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Digitalisierung an Schulen: Kompetenz vor Geräte!

Dieser Artikel stammt von Netzpolitik.org.

Digitalisierung an SchulenKompetenz vor Geräte!

Schaden digitale Lernmittel mehr, als dass sie nutzen? Schweden und Dänemark wollen eine Kehrtwende in der Schuldigitalisierung vollziehen. Und auch hierzulande fragt man sich: Müssen unsere Klassenzimmer wieder analoger werden? Doch ganz so einfach ist es dann doch nicht.


Carla Siepmann – in Technologiekeine Ergänzungen
Tablet oder Kreidetafel – womit lernt es sich besser? – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / Funke Foto Services

Nicht erst seit der Corona-Pandemie wird gefordert: Die Schulen müssen digitaler werden! Tablets statt Schulbücher in alle Klassenzimmer!

Zuletzt kamen jedoch Zweifel an dieser Forderung auf. Nutzen Schüler:innen digitale Geräte, lernen sie angeblich schlechter. Mancherorts haben diese Bedenken nun zu einer drastischen Umkehr in der Bildungspolitik geführt. Schweden und Dänemark galten bislang als strahlende Vorbilder in der Schuldigitalisierung. Nun aber wollen beide Länder ihre Schulen wieder analoger machen.

Diese Kehrtwende facht auch in Deutschland die Diskussion wieder an: Schadet die Schuldigitalisierung den Schüler:innen mehr, als dass sie ihnen nutzt?

Kehrtwende in Schweden und Dänemark

Der Grund für die Kehrtwende in Schweden und Dänemark ist eine Stellungnahme des renommierten Karolinska-Instituts vor knapp einem Jahr. Die Forschenden aus Medizin und Psychologie kommen darin zu einem erstaunlichen Urteil: „Die Digitalisierung der Schulen [hat] große negative Auswirkungen auf den Wissenserwerb der Schüler“.

Bis vor Kurzem hatte die schwedische Bildungsbehörde noch ganz andere Töne verlauten lassen: Man wolle die Schulen noch digitaler machen, von der Vorschule an. So hatte es die Behörde in ihrem Vorschlag zur „nationalen Digitalisierungsstrategie für das Schulsystem 2023-2027“ vorgestellt. Ebendiese Empfehlung hatten die Verfasser:innen der Stellungnahme nun überprüft. Ihr Fazit: Das schwedische Bildungsministerium solle den Vorschlag der Bildungsbehörde rundweg ablehnen.

Schwedens Bildungsministerin Lotta Edholm kündigte daraufhin an, die Digitalisierung von Lernmitteln auszubremsen: „Wir wissen, dass Lesen am besten durch Bücher gefördert wird und dass wir ein großes Problem in schwedischen Schulen haben, mit zu vielen Bildschirmen und zu wenigen Büchern“, so Edholm.

Dänische Schüler beklagen Mangel an Medienkompetenz

Die Wellen der schwedischen Kehrtwende schlugen bis nach Dänemark. Bislang galt das Nachbarland als europäischer Vorreiter in Sachen Schuldigitalisierung. Doch selbst Schüler:innen beklagen dort inzwischen, in der Schule nicht genügend über den Umgang mit neuen Technologien unterrichtet zu werden: „Das dänische Bildungssystem versagt noch immer darin, uns auf die digitale Welt vorzubereiten“, erklärt Asger Kjær Sørensen auf Anfrage auf Englisch. Sørensen ist der Vorsitzende der Danske Gymnasieelevers Sammenslutning – der Vereinigung von Schüler:innen der höheren Oberschulen (vergleichbar mit deutschen Oberstufen) in Dänemark.

Und auch Dänemarks Bildungsminister Tesfaye schlägt inzwischen reumütige Töne an: Er entschuldigte sich, die Schüler:innen zu „Versuchskaninchen in einem digitalen Experiment“ gemacht zu haben.

Sørensen wird hier konkreter: „Aktuell würde ich sagen, dienen wir in einer anderen Hinsicht als Versuchskaninchen: Denn wir verlassen das Schulsystem ohne die nötigen Kompetenzen zu besitzen“, so der Schüler, „um durch die digitalisierte Welt zu navigieren und ohne ein Verständnis für die Technologien entwickelt zu haben, die entscheidend für die Reste unserer Leben und Karrieren sein werden.“. Die neuen Geräte seien an Schulen eingeführt worden, ohne darüber zu reflektieren, wie sie genutzt werden sollten und wie sie sich auf das Lernen auswirken. Eine bessere Schuldigitalisierung würde bedeuten, die bestehenden Technologien auf eine Weise in den Unterricht einzubeziehen, die die Schüler:innen dazu anregt, sich kritisch und konstruktiv mit ihnen auseinanderzusetzen, meint Asger Sørensen.

Das dänische Bildungsministerium will nun ein Gleichgewicht zwischen analogem und digitalem Unterricht herstellen, wie es in einer Pressemittelung des dänischen Bildungsministeriums heißt. Bildschirme sollen in Klassenzimmern nur noch dann eingesetzt werden, wenn es pädagogisch und didaktisch sinnvoll ist. So lautet eine von zwölf Empfehlungen, die ab sofort an dänischen Schulen umgesetzt werden sollen.

Droht „Digitale Demenz“?

Auch in Deutschland wird die Debatte um die Schuldigitaliserung derzeit wieder intensiver geführt – auch unter dem Eindruck der Maßnahmen der Corona-Jahre, die nun rückblickend bewertet werden sollen. Über Monate waren damals die Schulen geschlossen und etliche Kinder wurden vorwiegend mit digitalen Mitteln unterrichtet. Seitdem haben die Kompetenzen der Schüler:innen abgenommen – auch wenn Bildungsforschende dies nur zum Teil auf die damaligen Maßnahmen zurückführen.

Die aktuelle Debatte ist auch Wasser auf die Mühlen jener Mahner, die seit Jahren vor der Digitalisierung warnen. Dazu zählt unter anderem der Neurowissenschaftler Manfred Spitzer. Er argumentierte bereits 2012 in seinem umstrittenen Buch „Digitale Demenz“, dass digitale Medien die Entwicklung des Gehirns beeinträchtigten. In mitunter alarmistischen Tönen kritisiert er auch politische Initiativen, die vorsahen, „alle Schüler mit Notebooks auszustatten und die Computerspiel-Pädagogik zu fördern“.

Kritik des Karolinska-Instituts an schwedischer Strategie

Auf den ersten Blick scheint das Karolinska-Institut Spitzers Behauptungen recht zu geben. So kommt dessen Stellungnahme unter anderem zu dem Schluss, dass Schüler:innen, die Texte auf Tablets lesen, in der Entwicklung zurück hingen. Es sei schwieriger, sich an Informationen zu erinnern, die auf einem Bildschirm statt in einem Buch gelesen wurden, so die Forschenden. Das Entwicklungsdefizit in der Lesekompetenz jener Schüler:innen, die auf einem Bildschirm lesen, betrüge etwa zwei Jahre gegenüber solchen, die auf Papier lesen.

Der Einsatz digitaler Medien führe zudem zu mehr Multitasking und dies wiederum zu schlechterem Lernen. Unser Gehirn sei jedoch nur begrenzt in der Lage, relevante Informationen im Arbeitsgedächtnis zu speichern, so die Forschenden. Auch personalisierte Online-Werbung würde immer wieder dafür sorgen, dass wir abschweifen.

Kinder unter zwei Jahren sollten digitale Werkzeuge überhaupt nicht nutzen, das empfehle auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO). Kinder unter sechs Jahre sollten täglich weniger als eine Stunde vor einem Bildschirm verbringen. Auch das steht im Widerspruch zur Strategie der schwedischen Bildungsbehörde, die auch an Vorschulen den Einsatz digitaler Lernmittel verstärken wollte.

Bedingte Aussagekraft der Stellungnahme

Eine „Digitale Demenz“, wie von Spitzer heraufbeschworen, befürchten die Forschenden indes nicht: „Wir möchten darauf hinweisen, dass es trotz der eindeutigen Risiken der Digitalisierung von Schulen auch Belege dafür gibt, dass sich bestimmte digitale Lernmaterialien positiv auf das Lernen auswirken können“. Deshalb sei es dringend notwendig, dass verschiedene Akteure zusammen daran arbeiten, wirksame digitale Lernmaterialien zu entwickeln.

Die Studie erntet jedoch auch Widerspruch. Kritiker:innen bemängeln etwa, dass sich die Verfasser:innen lediglich mit digitalen Lehrbüchern befasst hätten, nicht aber mit den zahlreichen anderen Lernmitteln, für die digitale Geräte eingesetzt werden können.

Die Verfasser:innen selbst räumen ein, ausschließlich medizinische und psychologische Folgen des Einsatzes digitaler Lernmittel betrachtet zu haben. Unter anderem pädagogische und soziologische Aspekte seien zu kurz gekommen, weil die Nationale Agentur für Bildung keine heterogenere Forschungsgruppe zusammengestellt hatte. Um die Auswirkungen der unterschiedlichen Maßnahmen auf den Wissenserwerb und die digitale Kompetenz umfassend zu bewerten, brauche es daher Folgestudien, so die Forschenden.

Mehr Medienkompetenz statt mehr digitale Geräte

Vor allem aber liege das Problem, so die Wissenschaftler:innen, nicht grundsätzlich in der Nutzung digitaler Lernendgeräte begründet, sondern vielmehr darin, wie diese eingesetzt werden. Statt die Klassenräume mit Tablets zu fluten, sollte der Fokus stattdessen stärker darauf gelegt werden, wie Medienkompetenz vermittelt wird.

So habe die schwedische Digitalstrategie an Schulen bisher hauptsächlich darin bestanden, analoge durch digitale Lernmittel zu ersetzen. Die nötigen Kompetenzen seien dabei kaum vermittelt worden. Auch deshalb habe sich der Wissenserwerb der Schüler:innen verschlechtert.

Damit die Digitalisierungsstrategie erfolgreich ist, so die Empfehlung der schwedischen Wissenschaftler:innen, müssten Lehrkräfte wie Schüler:innen gezielt hinsichtlich ihrer digitalen Fähigkeiten und Medienkompetenzen weitergebildet werden.

Zum Teil nur „Klicken und Wischen“

Mehr Medienerziehung, wie das Karolinska-Institut fordert, wäre auch für deutsche Schüler:innen dringend notwendig. Das verdeutlicht bereits die International Computer and Information Literacy Study (ICILS) aus dem Jahr 2018. Die Studie vergleicht international die Medienkompetenz von Achtklässler:innen. Auch die Ausstattung von Schulen mit digitalen Lern-Endgeräten wird dabei erfasst.

Demnach erreichte damals ein Drittel der Schüler:innen in Deutschland nur die unteren beiden Kompetenzstufen. „Damit konnten diese Schüler:innen eigentlich nur ‚Klicken und Wischen‘“, stellt Birgit Eickelmann auf Anfrage fest. Sie ist Professorin an der Universität Paderborn und wissenschaftliche Leiterin der ICIL-Studie in Deutschland. Insgesamt lag die Bundesrepublik 2018 in der ICIL-Studie im internationalen Vergleich im Mittelfeld. Große Defizite zeigten sich damals auch in der Ausstattung der Schulen hierzulande – etwa mit WLAN, Endgeräten und Lernplattformen.

Die Studienergebnisse von 2018 sind aus heutiger Sicht mit Vorsicht zu genießen. Der Digitalpakt Schule ist erst seit 2019 in Kraft, und auch die Corona-Pandemie hat den digitalen Schulalltag nachhaltig verändert. Die Auswirkungen der vergangenen Jahre werden sich daher erst in den Ergebnissen der ICIL-Studie 2023 niederschlagen, die Ende dieses Jahres veröffentlicht wird.

Im vergangenen Jahr nahm Schweden erstmals an der ICILS teil. Gerade mit Blick auf die aktuelle Debatte werden die Ergebnisse dort mit Spannung erwartet.

Die Digitalisierung pausieren?

Dass sich die Lage hierzulande in den vergangenen Jahren erheblich verbessert habe, glaubt der deutsche Digitalexperte Ralf Lankau indes nicht. Lankau ist Professor für Medientheorie und Mediengestaltung an der Hochschule Offenburg. Er kritisiert, dass Kinder und Jugendliche durch Streamingdienste, TikTok und Co. zu „suchtgesteuerten Konsumäffchen“ gemacht werden, statt dass die Potenziale der Techniken und Dienste genutzt würden.

Lankau meint, dass die Kompetenz im Gebrauch darüber entscheidet, ob digitale Lernmittel den Lernenden eher nutzen oder schaden. Die qualifizierte Lehrkraft müsse entscheiden, wann der Einsatz von digitalen Medien den Unterricht voranbringt. Relevant dafür seien unter anderem das Alter der Schüler:innen, das jeweilige Fach sowie die Schulform.

Damit ihr Einsatz möglich ist, müssten deutsche Schulen aber genauso gut mit Endgeräten wie Tablets, Laptops und PCs ausgestattet werden wie Schulen in skandinavischen Ländern. Außerdem müssten flächendeckend Bildungsserver zur Verfügung stehen.

Der Forscher war im November 2023 einer der Unterzeichner eines Papiers, das ein Moratorium der Digitalisierung an deutschen Schulen fordert. Mehr als 40 Forschende verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen aus ganz Deutschland haben es unterzeichnet.

Sie fordern eine Pause in der Schuldigitalisierung sowie eine interdisziplinäre Überprüfung der Schuldigitalisierung und ihrer möglichen Folgen. „Die Wirkungen und Nebenwirkungen digitaler Medien auf Entwicklungs-, Lern- und Bildungsprozesse [sind] wissenschaftlich oft ungeklärt“, so der Brief. „Vielmehr verdichten sich die wissenschaftlichen Hinweise auf enorme Nachteile und Schäden für die Entwicklungs- und Bildungsprozesse von Kindern und Jugendlichen durch digitale Medien.“

Für ein „Primat der Pädagogik“

Dass digitale Geräte allein noch keine Digitalisierung bedeuten, darüber ist man sich im deutschen Diskurs offenbar weitgehend einig. Auch im Digitalpakt ist das „Primat der Pädagogik“ verankert. Demnach seien technische Hilfsmittel kein Selbstzweck, sondern sollten dazu genutzt werden, um pädagogische Ziele zu erreichen.

„Die Anschaffung von Whiteboards und Laptops allein ist kein Garant für pädagogische Qualität – dies gilt im Übrigen auch für das Buch, das Schreibheft und die Kreidetafel“, schreibt das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) auf digitalpaktschule.de. „Es sind immer die pädagogischen Konzepte, die aus der Vielfalt an Angeboten gute Bildung machen“.

2021 erarbeitete die Kultusministerkonferenz (KMK) eine ergänzende Empfehlung zur Strategie „Bildung in der digitalen Welt“. Darin konkretisieren die Bildungsminister:innen der Länder die Strategie zur pädagogischen Umsetzung des Digitalpakts. Sie erachten es als notwendig, unter anderem die Lehrkräftebildung in Sachen Digitales auszubauen, Prüfungskriterien anzupassen und Inhalte für den Einsatz digitaler Unterrichtstechnologien forschungsbasiert zu entwickeln.

GEW sieht deutliche Unterschiede zu skandinavischen Ländern

Für ein „Primat der Pädagogik“ plädiert auch die Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW). Digitale Lernmittel sollten allen Schüler:innen und Lehrkräften gleichermaßen zur Verfügung stehen, teilt ein GEW-Sprecher  auf Anfrage mit. Die Geräte sollten demnach nur dann genutzt werden, wenn es pädagogisch und didaktisch sinnvoll sei.

Gleichzeitig brauche es eine stärkere Förderung der Medienkompetenz bei Lernenden und Lehrenden. Medienkompetenz bedeute etwa das Erlernen eines kritischen, mündigen und kreativen Gebrauchs digitaler Medien – und auch die Fähigkeit „abschalten“ zu können. Dazu seien auch mehr Fortbildungen für Lehrkräfte notwendig.

Dieser Ansatz entspricht den Empfehlungen des Karolinska-Instituts sowie verschiedener Expert:innenen für digitale Bildung. Allerdings sei die Situation in Deutschland kaum mit der in Schweden und Dänemark zu vergleichen, sagt der GEW-Sprecher. Hierzulande sei die digitale Infrastruktur an Schulen noch immer nicht flächendeckend eingeführt. Zudem klaffe eine Kluft zwischen sehr gut und kaum ausgestatteten Schulen in Deutschland. „Manche Schulen haben noch immer kein WLAN, andere wiederum arbeiten wie selbstverständlich mit Tablets und Co.“, sagt der Sprecher der GEW.

Die GEW fordert „eine nachhaltige und sinnvolle digitale Infrastruktur an Schulen, eine sozial gerechte Mittelverteilung der Digitalisierung an Schulen sowie eine gute Qualität der Arbeits- und Lernbedingungen“. Zukünftig müsse die Qualität im Zentrum der Schuldigitalisierung stehen.

Keine Rückkehr zur Kreidetafel

Die Debatte lässt sich somit – im Sinne Manfred Spitzers – nicht darauf verkürzen, dass digitale Geräte Kinder „dümmer“ machen. Vielmehr braucht es für deren schulischen Einsatz bessere pädagogische Konzepte und mehr Medienbildung – und zwar sowohl für die Schüler:innen als auch für die Lehrkräfte.

An eben diesem Punkt muss auch die Bildungspolitik hierzulande ansetzen. Und zwar so schnell wie möglich: Denn die Ergebnisse der jüngsten PISA-Studie lassen kaum Zeit für Aufschub. Deutsche Schüler:innen schnitten in der Vergleichsstudie zuletzt so schlecht ab wie noch nie zuvor.

Dabei wäre es fatal, in den Schulen zu Kreidetafel und zum Overheadprojektor zurückzukehren. Stattdessen ist es erforderlich, an allen Schulen flächendeckend digitale Endgeräte zur Verfügung zu stellen. Erst dann können Lehrer:innen überhaupt erst qualifizierte Entscheidung darüber treffen, wann es pädagogisch und didaktisch wertvoll ist, diese auch einzusetzen.

Alle Schüler:innen haben das Recht, bestmöglich auf das Leben in einer digitalen Welt vorbereitet zu werden. Nichts Geringeres sollte auch der Anspruch der deutschen Bildungspolitik sein.

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Author: Carla Siepmann