehalten Screenshot: Pokémon Sleep
In den Nutzungsbedingungen steht: Minderjährige können nur dann den Dienst nutzen, wenn Eltern oder Erziehungsberechtigte zugestimmt haben. Beim Einrichten der App sollen Spieler*innen auch ein Geburtsdatum angeben. Für unseren App-Test haben wir die Kennzeichnung „0 Jahre“ wörtlich genommen und behauptet, wir seien gerade frisch geboren worden.
Auf die zentralen Funktionen der App hatte das Säuglingsalter allerdings keinen erkennbaren Effekt. Wir konnten problemlos eine Schlaf-Aufzeichnung durchführen und einen Kauf von 7.000 Diamanten anbahnen. Den Klick auf „Zustimmen“ haben wir allerdings nicht gemacht, um nicht 97,99 Euro zahlen zu müssen. Die Pokémon-Pressestelle schreibt: Das angegebene Alter habe durchaus eine Funktion. Bei Minderjährigen würde die App im Hintergrund keine Daten mit Werbenetzwerken teilen. Außerdem könnten Kinder ihre Schlafdaten nicht mit Freund*innen teilen.
Das Fazit von Verbraucherschützer*in Elbrecht: Pokémon Sleep ist „aus medienpädagogischer Sicht fraglich“ und „aus datenschutzrechtlicher Sicht höchst bedenklich“.
Beim Datenschutz bewegt sich Pokémon Sleep wohl auf gefährlichem Terrain, denn Daten über den Schlaf können vor dem Gesetz als sensible Gesundheitsdaten gelten. Solche Daten sind in der EU besonders geschützt, sie fallen unter Artikel 9 der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO). Wer mit ihnen hantiert, muss besonders vorsichtig sein.
Audio-Aufnahmen sollen lokal auf dem Gerät liegen
Wir haben die App in einem menschenleeren Bett getestet – das ist das Ergebnis. – Alle Rechte vorbehalten Screenshot: Pokémon Sleep
Immerhin heißt es auf einer Infoseite zum Spiel: Die Audioaufnahmen vom Schlaf der Spieler*innen würden ausschließlich auf dem Gerät gespeichert, nicht auf den Servern der Betreiber. Das dürfte ohnehin im Interesse von Pokémon Sleep sein, denn stundenlange Audio-Dateien brauchen eine Menge Speicherplatz.
Wesentlich platzsparender sind dagegen Daten darüber, wie lange und wie tief eine Person geschlafen hat. Solche Eckdaten wiederum speichert Pokémon Sleep laut Infoseite auf eigenen Servern. Sie landen auch im Schlaftagebuch der Spieler*innen. Dort lässt sich etwa nachlesen, wie viele Minuten bis zum Einschlafen verstrichen sind und wie viel Zeit man im Halb-, Leicht- und Tiefschlaf verbracht hat. Außerdem zeigt ein Säulen-Diagramm, wie viel Dezibel das Handy im Zeitverlauf gemessen hat.
An der Genauigkeit der Schlafmessung darf gezweifelt werden: Bei unserem Test der App haben wir ein Handy in ein leeres Bett gelegt und die Aufzeichnung gestartet. Zu Beginn der Aufzeichnung haben wir im selben Zimmer eine Serie geschaut. Die App hat in diesem Zeitraum eine erhöhte Dezibel-Zahl gemessen und kam zu dem Schluss, dass wir wach sind. Das zeigt der von der App erstellte Schlafbericht. Als wir danach still am Laptop gearbeitet haben, wähnte uns die App im Tiefschlaf.
Wir wollten von den Betreibern wissen: Kann die Messung überhaupt sinnvolle Aussagen über den Schlaf der Spielenden treffen? Antwort: „Pokémon Sleep ist nur für Unterhaltungszwecke gedacht.“ Demnach betrachtet der Konzern also auch die wissenschaftlich anmutenden Diagramme mit Dezibel-Angaben und Schlafphasen bloß als „Unterhaltung“.
Von der Pressestelle erfahren wir außerdem: Spieler*innen können die Audio-Aufzeichnung ihres Schlafs innerhalb der App ausschalten. Danach misst offenbar nur noch der Bewegungssensor den Schlaf. Bei unserem App-Test sind wir allerdings nicht von selbst auf diese Funktion gestoßen.
Mobilsicher: Datenfluss zu Werbenetzwerken
Laut Datenschutzerklärung darf Pokémon Sleep Daten mit Werbenetzwerken teilen. Den Kontakt mit entsprechenden Diensten stellt die App während des Betriebs auch her, wie ein Test von mobilsicher zeigt. Das Projekt mobilsicher ist Teil des gemeinnützigen Vereins „Institut für Technik und Journalismus“. Nach Anfrage von netzpolitik.org hat mobilsicher Pokémon Sleep mit seinem selbst entwickelten AppChecker untersucht. Dabei überprüfen die Expert*innen etwa, welche Internetadressen eine Android-App kontaktiert.
Miriam Ruhenstroh ist Projektleiterin bei mobilsicher. Die von Pokémon Sleep erhobenen Daten würde sie als Gesundheitsdaten interpretieren, sagt sie im Gespräch mit netzpolitik.org. Daraus ließen sich etwa Rückschlüsse über Schlafstörungen ziehen. Im Zweifel müsste wohl ein Gericht entscheiden, ob die Daten tatsächlich unter Artikel 9 der DSGVO fallen. Dann wäre es „hochproblematisch“, wenn Pokémon Sleep die Daten überträgt, sagt Ruhenstroh. Es gebe „überhaupt keinen Grund“, sie auf den Servern des Betreibers zu speichern.
Wir wollten auch von den App-Betreibern wissen, inwiefern Sie sich nach eigener Auffassung an die DSGVO halten. Die Pokémon-Pressestelle schreibt: Pokémon Sleep sei keine Gesundheits-App, sondern ein Spiel. „Die Schlafdaten sollten nicht verwendet werden, um Rückschlüsse auf die Gesundheit zu ziehen“.
Datenschutzbehörde: App kann Intimsphäre betreffen
Wie Pokémon Sleep nach Schlafdaten fragt. – Alle Rechte vorbehalten Screenshot: Pokémon Sleep
Über den Datenschutz von unter anderem Spiele-Apps wachen in Deutschland die Datenschutzbeauftragten der Bundesländer. Wir haben die Aufsichtsbehörde in Baden-Württemberg um eine Einschätzung zu Pokémon Sleep gebeten. Aus der Antwort geht hervor, dass sich die App an besonders hohe Anforderungen halten muss.
Der Sprecher des Datenschutzbeauftragten Baden-Württemberg betrachtet „Informationen über das Schlafverhalten“ grundsätzlich als Gesundheitsdaten nach DSGVO. „Zudem können durch eine solche App neben den Schlafgeräuschen auch alle sonstigen Geräusche sowie das gesprochene Wort im Schlafzimmer aufgezeichnet werden“, schreibt der Sprecher. Das betreffe oftmals auch die Intimsphäre.
Nicht nur die sensiblen Daten sind ein mögliches Problem, auch das Alter der Spieler*innen. Wenn sie jünger als 16 Jahre alt sind, müssen Erziehungsberechtigte grundsätzlich einwilligen, wie der Sprecher erklärt. Das verlangt Artikel 8 der DSGVO.
Es gebe zwar zahlreiche Apps, die übergriffige Verarbeitungen personenbezogener Daten durchführen, schreibt der Sprecher der Datenschutzbehörde. Aber: „Eine App, die das Schlafverhalten von Kindern und Jugendlichen aufzeichnet, ist uns bisher nicht begegnet“. Ob Pokémon Sleep aber nun Gesetze verletzt, könne die Behörde derzeit nicht sagen. „Wir haben die App bisher nicht näher untersucht“, schreibt der Sprecher. Betroffene Nutzer*innen können sich bei Interesse bei ihren zuständigen Datenschutzbehörde beschweren.
„Übergriffig“, aber nicht katastrophal
Mobilsicher-Expertin Ruhenstroth hält Pokémon Sleep unterm Strich zwar für „übergriffig“, aber nicht für katastrophal. Immerhin verrate die App, was sie macht. „Du siehst ja, dass du dein Handy ins Bett legst und das Mikrofon einschaltest“. Im Zweifel müssten Eltern ihren Kindern beibringen, dass das ein Problem ist, sagt Ruhenstroh. „Viel bedenklicher sind Apps, bei denen wir nicht merken, was sie im Hintergrund tun“.
Pokémon Sleep unterscheidet sich von anderen Apps darin, wie sie sich in den Alltag der Spieler*innen einnistet. Die wertvollste Ressource für Spiele-Apps – und andere Unterhaltungsmedien – ist die Aufmerksamkeit ihrer Nutzer*innen, und die ist zeitlich begrenzt. Pokémon Sleep versucht offenkundig, die Minuten direkt vor und nach dem Schlafen für sich zu beanspruchen.
Etwas Ähnliches ist Pokémon bereits zuvor gelungen. Die im Jahr 2016 erschienene App Pokémon Go lässt sich nur dann sinnvoll spielen, wenn man unterwegs ist. Um Pokémon zu fangen, müssen Spieler*innen ihren Standort wechseln. Damit hatte die App einen weltweiten Hype ausgelöst. Insofern sind Pokémon Sleep und Pokémon Go sich ergänzende Schwester-Apps. Beide wollen neue Zeiträume unseres Alltags für die Gaming-Industrie erschließen, mit Bildschirmzeit füllen und kommerziell verwertbar machen.

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Author: Sebastian Meineck