Dieser Artikel stammt von Netzpolitik.org.
Liebe Alle.
Erinnert ihr euch noch an die Zeit vor etwa fünf Jahren? Da gab es eine Weile lang einen regelrechten Trend. Lange bevor Sam Altman oder Elon Musk den Weltuntergang durch die Super-KI beschwörten, bevor ChatGPT akademische Paper schrieb und Rezeptvorschläge auf Grundlage von Fotos aus unserem Kühlschrank machte, brauchten offenbar alle plötzlich eine Ethik-Richtlinie für Künstliche Intelligenz.
Google und IBM hatten eine, Microsoft und BMW, die UNESCO, die NATO, die EU-Kommission. Sie waren mal kürzer, mal ausführlicher, aber im Inhalt oft erstaunlich ähnlich. Um „Transparenz“ ging es da, um die „Erklärbarkeit“ der Ergebnisse solcher Systeme, um „Datenschutz“ und um „Rechenschaftspflicht“. Und auch um „Fairness“ natürlich, die ist ja bekanntlich immer gut, auch wenn oft nicht mal klar war, was damit gemeint ist.
Hellsichtige Forscherinnen wie Meredith Whittaker prägten damals den Begriff Ethik-Theater. Mit diesen Aufführungen von Moral sollte vor allem eines verhindert werden: dass womöglich einmal echte, richtige und klar formulierte Gesetze vorschreiben würden, wann, wie und unter welchen Auflagen KI zum Einsatz kommen darf.
Zurück in die Zukunft
Diese Woche hatte ich eine Art Déjà-vu. Als ich den Text analysierte, den der Europarat nach zwei Jahren Arbeit an einem internationalen Vertrag zu KI produziert hat, war plötzlich alles wieder da. Auch auf diesen 13 Seiten Text geht es um Transparenz, es gibt eigene Artikel für „Gleichstellung und Nichtdiskriminierung“, für „Rechenschaftspflicht und Verantwortung“. Selbst der Datenschutz steht drin. Keine der Worthülsen von damals wird ausgelassen.
Der Unterschied: Mit diesem Dokument sollte eigentlich kein „Ethik-Theater“ aufgeführt werden. Hier geht es um einen völkerrechtlich bindenden Vertrag, mit dem der Europarat weltweit die Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie vor dem Einsatz von KI schützen wollte. Den Vertrag können und sollen bald nicht nur die 46 Mitgliedsstaaten unterschreiben, sondern am besten auch die USA, Japan oder Israel. Es ist das erste völkerrechtlich verbindliche Dokument zu diesem Thema.
Nachdem ich den Text gelesen hatte, ging mit ein Satz nicht mehr aus dem Kopf: Wenn nichts drinsteht, können sich auch alle drauf einigen. Das schien die Devise der verhandelnden Staaten gewesen zu sein. Um möglichst alle, auch die USA, mit auf die Bühne zu holen, machten sie die Regeln so flexibel, dass sie eigentlich zu fast nichts mehr verpflichten.
Bestes Beispiel: Der private Sektor – sprich Google, IBM, OpenAI und Co. – sind vom Vertrag erst mal ausgenommen. Staaten können selbst entscheiden, ob sie ihre Konzerne ebenfalls regulieren wollen, eine Opt-in-Lösung. Der gesamte Bereich der nationalen Sicherheit ist ohnehin nicht vom Vertrag abgedeckt. Und pauschal verboten ist laut dem Vertrag keine einzige der Anwendungen, die Menschenrechte besonders krass gefährden: weder Social Scoring, noch biometrische Identifikation oder Emotionserkennung. Dieser Vertrag kennt keine roten Linien.
Die Europäische Datenschutzbehörde hat es in einem selten deutlich formulierten Statement an den Europarat so auf den Punkt gebracht: der Text hätte „weitgehend deklarativen Charakter“. Autsch.
Alle sollen mit auf die Bühne
Dass der Europarat auch anders kann, hat er in der Vergangenheit gezeigt: mit dem Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin von 1997. Damals haben sich die Staaten auf unüberschreitbare Grenzen verständigt, um dem medizinischen Fortschritt etwas entgegenzusetzen. Zum Beispiel: Niemand darf aufgrund seines Erbgut diskriminiert werden. Genetische Manipulation an Embryonen ist fast immer verboten.
Für die Biomedizin hat also geklappt, was jetzt für KI offenbar nicht möglich war. Die Staaten haben selbst ihre eigene politische Vision formuliert und auf Grundlage von Werten zur Wahrung der Menschenrechte klare Regeln gezogen.
Jetzt aber geht es um KI, und da spielt der Europarat mit im Ethik-Theater. Es ist ein Stück über Transparenz, Rechenschaftspflicht, Datenschutz und Nicht-Diskriminierung. Mit auf der Bühne stehen dann wahrscheinlich sogar die USA, Großbritannien und Japan. Und wenn ihr nicht erkennen könnt, worum es dabei eigentlich geht, dann macht euch keine Sorgen. Es geht um nichts.
Ein gutes Wochenende wünscht euch
Chris
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Author: Chris Köver