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Juristische Einschätzung zur Kriminalisierung von Seenotrettung

GASTBEITRAG David Werdermann, ZUERST ERSCHIENEN BEI VERFASSUNGSBLOG

Es sind keine guten Zeiten für die Grund- und Menschenrechte. In atemberaubendem Tempo werden grundlegende Rechte von Flüchtlingen geschliffen und in Frage gestellt. Die geplante Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems und die EU-Krisenverordnung sollen den Flüchtlingsschutz weitgehend aushebeln und die Ampel will vor allem abschrecken und abschieben, egal wie realistisch das Ziel und wie hoch der rechtsstaatliche Kollateralschaden ist. Rassistische Stimmungsmache wird mit immer weiteren Verschärfungen des Asyl- und Aufenthaltsrechts belohnt, während Rufe nach einer menschenrechtsgeleiteten Flüchtlingspolitik verhallen.

Die einzige politische Kraft im Bundestag, die dem Abschottungskurs der Regierung widerspricht, wird in Kürze den Fraktionsstatus verlieren. Unterdessen wird die weitere Erosion des Flüchtlingsschutzes rhetorisch vorbereitet. Jens Spahn stellt offen die Genfer Flüchtlingskonvention und die Europäische Menschenrechtskonvention infrage und will Migrant*innen gegebenenfalls „mit physischer Gewalt“ aufhalten. Ist das auch gemeint, wenn Altbundespräsident Joachim Gauck Spielräume entdecken will, „die inhuman klingen“, und Vizekanzler Robert Habeck sich offen für „moralisch schwierige Entscheidungen“ zeigt?

In diesen Zeiten kann man dankbar sein, wenn Repräsentant*innen des Staates menschenrechtliche Selbstverständlichkeiten aussprechen. Auf die Frage des extrem rechten Milliardärs Elon Musk, ob der deutschen Öffentlichkeit bekannt sei, dass deutsche Seenotrettungsorganisationen staatliche subventioniert werden, antwortete das Auswärtige Amt mit seinem offiziellen X-Account knapp und zutreffend: „Yes. And it’s called saving lives.“

Wer nach diesem Statement erleichtert aufatmete, muss sich jedoch eines Besseren belehren lassen. Erst distanziert sich Bundeskanzler Scholz öffentlich von der Finanzierung der Seenotrettung. Nun hat das Bundeskabinett einen Gesetzentwurf vorgelegt, der Fluchthilfe stärker kriminalisieren soll. Das kann auch Seenotrettungsorganisationen treffen, wie die Süddeutsche Zeitung berichtet. Die Bundesregierung fördert also einerseits (noch?) die Seenotrettung, will sie aber andererseits der Gefahr einer Kriminalisierung in Deutschland aussetzen. Auch darüber hinaus wird die Strafbarkeit der Fluchthilfe ausgeweitet.

Versteckte Ausweitung der Strafbarkeit des Einschleusens

Der Straftatbestand des „Einschleusens von Ausländern“ findet sich in § 96 Aufenthaltsgesetz (AufenthG). Absatz 1 enthält den Grundtatbestand. Danach macht sich u.a. strafbar, wer einem anderen dazu Hilfe leistet, ohne erforderlichen Aufenthaltstitel in das Bundesgebiet einzureisen. Der Tatbestand setzt jedoch weiter voraus, dass der oder die Hilfeleistende einen Vorteil erhält oder sich versprechen lässt (Nr. 1 Buchstabe a), oder wiederholt oder zugunsten von mehreren Ausländern handelt (Nr. 1 Buchstabe b). Die Strafbarkeit des Einschleusens in einen anderen EU- oder Schengen-Staat, wie zum Beispiel Italien oder Griechenland, ist in Absatz 4 geregelt. Dieser verweist bisher nur auf das Hilfeleisten gegen einen Vorteil nach § 96 Abs. 1 Nr. 1 Buchstabe a AufenthG (und auf bestimmte Qualifikationstatbestände des Absatzes 2). Das uneigennützige „Einschleusen“ in einen anderen EU- oder Schengen-Staat ist bisher grundsätzlich straffrei in Deutschland (vgl. BGH, Urteil v. 15. März 2021, 5 StR 627/19, Rn. 20 f.).

Das soll sich nach dem Willen der Bundesregierung ändern. In der jüngst auf den Weg gebrachten Reform des Migrationsrechts findet sich folgender kryptischer Satz:

Im Satzteil vor der Nummer 1 werden die Wörter „Absatz 1 Nr. 1 Buchstabe a, Nr. 2, Absatz 2 Satz 1 Nummer 1, 2 und 5“ durch die Wörter „Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 und 2, Satz 2, Absatz 2 Satz 1 Nummer 1, 2, 3, 5 und 6, Satz 2“ ersetzt.

Der Satz wurde als Formulierungshilfe für einen Änderungsantrag der Ampel-Fraktionen zum Ende Oktober eingebrachten Entwurf für ein „Rückführungsverbesserungsgesetz“ beschlossen. Nimmt man diesen Gesetzentwurf hinzu, wird klar, dass der Änderungsbefehl sich auf § 96 Abs. 4 AufenthG bezieht, also auf die Strafbarkeit des Einschleusens in einen anderen EU-Staat. Künftig soll somit die gesamte Nr. 1, also auch das uneigennützige Einschleusen nach Nr. 1 Buchstabe b von dem Tatbestand erfasst sein. Auf einen Vorteil für die Hilfeleistenden kommt es danach nicht mehr an. Ausreichend ist, dass wiederholt oder zugunsten von mehreren Ausländern gehandelt wird. Die Formulierungshilfe enthält keine Begründung für diese Ausweitung des Tatbestands.

Seenotrettung als Straftat?

Wenn die Änderung in Kraft treten sollte, dürfte künftig jede Seenotrettung den Straftatbestand des Einschleusens nach § 96 Abs. 4, Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchstabe a AufenthG erfüllen. Denn mit dem Ansteuern italienischer Häfen leisten die Seenotretter*innen Hilfe zur Einreise in einen anderen EU-Mitgliedsstaat. Diese Einreise verstößt in der Regel auch gegen Art. 4 Abs. 1 des italienischen Immigrationsgesetzes, weil die Flüchtlinge nicht über die erforderlichen Visa verfügen (vgl. BGH, Urteil v. 15. März 2021, 5 StR 627/19, Rn. 19). Zudem retten die NGOs meistens mehr als eine Person und handeln damit zugunsten von mehreren Personen.

Laut einer Stellungnahme des Innenministeriums ist eine Strafbarkeit nicht beabsichtigt. „Derartige Handlungen sind als gerechtfertigt anzusehen, um Gefahren für Leib und Leben abzuwenden“, so ein Sprecher des Ministeriums gegenüber der Süddeutschen Zeitung. Damit ist wohl der rechtfertigende Notstand nach § 34 StGB angesprochen. Dieser verlangt jedoch eine Interessenabwägung, deren Ausgang vor Gericht kaum vorauszusagen ist.

In Betracht kommt zudem eine Rechtfertigung nach Seerecht

In Betracht kommt zudem eine Rechtfertigung nach Seerecht. Danach sind Schiffsführer*innen verpflichtet, bei Rettungen die Anordnungen der zuständigen Rettungsleitstelle zu befolgen. Für die Schiffe unter deutscher Flagge folgt das aus § 2 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung über die Sicherung der Seefahrt, der insofern einen strafrechtlichen Rechtfertigungsgrund darstellen dürfte. Im Moment übernimmt meistens Italien die Koordination und weist die Schiffe italienischen Häfen zu.

Aber was ist, wenn die zuständige Leitstelle künftig anordnet, dass Flüchtlinge zurück nach Libyen gebracht werden müssen? Die Anordnungen wären zwar rechtswidrig, weil die Leitstellen nach internationalem Seerecht verpflichtet sind, Schiffe mit Geretteten an einen sicheren Ort zu lotsen. Was daraus für die strafrechtliche Verantwortlichkeit der Schiffsführer*innen folgt, ist jedoch nicht geklärt. Sie können sich unter Umständen – wie im Fall Carola Rackete – auf das völkergewohnheitsrechtliche Nothafenrecht berufen, aber auch dessen genaue Voraussetzungen sind umstritten.

bis zu zehn Jahren Freiheitsstrafe

Jedenfalls wären Seenotretter*innen einem erheblichen Strafbarkeitsrisiko ausgesetzt, wenn sie den Anordnungen nicht Folge leisten und italienische oder andere europäische Häfen ansteuern. Auf das Einschleusen sollen nach den Plänen der Bundesregierung künftig bis zu zehn Jahren Freiheitsstrafe stehen. Zudem drohen bei einem bloßen Verdacht Telekommunikationsüberwachung und Beschlagnahmen, die die Arbeit der Organisationen massiv behindern können. In Italien kommt es immer wieder zu Ermittlungsverfahren (siehe hier und hier). Die Crew des ehemaligen Rettungsschiffs Iuventa muss sich aktuell wegen angeblichen Einschleusens vor Gericht verantworten.

In Griechenland sind es vor allem Migrant*innen selbst, die wegen angeblichen Einschleusens vor Gericht gestellt und verurteilt werden. Ihnen wird oft vorgeworfen, Boote gesteuert und damit anderen Migrant*innen geholfen zu haben. Mit internationalem Recht ist das nicht vereinbar. Insbesondere können sich Flüchtlinge auf das Pönalisierungsverbot nach Art. 31 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) berufen, das nach zutreffender Auffassung auch Begleittaten wie das „Einschleusen“ von Mitreisenden umfasst. Die Reichweite der Norm ist jedoch umstritten (vgl. BVerfG, Beschluss v. 8. Dezember 2014, 2 BvR 450/11, Rn. 33 ff.), sodass Strafverfahren gegen Flüchtlinge bald womöglich auch in Deutschland drohen.

Strafbare Schleusung trotz Rechtfertigung der Einreise?

Seenotretter*innen und andere Fluchthelfer*innen können sich selbst nicht auf das Pönalisierungsverbot nach Art. 31 GFK berufen. Nach dem bisher geltenden deutschen Recht entfällt die Strafbarkeit des Einschleusens jedoch, wenn die geschleuste Person gerechtfertigt handelt. Dann ist der Tatbestand des Einschleusens schon nicht erfüllt. Denn dieser setzt nach dem Grundsatz der (limitierten) Akzessorietät eine vorsätzliche und rechtswidrige Haupttat (die unerlaubte Einreise) voraus.

Laut Bundesgerichtshof handelt es sich bei Art. 31 GFK jedoch um einen persönlichen Strafaufhebungsgrund, der die Rechtswidrigkeit der Einreise nicht entfallen lässt. Damit wäre die Beihilfe trotz Straflosigkeit der Flüchtlinge weiterhin möglich. Überzeugender ist es, die Norm (in Verbindung mit § 34 StGB) als Rechtfertigungsgrund anzuwenden, der auch die Strafbarkeit der Beihilfehandlung entfallen lässt (ausführlich El-Ghazi/Fischer-Lescano, StV 2015, 386). Flüchtlinge reisen nur deshalb unerlaubt ein, weil sie vor Verfolgung fliehen und ihren Antrag auf Schutz nur im Inland stellen können. Das Bundesverfassungsgericht spricht von einer „notstandsähnliche[n] Unmöglichkeit oder Unzumutbarkeit, angesichts einer aktuellen Verfolgungssituation die für die Einreise erforderlichen Formalitäten zu erfüllen“. Auch aus Art. 16a GG wird teilweise ein Rechtfertigungsgrund abgeleitet, der jedoch nicht gelten soll, wenn die asylsuchende Person aus einem sicheren Drittstaat einreist (kritisch dazu Schott-Mehrings, ZAR 2014, 142). Nimmt man eine Rechtfertigung hingegen an, macht sich auch die schleusende Person nicht strafbar.

Wenn es nach der Bundesregierung geht, hat sich diese Diskussion bald erledigt

Wenn es nach der Bundesregierung geht, hat sich diese Diskussion bald erledigt. Denn ihr Gesetzentwurf enthält noch eine weitere Verschärfung mit potenziell weitreichenden Folgen. § 96 Abs. 1 AufenthG soll um folgenden Satz 2 ergänzt werden:

„Ebenso wird bestraft, wer zugunsten eines Ausländers handelt, der keine vorsätzliche rechtswidrige Tat begangen hat.“

Die Bundesregierung reagiert damit auf eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs, nach der insbesondere bei Kindern der Vorsatz (und möglicherweise sogar die Handlungsfähigkeit) fehlen kann, was auch zur Straflosigkeit der Hilfeleistung führt. Der Unrechtsgehalt der Schleusung von Minderjährigen, Bewusstlosen oder Handlungsunfähigen, so die Bundesregierung, bleibe jedoch nicht hinter dem Unrechtsgehalt der Schleusung anderer Personen zurück. Das mag zutreffen, erklärt jedoch nicht, warum es künftig auch nicht mehr auf die Rechtswidrigkeit der Haupttat ankommen soll. Anders als beim fehlenden Vorsatz lässt eine Rechtfertigung den Erfolgsunwert entfallen. Für die Strafbarkeit der Beihilfe fehlt es am legitimen Zweck.

Fluchthilfe und das Recht auf Asyl

Politik und Polizei stellen Schleuser*innen gerne als skrupellose Kriminelle dar und inszenieren sich selbst als Beschützer*innen von Migrant*innen. Das zeigt sich auch in dem Gesetzentwurf der Bundesregierung. Schleuser*innen würden „die Unwissenheit und wirtschaftliche Schwäche der einreisewilligen Ausländer aus Profitgier ausnutzen“, so die Bundesregierung mit moralischer Überheblichkeit. Damit wird Migrant*innen nicht nur die eigene Handlungsmacht abgesprochen. Die Rhetorik verstellt auch den Blick darauf, worum es bei der Kriminalisierung wirklich geht: Um den Schutz des Grenzregimes. Der Schleusungsparagraf richtet sich mittelbar gegen Migrant*innen, was darin zum Ausdruck kommt, dass sie rechtsdogmatisch als „Haupttäter*innen“ gelten.

Aus der Perspektive von Flüchtlingen handelt es sich bei Schleusungen – auch bei solchen gegen Entgelt – oft um unverzichtbare Dienstleistungen, mitunter um lebensnotwendige Rettungen. Das Bundesverwaltungsgericht war noch 1992 der Auffassung, dass es mit dem Asylgrundrecht unvereinbar ist, Unternehmen für die Beförderung von Asylsuchenden zu sanktionieren. Nichts anderes gilt für das „Einschleusen“ von Flüchtlingen, die einreisen, um ihr Grund- und Menschenrecht auf Schutz geltend machen.

Der Artikel erschien zuerst auf verfassungsblog.deCC BY-SA 4.0. Verfassungsblog ist ein Open-Access-Diskussionsforum zu aktuellen Ereignissen und Entwicklungen in Verfassungsrecht und -politik in Deutschland, dem entstehenden europäischen Verfassungsraum und darüber hinaus. Er versteht sich als Schnittstelle zwischen dem akademischen Fachdiskurs auf der einen und der politischen Öffentlichkeit auf der anderen Seite. Vor kurzem wurde das Thüringen-Projekt gestartet.

David Werdermann ist Rechtsanwalt und lebt in Berlin. Er arbeitet bei der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) und in einer auf Informationsfreiheitsrecht spezialisierten Kanzlei. Artikelbild: mit freundlicher Genehmigung von Erik Marquardt.

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