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Degitalisierung: Monate, die zu Jahrzehnten werden

Dieser Artikel stammt von Netzpolitik.org.Der Autor ist…
Diese Folge von Degitalisierung wird buchstäblich mehrdimensional. Oder sie ist einfach nur politisch und damit erfolgt die Argumentation quasi Lichtjahre entfernt von der physikalischen Realität. Oder sie ist beides auf einmal, weil in den vergangenen Tagen viele Digitalisierungsthemen anders keinen Sinn ergeben.
Wer sich hierzulande mit Digitalisierung beschäftigt, verliert sich rasch in Raum und Zeit. – Gemeinfrei-ähnlich freigegeben durch unsplash.com Greg RakozyGerade in den zurückliegenden Tagen fiel mir – konkret an drei aktuellen Ereignissen digitalpolitischer Art – die unterschiedliche Bedeutung und Geschwindigkeit von Zeit auf. Physiker*innen würden jetzt besser als ich erklären können, dass Zeit grundsätzlich auch immer vom jeweiligen Raum abhängig ist und sie würden dabei wohl viel von Einstein sprechen.
Doch nicht einmal innerhalb des relativ kleinen Universums Digitalisierung scheint die Zeit den gleichen Gesetzmäßigkeiten zu folgen, zumindest hierzulande. Aber der Reihe nach.
From zero to AI Hero?
Das Kabinett tagte Ende August in Meseberg. Zentrale Themen waren unter anderem die Bürokratie und die Digitalisierung. Von dem einem gibt es zu viel, und vom anderen zu wenig. Oder zu wenig Gutes.
Ungeachtet des teils desolaten Zustands der Verwaltungsdigitalisierung in Deutschland sieht die angepasste Nationale Datenstrategie – und damit sind wir bei Beispiel Nummer eins – durchaus ambitionierte Ziele für die Verwaltung vor:
Wir wollen die Möglichkeiten der Künstlichen Intelligenz auch für die öffentliche Hand nutzbar machen.
Dazu soll unter anderem das Beratungszentrum für Künstliche Intelligenz in der öffentlichen Verwaltung (BeKI) geschaffen werden. Auch der Einsatz von Large-Language-Modellen in der Verwaltung soll überprüft werden.
Ein solches Vorhaben wird Ende August 2023 formuliert. In einem Papier, dessen Roadmap bis Ende 2024 reicht.
Der versprochene Einsatz von sogenannter KI in der Verwaltung könnte jetzt die Themen vergangener Kolumnen aufgreifen: Was noch mal das Problem war, ob nicht vielleicht ein Hype-Gap geschaffen wird oder ob Automatisierung bestimmter Aspekte der Verwaltung nicht zu einer Zementierung nicht zukunftsfähiger Strukturen führt.
Heute aber soll die Frage lauten: Wie sollen diese vermeintlich schönen neuen Technologien in der Breite denn funktionieren, wenn Verwaltungen beispielsweise noch an der Umsetzung des Onlinezugangsgesetzes hängen – übrigens seit dem Jahr 2017 –, an dessen Ende nach wie vor nur ein schlecht strukturiertes PDF zum Ausdrucken steht? Oder anders gesagt: Wie viele Jahrzehnte technologischen Rückstands müssten manche Teile der Verwaltung in kürzester Zeit aufholen, angefangen bei der zersplitterten manuellen Aktenhaltung bis hin zu qualitativen, gut strukturierten, interoperablen Daten aus unterschiedlichen Datenquellen? Wo doch mancherorts bereits die Einführung der E-Akte kläglich scheitert. Aber gut, vielleicht reicht die Ambition eh nur für ein paar Leuchttürme. Was in dem Kontext jedoch nur bedingt besser wäre.
Jahrzehnte digitalen Rückstands, die in Monaten aufgeholt werden sollen.
Kleines Update, große Handlungsunfähigkeit
Gemessen an der Ambition des KI-Einsatzes in der Verwaltung müsste die Zeit in der Verwaltungsdigitalisierung extrem schnell ablaufen, weil der Fortschritt ja rasant vorangehen soll.
Das gilt aber nur für gehypte Technologien, die „für die Wirtschaft“ wichtig sind. Wie langsam auch einfache technische Veränderungen sich vollziehen können, veranschaulichte ebenfalls Ende August die Nachricht, dass sich die Verkürzung der Ersatzfreiheitsstrafe um Monate verschiebt. Und damit sind wir beim zweiten Beispiel.
Ersatzfreiheitsstrafen werden verhängt, wenn in Strafverfahren verhängte Geldstrafen nicht beglichen werden können. Ist eine Person etwa außerstande, eine Geldstrafe wegen Fahrens ohne Fahrschein im Nahverkehr zu zahlen, sitzt sie ersatzweise eine gewisse Zeit im Gefängnis ein.
Solche Freiheitsstrafen sind oft eine Folge von Armutsdelikten. Sie treffen meist Menschen, die Strafen für Vergehen zahlen sollen, die wiederum häufig mit Armut korrelieren. Wer kein Geld für einen Fahrschein hat, dann beim sogenannten Schwarzfahren erwischt wird, wird auch kaum Geld dafür haben, um die Strafe zu begleichen.
Die genaue Zahl der Ersatzfreiheitsstrafen und ihrer Gründe ist nicht genau zu ermitteln, weil aktuelle Statistiken fehlen. Sie dürfte aber in die Tausende gehen, zumindest wenn man die letzten ungefähren Zahlen des Statistischen Bundesamtes für eine Schätzung zugrundelegt.
Im Rahmen einer Strafrechtsreform wurde die Länge von Ersatzfreiheitsstrafen Ende Juni durch den Bundestag halbiert. Soweit nachvollziehbar und im Rahmen des Rechtsstaates dann auch zügig umgesetzt. Allerdings besteht jetzt ein softwaretechnisches Problem: Die Umstellung der Formeln, mit denen die Ersatzfreiheitsstrafe berechnet werden, braucht etliche Monate länger. Und damit verschiebt sich auch das Inkrafttreten der angepassten Ersatzfreiheitsstrafe um Monate nach hinten.
Die Verzögerung hängt vor allem mit der von Staatsanwaltschaften und anderen Behörden verwendeten Software „web.sta“ zusammen. Sie wird unter Federführung Bayerns entwickelt und läuft in neun Bundesländern auf rund 9.000 Arbeitsplätzen. In Zeiten von automatisiert testbarer und auslieferbarer Software in Continuous-Integration-Verfahren und den Möglichkeiten von Cloud-Technologien ist es mehr als sonderbar, dass selbst kompliziertere Software-Updates immer noch Monate benötigen sollen.
Die Software-Lieferkette in Justiz und Verwaltung scheint Jahrzehnte von jener Effizienz entfernt zu sein, die möglich ist. Leidtragende dieses technischen Rückstands sind Personen, die deshalb länger hinter Gittern sein werden.
Monate technologischer Handlungsunfähigkeit, weswegen viele Menschen insgesamt Jahrzehnte länger einsitzen.
Der hundertjährige Datensatz, der aus dem Datenzentrum fiel und verschwand
Zum Abschluss der aufregenden Reise durch die Zeit in der Digitalisierung kommen wir zu Daten, oder genauer: zu gesundheitsbezogenen Forschungsdaten, die nach den jüngsten Änderungen des Gesundheitsdatennutzungsgesetzes (GDNG) bis zu 100 Jahre lang gespeichert werden sollen.
Das Forschungsdatenzentrum (FDZ) soll nach dem Willen des Bundesgesundheitsministeriums ein zentraler Ort werden, der pseudonyme Daten zur Forschung vorhält. Das FDZ soll die verknüpften Daten nach kurzer fachlicher Prüfung von Forschungsanträgen schnell und einfach freigeben. Der Aufwand, die Anträge zu bearbeiten, wird aktuell mit gerade einmal elf Stunden veranschlagt.
Wir sprechen dabei von jenem Forschungsdatenzentrum, dessen aktueller Zustand mehr als fraglich ist. Jenes FDZ, das bislang ohne endgültiges IT-Sicherheitskonzept auskommt. Ja, jenes FDZ, bei dem entscheidende Fragen nach der Zentralisierung von derart großen Datenmengen und den damit verbundenen Risiken nach wie vor unbeantwortet sind. Und eben dieses FDZ soll bald unser aller Gesundheitsdaten bis zu 100 Jahre lang speichern.
Technisch gesehen begeben wir uns mit Datensätzen, die für einen solch langen Zeitraum gespeichert und verarbeitet werden, auf eine ungewisse Reise. Sie geht durch mehrere Generationen von Speichermedien, zwischen denen diese Daten hin und her kopiert werden müssen. Durch mehrere Generationen von potenziellen Cyberangriffen, bei denen schon die aktuelle Generation der sogenannten KI erhebliche Risiken für die Sicherheit von Anonymisierungs- oder Pseudonymisierungsverfahren birgt. Von direkten Angriffen auf derart lukrative, zentrale Datensammlungen ganz zu schweigen.
All das soll in den nächsten Monaten beschlossen und aufgebaut werden, obwohl viele Technikfolgen noch immer vollkommen unklar sind.
Monate hektischer Beschlüsse und technischer Entscheidungen, die für Jahrzehnte Bestand haben sollen.
Und damit schließt sich der Kreis. Denn betrachten wir die Zeit im digitalpolitischen Raum entlang dieser drei Beispiele, dann zeigt sich, welch beliebige Kategorie Zeit bei digitalpolitischen Vorhaben ist und zwar sowohl in ihrer Ausdehnung als auch in ihrer Bedeutung. Mal erfolgt alles rasend schnell, mal quälend langsam, und dann immer wieder auch ohne vergleichbare Referenzpunkte in der Geschichte. Aber bevor das alles noch seltsamer wird: Es wird Zeit – Zeit für das Ende dieser Kolumne.

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Author: Bianca Kastl

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