Dieser Artikel stammt von Netzpolitik.org.
Die EU-Mitgliedstaaten haben heute den Kompromisstext der KI-Verordnung bestätigt. Das größte Regelwerk der Welt für Künstliche Intelligenz wird damit wahrscheinlich noch vor den EU-Wahlen in Kraft treten – ungeachtet der breiten Kritik am gesetzgeberischen Prozess und an der drohenden Massenüberwachung.
Die Entscheidung war mit Spannung erwartet worden: Der Ausschuss der stellvertretenden ständigen Vertreter der einzelnen EU-Mitgliedstaaten (AStV I) hat heute mehrheitlich den endgültigen Kompromisstext der KI-Verordnung bestätigt. Damit wird die Verordnung nach drei Jahren Verhandlung sehr wahrscheinlich noch vor den EU-Wahlen im Juni in Kraft treten.
Die Ausschussabstimmung geht dem Beschluss des EU-Rats voraus. Er setzt sich aus den zuständigen Minister:innen aller EU-Regierungen zusammen und hat die offizielle Entscheidungsbefugnis. Aller Voraussicht nach wird sich der Rat dem heutigen Wahlergebnis anschließen.
Deutsche und französische Regierung zögerten
Noch vor wenigen Tagen war ungewiss, ob der Ausschuss der Trilog-Einigung zustimmen wird. Erst am Dienstag gaben Bundesdigitalminister Volker Wissing (FDP) sowie das Justizministerium unter Marco Buschmann (FDP) und das von Robert Habeck (Grüne) geführte Wirtschaftsministerium die Entscheidung bekannt: Die Bundesregierung werde der Verordnung zustimmen. Das Justiz- und das Wirtschaftsministerium sind bei der KI-Verordnung im Kabinett federführend. Das Digitalministerium ist in den Beratungen lediglich mit eingebunden.
Wissing hatte sich zuvor für „innovationsfreundlichere“ Regeln eingesetzt und Verbesserungen für kleine und mittlere Unternehmen gefordert. Der Minister kritisierte vor allem die unzureichende Regulierung kleinerer KI-Basismodelle und die aus seiner Sicht zu niedrigen Hürden für die nachgelagerte biometrische Überwachung.
Auch die französische Regierung zeigte sich unzufrieden mit dem vorliegenden Entwurf. Sie strebte einen Aufschub der heutigen Abstimmung um mindestens eine Woche an. Präsident Emmanuel Macron befürchtet – anders als Wissing – eine Überregulierung der Basismodelle und fordert laxere Regeln bei der biometrischen Überwachung.
Hätte sich die Bundesregierung im Vorfeld auf die Seite Frankreichs, Italiens und anderer kleiner EU-Länder wie Ungarn geschlagen, wäre das Gesetz wahrscheinlich gescheitert.
„Intransparenter“ und „chaotischer“ Prozess
Die Entscheidung für den KI-Entwurf wird von vielen Seiten begrüßt. Bereits im Vorfeld hatte der Startup-Verband dafür geworben, die Verordnung anzunehmen. Auch ein „Bündnis aus Wissenschaft, Thinktanks, Wirtschaft und Zivilgesellschaft“ sprach sich in einem von der Mercator-Stiftung initiierten offenen Brief dafür aus. Ebenso befürwortete die Kultur-, Kreativ- und Medienwirtschaft ein zustimmendes Votum.
Aber es gibt auch weiterhin deutliche Kritik. So beschreibt Kai Zenner den gesetzgeberischen Prozess als „intransparent“ und „chaotisch“. Im Ergebnis sei die Verordnung „an vielen Stellen extrem vage geworden, zum Teil auch fehlerhaft“, so der Büroleiter des Europaabgeordneten Axel Voss (EVP) gegenüber heise online.
Zum anderen warnen Fachleute davor, dass die KI-Verordnung europaweit Massenüberwachung ermögliche. So kritisiert EDRi, der Dachverband von Organisationen für digitale Freiheitsrechte in Europa, dass die Verordnung „das Ergebnis eines großen Machtungleichgewichts zwischen den EU-Institutionen“ sei. Die nationalen Regierungen und die Lobbys der Strafverfolgungsbehörden hätten sich gegen jene Kräfte durchgesetzt, „die das öffentliche Interesse und die Menschenrechte vertreten“.
Auch AlgorithmWatch sieht die Einigung kritisch. Der Kompromiss offenbare „einen systemischen Fehler“ bei der EU-Gesetzgebung: „Die nationalen Regierungen und die Strafverfolgungslobby haben einen unverhältnismäßig großen Einfluss“, so Angela Müller, Policy- & Advocacy-Leiterin bei der Nichtregierungsorganisation. Im Ergebnis lege die Verordnung zwar „wichtige grundlegende Transparenzpflichten fest“, ergänzt Müllers Stellvertreter Kilian Vieth-Ditlmann. Sie biete „aber keinen ausreichenden Schutz vor biometrischer Massenüberwachung“.
Das Bündnis Reclaim your Face kritisiert ebenfalls den „verwässerten Schutz gegen die rückwirkende Gesichtserkennung“. Sie sei „eine weitere Enttäuschung in unserem Kampf gegen eine biometrische Überwachungsgesellschaft“.
Nationalstaaten können Überwachung noch beschränken
Auch Alexandra Geese, Digitalexpertin der Fraktion Greens/EFA und stellvertretende Fraktionsvorsitzende, ist nicht ganz zufrieden. Zwar setze die EU mit der KI-Verordnung „einen globalen Standard für Künstliche Intelligenz, auf den auch die USA mit großer Aufmerksamkeit schauen“. Zugleich sagte die EU-Abgeordnete gegenüber netzpolitik.org, dass es nicht gelungen sei, besonders grundrechtswidrige Anwendungen wie die biometrische Massenüberwachung „zu zähmen“. Dies müsse nun auf Ebene der Mitgliedstaaten geschehen.
Diesen Plan verfolgt offenbar auch die FDP. Deren digitalpolitischer Sprecher Maximilian Funke-Kaiser fordert die Bundesregierung auf, den Einsatz biometrischer Überwachung nun „so weit wie möglich“ auf nationaler Ebene einzuschränken.
Nachdem der EU-Rat über die Verordnung abgestimmt hat, muss voraussichtlich bis April noch das Parlament in den zuständigen Ausschüssen und im Plenum abschließend den finalen Gesetzestext verabschieden. Erst dann wird dieser im Amtsblatt der EU veröffentlicht, womit er in Kraft tritt. Bis die neuen Regeln vollständig angewandt werden, vergehen zwei weitere Jahre.
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Author: Daniel Leisegang