Dieser Artikel stammt von Netzpolitik.org.
Für eine repräsentative Studie wurden Tausende Internet-Nutzer*innen über Formen von Hass im Netz befragt. Die Ergebnisse erstaunen: Von fast jeder zehnten Person wurden schon intime Bilder geleakt. Mehr als jede zweite Person zieht sich aus Online-Debatten zurück. Zugleich sagt eine knappe Mehrheit: Hass im Netz – noch nie gesehen. Eine Analyse.
Anfeindungen, Drohungen und Beleidigungen im Netz treffen nicht alle gleich. Manche bekommen davon gar nichts mit, anderen wird dadurch das Leben zur Hölle gemacht. Durch eine repräsentative Umfrage lässt sich nun die Verbreitung verschiedener Formen von Hass und Gewalt im Netz beziffern. Mehr als 3.000 deutschsprachige Internet-Nutzer*innen ab 16 Jahren haben sich befragen lassen, angestoßen von den Organisationen Das NETTZ, GMK, HateAid und NdM.
Rund die Hälfte der befragten Nutzer*innen ist im Netz schon einmal beleidigt worden (49 Prozent), einem Viertel wurde schon einmal gedroht, etwa mit körperlicher Gewalt. Mehrere Fragen der Studie drehen sich um sexualisierte Gewalt im Netz. Zahlen über die Verbreitung solcher Phänomene in Deutschland sind rar, nun liegen aktuelle vor:
- 29 Prozent sagten: Mir wurde ungefragt ein Nacktfoto geschickt, z. B. ein Dickpic.
- 13 Prozent sagten: Mir wurde sexualisierte Gewalt (z.B. Vergewaltigung) angedroht.
- 11 Prozent sagten: Intime Fotos oder Videos von mir wurden verbreitet.
- 9 Prozent sagten: Eine Person hat intime Fotos oder Videos mit meinem Gesicht gefälscht und anschließend verbreitet (Deepfake).
Wenn Menschen intime Aufnahmen gegen den Willen der gezeigten Personen verbreiten, ist das umgangssprachlich als „Racheporno“ bekannt. Viele Betroffene und Fachleute sprechen lieber von bildbasierter Gewalt. Es ist beachtlich, dass laut Umfrage rund jede zehnte Person davon betroffen ist. Jüngst hat sich die EU auf ein neues Gesetz geeinigt, das bildbasierte Gewalt ausdrücklich unter Strafe stellt.
Auch Doxing ist kein Nischenphänomen, wie aus der Studie hervorgeht. So nennt man es, wenn Menschen persönliche Informationen wie die Wohnadresse ohne Einverständnis ihrer Opfer veröffentlichen, etwa um ihnen Angst zu machen. Mehr als jede fünfte Person (22 Prozent) hat das laut Umfrage schon erlebt. In Deutschland ist Doxing inzwischen strafbar.
Einige Gewaltformen treffen junge Frauen (16 – 24 Jahre) besonders hart, wie die Studie zeigt. Mehr als vier von zehn wurde demnach schon ungefragt ein Nacktfoto geschickt; bei jungen Männern ist es einer von zehn. Sexuelle Belästigung wurde bei jungen Frauen (20 Prozent) knapp drei Mal so oft verzeichnet wie bei jungen Männern (7 Prozent).
Marginalisierte Gruppen besonders von Hass im Netz betroffen
Hass im Netz ist kein eindeutig definierter Begriff. Das macht eine repräsentative Umfrage dazu schwierig. Die Autor*innen würden ein ganze Reihe von Phänomenen darunter zusammenfassen – viele Befragte eher nicht. So haben nur 15 Prozent angegeben, selbst von Hass im Netz betroffen zu sein. Allerdings haben deutlich mehr Nutzer*innen Ja gesagt, als sie nach konkreten Erlebnissen gefragt wurden, etwa Beleidigung, Doxing oder Erhalt unerwünschter Nacktfotos. Das heißt, sie sind durchaus von „Hass im Netz“ im Sinne der Autor*innen betroffen; sie hätten es aber selbst nicht so genannt.
Einige gesellschaftliche Gruppen sind besonders stark von „Hass im Netz“ betroffen, wie die Studie zeigt. Bei jungen Frauen sagt schon knapp ein Drittel, selbst von „Hass im Netz“ betroffen zu sein, ebenso „Menschen mit Migrationshintergrund“ und Menschen mit homo- oder bisexueller Orientierung. Das heißt, diese Gruppen müssen sich etwa doppelt so oft mit „Hass im Netz“ herumschlagen wie der Rest der Bevölkerung. Die Autor*innen der Studie stellen in einer Fußnote klar, dass der Begriff „Migrationshintergrund“ oft als stigmatisierend empfunden wird.
Nicht nur die Befragten fremdeln mit dem Wort „Hass im Netz“, der Begriff hat über die Jahre mehrere Wandlungen durchgemacht. In der Berichterstattung auf netzpolitik.org fällt eher der Begriff digitale Gewalt, mit dem es einige Schnittmengen gibt. Er ist weiter gefasst und rückt weniger die Gefühlswelt von Täter*innen in den Vordergrund. Doch auch digitale Gewalt ist nicht einheitlich definiert und dürfte für viele Menschen noch ein Fremdwort sein.
Wenn Aufklärung über Hass als „Hass“ verstanden wird
Ein anderes Detail der Studie macht anschaulich, wie Begriffe aus Fachkreisen offenbar in der breiten Öffentlichkeit anders verstanden werden. Rund drei Viertel der Befragten findet: Ja, es sei „Hass im Netz“, wenn eine Person sagt, dass weiße Menschen rassistisch seien. Aus Rassismus-kritischer Perspektive ist diese Einschätzung haarsträubend.
Offenbar haben viele Befragte ein grobes Verständnis von Rassismus und betrachten ihn als eine Art persönlichen Vorwurf, den man sich keinesfalls gefallen lassen sollte – nicht etwa als eine historisch entstandene, gesellschaftliche Machtstruktur, von der weiße Menschen profitieren und der niemand vollständig entrinnen kann.
Das Beispiel zeigt, wie schwer es ist, sozial konstruierte Phänomene genau messen, wenn Menschen zu den zentralen Begriffen schon sehr verschiedene Vorstellungen haben. Enorm erschwert wird das Engagement gegen Hass im Netz, wenn bereits Aufklärungsversuche als Hass interpretiert werden – beispielsweise der Versuch, weiße Menschen über ihren oft nicht reflektierten Rassismus aufzuklären.
Jede*r zweite will noch nie „Hass im Netz“ gesehen haben
Immerhin, nach der bewusst offen gehaltenen Frage zu „Hass im Netz“ wurde den Teilnehmenden der Umfrage eine Definition davon vorgelegt – und sie wurden gefragt, wie ob sie so etwas schon mal persönlich beobachtet haben:
Hass im Netz bezeichnet eine Vielzahl unterschiedlicher, u.a. abwertender, entwürdigender, auf Einschüchterung zielender oder verhetzender Online-Phänomene gegenüber Personen oder bestimmten Personengruppen. Die Ausprägungen können sehr vielfältig sein, z.B.: Beleidigungen und Drohungen, üble Nachrede und Verleumdungen, sexuelle Belästigungen (z. B. durch Dickpics), Verbreitungen von (Nackt-)Fotos ohne Zustimmung, Nachstellungen, Stalking oder Belästigungen.
Überraschend: Rund die Hälfte (52 Prozent) der befragten Internet-Nutzer*innen gab an, so etwas noch nicht selbst gesehen zu haben. Die brodelnden Hetzkampagnen und Empörungsstürme die täglich auf sozialen Medien wüten; die vergifteten Nachrichten in den Kommentarspalten, bei denen einige den Glauben an die Menschheit verlieren – an einer knappen Mehrheit der Internet-Nutzer*innen geht all das wohl einfach vorbei.
Rückzug aus Online-Debatten
Zumindest davon gehört haben allerdings die meisten: Volle 89 Prozent stimmen der Aussage zu, dass Hass im Netz in den letzten Jahren zugenommen habe. Ziel des Hasses sind nach Wahrnehmung der Befragten vor allem Politiker*innen, Geflüchtete, Aktivist*innen, „Menschen mit Migrationshintergrund“, „Menschen, die ihre politische Meinung äußern“ und queere Menschen. Diese Liste ist vielsagend: Es sind ausgerechnet jene gesellschaftlichen Gruppen, die gezielt von Rechten und Rechtsextremen angefeindet werden.
Die Konsequenzen können drastisch sein, wie aus der Studie hervorgeht. Mehr als die Hälfte aller Befragten (55 Prozent) sagt: Ich beteilige mich wegen Hass im Netz seltener an Diskussionen im Internet. Der Wert liegt noch höher bei Menschen, die selbst von Hass betroffen sind. Hier ziehen sich 70 Prozent aus Diskussionen im Netz zurück.
Die Autor*innen warnen: „In Zeiten von Wahlen ist diese Entwicklung besonders gefährlich.“ In Online-Diskursen werde Hater*innen das Feld überlassen. „Nicht selten führt das zum Eindruck, dass diese in der Mehrheit seien. Meinungsbildungsprozesse werden so stark beeinträchtigt.“ Gerade bei jüngeren Menschen sei das ein Problem, weil sie politische Informationen primär über soziale Netzwerke beziehen.
Was passiert nach dem Rückzug?
Die Studie argumentiert hier zwar folgerichtig, die Perspektive ist aber recht eng. Meist sind kommerzielle Social-Media-Plattformen der Schauplatz solcher Online-Diskussionen. Auch ohne „Hass im Netz“ können sie ein problematischer Raum für Debatten sein, und zwar aufgrund ihrer Struktur. Denn nicht nur suchen Rechtsextreme und Trolle dort gezielt nach Opfern, um sie mit Hass zu zermürben.
Auch ohne solche Übergriffe sind algorithmisch sortierte Feeds dafür optimiert, Menschen lange am Bildschirm zu halten. Aufwühlende Inhalte werden mit Likes und Shares belohnt und deshalb eher auf die Bildschirme anderer Nutzer*innen gespült; man könnte sich täglich stundenlang darin verlieren. Die Zeit und Aufmerksamkeit der Menschen wird als Ressource ausgeschöpft, um mittels Online-Werbung Geld zu verdienen.
Es kann also auch gute Gründe geben, sich zumindest teilweise davon zurückzuziehen, und zu sagen: Woanders kann ich mehr erreichen. Dennoch sollte so eine Entscheidung, wo und in welchem Ausmaß man sich politisch einbringt, frei und selbstbestimmt erfolgen – und nicht weil übergriffige Menschen einen Raum mit Drohungen und Beleidigungen für sich beanspruchen.
Die Zahlen über den Rückzug aus nervenzehrenden Online-Debatten werfen die Frage auf: Was tun die Menschen stattdessen? Organisieren sie sich etwa in kleineren Foren oder Messenger-Gruppen, die sie mehr motivieren? In der Nachbarschaft, in Vereinen, Lesezirkeln, Gemeinden oder Parteien? Gehen sie auf die Straße demonstrieren? Über das selbstgesteckte Ziel der Studie gehen solche Fragen hinaus; hier könne weitere Forschung ansetzen.
Forderung nach mehr Hilfsangeboten und Geld
Die Autor*innen der Studie ziehen zunächst andere Konsequenzen aus den Ergebnissen. Sie fordern etwa mehr Beratungsstellen für Betroffene von Hass. Vergangenes Jahr haben wir berichtet, wie wenig solcher Hilfsangebote es gibt, und wie sie unter Geldnot leiden. Eine weitere Forderung der Autor*innen sind geschulte und sensibilisierte Strafverfolgungsbehörden, die Betroffene ernst nehmen. Wie gering das Problembewusstsein bei einigen Behörden ist, zeigte etwa nicht zuletzt eine Recherche des ZDF Magazin Royale aus dem Jahr 2022.
Schließlich fordern die Autor*innen, dass kräftig Geld fließen soll. Einerseits vom Staat, und zwar durch eine milliardenschwere „nationale Bildungsoffensive Medienkompetenz“; andererseits von Unternehmen. Die Autor*innen prangern an, dass die Geschäftsmodelle der Social-Media-Plattformen Hass begünstigen, und wollen sie deshalb zur Kasse bitten – „um die gesellschaftlichen Kosten für diese Schäden in ausreichendem Maße zu tragen“.
Wie genau sich so etwas durchsetzen ließe, das führt die Studie nicht weiter aus. Einfach wäre das sicher nicht, und es wirft die Frage auf, welche Verantwortung Dienste-Anbieter überhaupt haben sollten. Schon jetzt verlangt die EU-Verordnung über digitale Dienste (DSA): Sehr große Online-Plattform sollen etwas von ihrem Umsatz abdrücken, um für ihre staatliche Regulierung aufzukommen. Doch kaum ist das Gesetz in Kraft, ziehen die Milliardenkonzerne Meta und TikTok vor Gericht, um sich Kosten vom Hals zu halten.
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Author: Sebastian Meineck