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Digitalpolitischer Rückblick: Fünf Jahre von der Leyen

Dieser Artikel stammt von Netzpolitik.org.

Digitalpolitischer RückblickFünf Jahre von der Leyen

Im Juni wählt Europa ein neues Parlament und bekommt auch eine neue EU-Kommission. Deren alte Präsidentin wird wahrscheinlich auch die neue sein: Ursula von der Leyen. Was hat die mächtigste Frau der Welt in den vergangenen fünf Jahren netzpolitisch erreicht? Wir prüfen ihre Versprechen.


Maximilian Henning – in Demokratiekeine Ergänzungen
Ursula von der Leyen hatte eine umfangreiche digitalpolitische Agenda. – Imago

Große Krisen, große Worte, große Vorhaben. So lässt sich Ursula von der Leyens Amtszeit als Präsidentin der EU-Kommission zusammenfassen. „Eine Union, die mehr erreichen will“, das versprach die CDU-Politikerin vor fünf Jahren in ihren politischen Leitlinien für die neue Kommission. Von der Leyen, kurz VdL, war damals die Überraschungskandidatin für den Posten als Präsidentin. Ihre Kandidatur war das Ergebnis eines Politdramas, an dessen Ende sie die Unterstützung aller EU-Regierungschefs erhielt. Das düpierte EU-Parlament konnte die Entscheidung nur noch abnicken, zähneknirschend und mit einer hauchdünnen Mehrheit.

Denn eigentlich sollte nach der letzten Europawahl der CSU-Politiker Manfred Weber Kommissionspräsident werden. Das hatte zumindest das Parlament vorab gefordert, um den Prozess demokratischer zu machen: Weber war Chef der Europäischen Volkspartei und Spitzenkandidat der Konservation, die die EU-Wahl gewonnen hatten. Doch die Mitgliedstaaten spielten ihre übliche Rolle im EU-Gefüge und verhinderten das. Victor Orban soll ein Wörtchen mitgeredet haben, ebenso wie Emmanuel Macron. Am Ende wurde es Webers Parteikollegin von der Leyen.

Diese war damals noch deutsche Verteidigungsministerin und im Amt mäßig erfolgreich. Als Kommissionspräsidentin hatte sie mit großen Krisen zu kämpfen, die Corona-Pandemie und der russische Angriffskrieg prägten die vergangenen fünf Jahre. Doch auch ambitionierte Digitalprojekte, allen voran der Kampf gegen die Macht der großen Tech-Konzerne aus Übersee, standen auf ihrer  Agenda. Es gab sehr viele Vorhaben, zu viele für einen Text. Wir beschränken uns deshalb hier auf die, die sie in ihrer Agenda angekündigt hatte. Soviel sei zu ihnen schon einmal verraten: Während von der Leyen sich das Erreichen wichtiger Meilensteine auf die Fahne schreiben kann, blieb sie bei digitalen Grund- und Bürgerrechten hinter den großen Worten zurück.

Großes Update für die Plattformregulierung

Das wichtigste digitalpolitische Vorhaben der VdL-Kommission war wohl das Mammutgesetz für Digitale Dienste. Dieses ist zwar, wie wir damals kommentierten, weder ein Plattformgrundgesetz noch eine Revolution, aber trotzdem eine sehr wichtige Neuregelung der großen Online-Plattformen. Das Gesetz soll unter anderem Haftung und Sicherheit von Sozialen Medien verbessern und Plattformkonzerne stärker in die Pflicht nehmen. Wie gut das gelingt, wird sich erst in den nächsten Jahren zeigen. In den ersten Monaten, in denen das Gesetz vollständig gültig war, ging die Kommission jedenfalls bereits hart gegen Plattformen vor, die sich nicht an die Regeln hielten.

Das Schwestergesetz ist das Gesetz für Digitale Märkte, auf Englisch Digital Markets Act (DMA). Das hat einige seiner Ziele übernommen, etwa bessere Regeln für Produkte. Wenn der DMA die erhoffte Wirkung auf die Marktübermacht dieser Unternehmen entfaltet, könnte es sogar das wichtigere der beiden Gesetze werden. Dabei war im Programm von der Leyens vom DMA noch gar keine Rede.

Normalisierung biometrischer Überwachung

Zu den beiden Plattformgesetzen gesellt sich das Großvorhaben einer Verordnung zu Künstlicher Intelligenz. Eigentlich wollte von der Leyen bereits in den ersten 100 Tagen ihrer Amtszeit ein Gesetz vorschlagen, das Künstliche Intelligenz regulieren soll, gedauert hat es noch bis 2021. Ein Jahr später brachte der ChatGPT-Boom das Thema dann auf einmal ganz nach vorn auf die politische Agenda. Das Gesetz stand damals schon halb, musste noch einmal grundlegend erweitert werden und wäre auf den letzten Metern fast noch gescheitert. Am Ende kam es ohne ausreichende Verbote für biometrische Überwachung über die Ziellinie. Damit läuft die Verordnung Gefahr, großflächige Überwachung in Europa zu ermöglichen.

Für Menschen, die an Europas Außengrenzen ankommen, ist die umfassende Überwachung bereits Realität. Wer auf der Flucht etwa an der griechischen Grenze ankommt, musste bisher schon seine Fingerabdrücke preisgeben. Mit dem groß angelegten neuen Migrationspakt kommen dazu nun auch noch biometrische Fotos. Das ist zwar nur ein Teilaspekt der unter von der Leyens Führung verschärften Abschottungspolitik der EU gegen Geflüchtete. Doch für Migrant:innen kann das, wenn sie wegen ihrer Fingerabdrücke zurück in ein unsicheres Heimatland geschickt werden, den Tod bedeuten.

Steuerprobleme noch nicht gelöst

Die Tech-Riesen sind auch deshalb mächtig, weil sie Geld scheffeln. Meta, der Mutterkonzern von Facebook, machte im vergangenen Jahr einen Umsatz von umgerechnet 126 Milliarden Euro. Das entspricht ungefähr der gesamten Volkswirtschaft der Slowakei. Gleichzeitig bezahlten sie lange verschwindend geringe Steuern, durch kreative Unternehmensstrukturen und besondere Deals. Von der Leyen hatte angekündigt, dagegen vorgehen zu wollen: Steuern für Tech-Riesen sollten „ganz oben auf der Agenda“ stehen.

Das bezog sich besonders auf Verhandlungen bei der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, der OECD. Diese wurden 2021 abgeschlossen, Ergebnis war ein Deal aus zwei Teilen: Einerseits sollen die Gewinne großer Unternehmen in den Ländern besteuert werden, in denen sie sie erzielen. Andererseits soll es weltweite Minimalsteuer von 15% auf Unternehmen geben.

Die Minimalsteuer ist in der EU umgesetzt, die entsprechende Richtlinie gilt seit Anfang dieses Jahres. Schwieriger sieht es bei der Verteilung der Gewinne aus, denn hier sträuben sich die USA. Dort sitzen viele Tech-Riesen, das Land hätte also viel zu verlieren – und hat deshalb schon angekündigt, auf Steuern mit Strafzöllen zu reagieren. Der Prozess verzögert sich deshalb momentan immer weiter, wahrscheinlich bis nach der US-Präsidentschaftswahl. Das kann man von der Leyen nicht wirklich vorwerfen, aber Priorität hatte das Thema für sie auch nicht.

Grundwerte: Große Worte, wenig Taten

„Bei der Verteidigung unserer Grundwerte dürfen wir keine Kompromisse eingehen. Angriffe auf die Rechtsstaatlichkeit erschüttern die Union in ihren rechtlichen, politischen und wirtschaftlichen Grundfesten.“ Vor ihrem Amtsantritt fand von der Leyen starke Worte zur Verteidigung der europäischen Werte – weniger stark war ihre Reaktion auf den Pegasus-Skandal. Medien und Nichtregierungsorganisationen hatten enthüllt, dass der Pegasus-Trojaner der israelischen NSO Group in mehreren Mitgliedstaaten, darunter Spanien und Polen, gegen Oppositionelle eingesetzt wurde.

Die Details dazu, ob und wie europäische Regierungen hier ihre eigenen Bürger:innen und politischen Feinde ausgespäht haben, wird die europäische Öffentlichkeit aber wahrscheinlich nie erfahren. Das EU-Parlament drängte mit einem eigenen Untersuchungsausschuss auf die Aufklärung des Skandals, den wir intensiv begleitet haben. Die Kommission blieb trotzdem untätig. Die Mitgliedstaaten verstecken sich hinter der Ausrede der nationalen Sicherheit – sobald die berührt ist, hat die EU nichts mehr zu melden. Nur Polen und seit neuestem auch Spanien arbeiten daran, die Spionage aufzuklären.

Mit aller Macht trieben die EU-Kommission und Innenkommissarin Ylva Johansson stattdessen das Vorhaben der Chatkontrolle voran: Um Darstellungen von Kindesmissbrauch und andere illegale Inhalte aufzuspüren, sollten mittels Client-Side-Scanning Chat-Nachrichten proaktiv durchsucht werden. Das Vorhaben dieser Massenüberwachung ist vorerst gescheitert, doch sicher nicht vom Tisch.

Von der Leyens SMS bleiben geheim

Von der Leyen hatte sich auch mehr Transparenz auf die Fahnen geschrieben. „Die Bürgerinnen und Bürger sollten wissen, mit wem wir – als die Organe, die ihnen dienen – uns treffen, mit wem wir diskutieren und welche Positionen wir vertreten“, hieß es in ihren Leitlinien. Tatsächlich veröffentlichen alle EU-Kommissar:innen und ihre leitenden Mitarbeiter:innen im EU-Transparenzregister, mit wem sie sich zu welchen Themen treffen. So etwas gibt es auf Bundesebene nicht. Per Informationsfreiheitsantrag kann auch jede Bürger:in die Protokolle dieser Treffen anfordern.

Nicht so genau nahm von der Leyen es aber mit der Transparenz, wenn es um ihre SMS ging. Die standen im Zentrum von „Pfizergate“, einem Skandal, den unser ehemaliger Kollege Alexander Fanta losgetreten hat. Er hatte per Informationsfreiheitsanfrage die SMS angefordert, die von der Leyen mit dem Chef von Impfstofflieferant Pfizer ausgetauscht hatte, um einen Lieferdeal einzufädeln. Die Kommission hat die SMS bis heute nicht herausgerückt, die Europäische Bürger:innenbeauftragte hat sie dafür verwarnt. Eine Klage der New York Times läuft noch.

Nur eine abgespeckte Verordnung zur Plattformarbeit

Online-Plattformen gibt es nicht mehr nur für Videos oder Bilder, sondern zunehmend auch für Jobs. Vor zwei Jahren arbeiteten laut der Kommission noch 28 Millionen Europäer:innen auf Online-Plattformen, im 2025 sollen es schon 43 Millionen sein. Vor dem Amtsantritt hatte von der Leyen angekündigt, prüfen zu wollen, wie man die Arbeitsbedingungen dieser Menschen verbessern kann, „insbesondere im Hinblick auf Kompetenzen und Bildung.“

Daraus wurde dann ein wenig mehr – auch durch den Einsatz von Nicolas Schmit, dem sozialdemokratischen Arbeitskommissar von der Leyens. Statt einer vagen Erklärung für mehr Digitalkompetenz legte die Kommission einen ambitionierten Vorschlag für eine Richtlinie zur Plattformarbeit vor. Die sollte europaweit einheitliche Regeln gegen Scheinselbstständigkeit einführen, dazu noch neue Rechte bei algorithmischen Entscheidungen. Fast wäre das Vorhaben am Widerstand Frankreichs und der FDP gescheitert. Am Ende wurde es eine abgespeckte Richtlinie, die zwar mehr Rechte für Plattformarbeiter:innen bringt, aber den Mitgliedstaaten mehr Macht überlässt – die diese etwa unter Macron gegen Arbeiter:innen nutzen dürften.

Viel erledigt, aber nicht immer gut

Vom 6. bis 9. Juni wählen die Menschen in der EU ein neues Parlament. Es ist wahrscheinlich, dass Ursula von der Leyen danach weitere fünf Jahre Zeit bekommt, um die Geschicke der EU zu leiten. Am Montag stellte sich von der Leyen das erste Mal ihren Konkurrent:innen für den Posten als Kommissionspräsidentin. Sie ist diesmal offiziell Spitzenkandidatin der EVP, diese führt in Umfragen haushoch. Wenn nicht die Sozialdemokraten noch überraschend einen Turbo-Wahlkampf hinlegen oder die Mitgliedstaaten wieder eine andere Überraschungskandidatin aus dem Hut zaubern, wird es eine zweite VdL-Kommission geben.

Auf dem Papier kann Ursula von der Leyen eine ordentliche Bilanz vorweisen. Von den großen digitalpolitischen Brocken, die sie sich vorgenommen hatte – Plattformen neu regeln, Steuern auf ihre Gewinne erheben, die Grundwerte der EU verteidigen – hat sie viele umsetzen können. Doch nicht jede beschlossene Verordnung ist eine gute Verordnung, das zeigt sich besonders bei der KI-Verordnung. Wenn man Projekte auf Teufel komm heraus fertigstellen will, dann leidet oft die Qualität. Bei Einbauschränken heißt das, dass die Türen klappern – bei Gesetzen kann es bedeuten, dass sie massenhafte biometrische Überwachung ermöglichen.

So stark von der Leyens Ergebnisse im Ringen mit den US-Plattformkonzernen sind, so düster ist die digitalpolitische Bilanz bei den Grundwerten. Sollte sie eine zweite Amtszeit erreichen, hätte Ursula von der Leyen die Möglichkeit, ihren großen Worten hier Taten folgen zu lassen, vor allem bei Transparenz und Bürgerrechten.

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Author: Maximilian Henning

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