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Maaßen, Mölln, Mord: Die Normalisierung rechter Gewalt

Abgrund

Der Krawattenknoten ist beinahe so groß wie der Kopf. Davon abgesehen ist der Mann völlig tadellos gekleidet. Ein dunkler Dreiteiler, Manschettenknöpfe, auf Hochglanz polierte Schuhe. Die kleine, markante Brille mitten im Gesicht. Er sieht aus, wie man sich Daniel Düsentrieb als Dandy vorstellt.

Hans-Georg Maaßen sitzt zurückgelehnt. Er wirkt abwechselnd amüsiert und genervt. Zu Beginn der Sendung antwortet er Markus Lanz noch ruhig, überlegt und manchmal sogar nachdenklich auf seine Fragen. Später, als er »den Medien« vorwirft, unredlich und unwahr zu berichten, sprudelt es aus ihm heraus. Es geht um seine Rolle als Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz. Um vergangene Aussagen zur Lage der Nation, die sich allesamt so anhören, als kämen sie vom Pressesprecher der AfD.

Während eines Besuchs beim CDU-Ortsverband Weinheim im Jahr 2019 sagt Maaßen, er sei »vor 30 Jahren nicht der CDU beigetreten, damit heute 1,8 Millionen Araber nach Deutschland kommen«. Kurz danach schreibt er auf Twitter:

»Lassen Sie sich nicht einreden, dass es sich um Seenotrettung handelt. Diese Migranten sind keine Schiffbrüchigen und keine Flüchtlinge. Sie haben als einwanderungswillige Ausländer die Schleuserboote bestiegen, um von einem Shuttle-Service nach Europa gebracht zu werden.«

Maaßen leugnete Hetzjagden

Als er 2018 behauptet, dass es in Chemnitz während der rechtsextremen Ausschreitungen keine Hetzjagden gegeben habe, verliert er seinen Posten als Verfassungsschutzchef. Man sieht zeitgleich zu Maaßens Verlautbarungen, wie Rechtsextreme, Hooligans und Reichsbürger durch die Chemnitzer Innenstadt marschieren und »Wir sind Krieger, wir sind Fans, Adolf Hitler, Hooligans« skandieren. Polizisten werden angegriffen, Journalisten verletzt, ein jüdisches Restaurant attackiert. Die Bundesanwaltschaft verdächtigt sieben Männer aus Chemnitz der Bildung einer terroristischen Vereinigung. Der spätere Mörder von Walter Lübcke, Stephan Ernst, marschiert in Chemnitz mit. Menschen, die der Mob für Migranten hält, werden rassistisch beleidigt und müssen fliehen. Alles das wird hundertfach auf Videos festgehalten, über Twitter-Kanäle verteilt und in Nachrichtensendungen ausgestrahlt. Der Chef des Inlandsgeheimdienstes allerdings will keine Hetzjagenden erkannt haben.

Markus Lanz legt seinem Gesprächspartner Schlagzeilen und Tweets wie Beweismittel vor. Er konfrontiert Maaßen mit seinen eigenen Aussagen, bohrt nach. Lanz ist nicht allein. Der Journalist Olaf Sundermeyer bestätigt die Verfehlungen und Grenzüberschreitungen Maaßens. Es ist eine anstrengende, aber auch erkenntnisreiche Sendung.

das Verhältnis der deutschen Gesellschaft zu ihrem rechten Rand

40 Minuten nach Beginn des Gesprächs sagt Maaßen etwas, was auch nach der Sendung viel zu wenig Beachtung findet. Er sagt zentrale Sätze, die das Verhältnis der deutschen Gesellschaft zu ihrem rechten Rand so gut beschreiben wie kaum jemals zuvor und danach. Man sieht, dass es ihm am Herzen liegt und dass er es unbedingt loswerden möchte, bevor die Sendung zu Ende geht.

»Die Leute, die die Angriffe auf Asylunterkünfte machen, waren überwiegend, jedenfalls die festgestellten Tatverdächtigen, keine Rechtsextremisten, waren keine Nazis gewesen, waren, das ist jetzt für mich der entscheidende Ansatz, das waren Leute gewesen, die gehörten eigentlich zur bürgerlichen Mitte, die haben sich radikalisiert.«

Markus Lanz nutzt die Gelegenheit und sagt in die kurze Atempause: »Wie Sie!«

»Quatsch! Das waren Leute gewesen, die gehörten zur bürgerlichen Mitte, und die haben sich radikalisiert. Die haben dann einen Übergriff auf eine Asylunterkunft gemacht. Und da habe ich festgestellt, der Staat nimmt hier eine, die Gesellschaft nimmt hier eine Entwicklung, wo wir es nicht nur zu tun haben mit einer Spaltung, sondern mit Menschen, die bisher eine tragende Säule dargestellt haben und die sich abwenden von dem Staat. Mein Ziel ist es, die wieder zurückzugewinnen.«

Etwas hilflos bringt der ansonsten versierte Markus Lanz heraus, dass »Skinheads mit Springerstiefeln und die ›Sieg Heil‹ rufen«, nicht Teil der Mitte dieser Gesellschaft sind.

»Also Herr Lanz, da brauchen wir gar nicht drüber zu reden. Um die geht es nicht. Es geht im Grunde genommen um die kleinen Angestellten, um normale Menschen, die Angriffe auf Asylunterkünfte machen. Um die geht es mir. Es geht mir nicht um Nazis.«

Maaßen erklärt, warum sich diese kleinen Angestellten und normalen Menschen derart radikalisieren, dass sie Flüchtlingsunterkünfte anzünden:

»Dieser Grund liegt zum einen in einer Politik, die diese Menschen nicht verstehen oder die sie nicht haben wollen. Liegt aber auch in Teilen, aus meiner Sicht, daran, dass sie sich in den Medien nicht mehr wiederfinden. Dass sie mit ihren Positionen in den Medien kein Gehör mehr finden.«

Die Politik. Die Medien. Kleine Angestellte. Normale Leute. Unverstanden. Ungehört. Zünden Asylunterkünfte an.

Es ist ein wichtiger Gedanke. Vielleicht sogar der wichtigste der gesamten Sendung. Kurz nach den Ausschreitungen in Chemnitz gibt der damalige Bundesinnenminister Horst Seehofer ein Interview. Im Gespräch mit der Rheinischen Post sagt er:

»Ich wäre, wenn ich nicht Minister wäre, als Staatsbürger auch auf die Straße gegangen.«

Er weiß, welche Schlussfolgerung er damit provoziert. Er schiebt den Halbsatz »natürlich nicht gemeinsam mit Radikalen« hinterher. Auch Seehofer erklärt, was die Menschen bewegt und was das Grundübel aller Konflikte in diesem Land ist:

»Die Migrationsfrage ist die Mutter aller politischen Probleme in diesem Land. (…) Viele Menschen verbinden jetzt ihre sozialen Sorgen mit der Migrationsfrage.«

Wäre das auch mal geklärt.

Ich stimme Hans-Georg Maaßen vollumfänglich zu

Noch immer bebildern Medien rechtsextreme Vorfälle mit Aufnahmen von Glatzköpfen in Bomberjacken und Springerstiefeln. Mit tätowierten Stiernacken. Mit Schlagstöcken und Baseballschlägern. Und mit Bildern, die unsere realitätsferne Vorstellung von Rassisten und Rechtsradikalen formen. Die, welch glücklicher Zufall, nie so aussehen wie wir. Oder unsere Nachbarn. Oder unsere Freunde.

Hans-Georg Maaßen räumt mit diesem Mythos auf. Er möchte Verbindung, Verständnis und Empathie herstellen. In seinen Worten schwingt mit, dass nicht jeder, der eine Asylunterkunft anzündet, gleich ein Rechtsextremer sein muss. Man kann diese Worte aber auch anders verstehen. Dass selbst kleine Angestellte und normale Leute aus der bürgerlichen Mitte Flüchtlinge angreifen und deren Tod mindestens in Kauf nehmen. Dass selbst freundliche 70-jährige Männer aus Bayern, die in ihrem Hobbykeller Modelleisenbahnen zusammenstecken, an Versammlungen teilnehmen, in deren direkter Nachbarschaft rechtsextreme Terroristen Anschläge planen.

Maaßen erklärt, dass Menschen aus der Mitte der Gesellschaft die Politik nicht mehr verstehen, sich in den Medien nicht mehr wiederfinden. Das klingt zumindest nicht unplausibel. Aber was soll das für eine Mitte sein, wenn selbst eine Politik, die jahrzehntelange Leitkultur- und Ausgrenzungsdebatten führt, diese Menschen nicht mehr erreicht? Wie groß muss der Hass auf die Anderen sein, wenn sich kleine Angestellte und normale Menschen nicht einmal mehr in Medien wiederfinden, die am laufenden Band Muslime kriminalisieren, Flüchtlinge dämonisieren, Ausländer zu Sündenböcken machen.

Normale Menschen nehmen Recht in die eigene Hand

Wie es um diese Mitte bestellt ist, zeigt eine Veröffentlichung des Else-Frenkel-Brunswik-Instituts, das im Jahr 2023 rechtsextreme Einstellungen in den ostdeutschen Bundesländern untersucht hat. Befragt wurden 3546 Menschen, von denen 23 Prozent der Aussage »Der Nationalsozialismus hatte auch seine guten Seiten« zustimmen. 21 Prozent haben kein Problem mit der Erklärung »Ohne Judenvernichtung würde man Hitler als großen Staatsmann ansehen«. 34 Prozent sind der Meinung, »auch heute noch« sei »der Einfluss der Juden zu groß«. 70 Prozent glauben, »die Ausländer« kämen nur hierher, »um unseren Sozialstaat auszunutzen«. 51 Prozent der Menschen fordern »eine starke Partei, die die Volksgemeinschaft insgesamt verkörpert«. 33 Prozent sehnen sich nach einem »Führer, der Deutschland zum Wohle aller mit starker Hand regiert«.

Die Politologin Rafaela Dancygier veröffentlicht ebenfalls im Jahr 2023 eine Studie, die einen Schritt weitergeht. Die Professorin aus Princeton befragte 3000 Menschen aus ganz Deutschland explizit zu Hass und Hasskriminalität gegenüber Flüchtlingen. Heraus kam, dass 17,7 Prozent der Befragten der Aussage »Wenn es um das Flüchtlingsproblem geht, ist Gewalt manchmal das einzige Mittel, das die Bürger haben, um die Aufmerksamkeit der deutschen Politiker zu erlangen« zustimmen. 16,7 Prozent können sich mit der Erklärung »Angriffe auf Flüchtlingsheime sind manchmal notwendig, um den Politikern klar zu machen, dass wir ein Flüchtlingsproblem haben« identifizieren. 18,7 Prozent halten »Feindseligkeit gegenüber Flüchtlingen« manchmal für gerechtfertigt, »auch wenn sie in Gewalt mündet«. 14,2 Prozent halten »fremdenfeindliche Gewalttaten« für »vertretbar, wenn sie dazu führen, dass weniger Flüchtlinge in der Stadt angesiedelt werden«.

Es ist keine neue Erkenntnis, die das deutsche Volk in wissenschaftlichen Studien und Wahlentscheidungen zum Ausdruck bringt. Seit vielen Jahren nehmen die kleinen Angestellten ihr Recht in die eigene Hand, klären normale Menschen die Migrationsfrage auf ihre eigene Art.

Reihenweise Rechte Morde in Deutschland

Im Jahr 1970 verüben Unbekannte einen Brandanschlag auf die Israelitische Kultusgemeinde in München. Es verbrennen Rivka Regina Becher (59), Meir Max Blum (71), Rosa Drucker (59), Arie Leib Leopold Gimpel (50), David Jakubovicz (60), Siegfried Offenbacher (71), Eliakim Georg Pfau (63). Sie alle überleben den Holocaust und sterben in der Bundesrepublik durch die Hand der neuen und alten Judenfeinde. Bundeskanzler Willy Brandt verspricht, alles zu tun, um die Täter zu überführen. In den 1990er Jahren verschwinden Beweisstücke aus der Asservatenkammer des Bayerischen Landeskriminalamts. Fragen dazu kann die Bundesregierung nicht beantworten.

Bei einem Brandanschlag auf ein Flüchtlingsheim in Hamburg im Jahr 1980 sterben die Vietnamesen Nguyễn Ngọc Châu (22) und Đỗ Anh Lân (18). Mehrere Neonazis, die zuvor »Ausländer raus« an die Fassaden gesprüht und die Molotowcocktails durch die Fenster geworfen haben, werden zu langen Haftstrafen verurteilt.

Im selben Jahr verüben Rechtsextreme einen Terroranschlag in München, bei dem zwölf Menschen sterben. Gabriele Deutsch (17), Robert Gmeinwieser (17), Axel Hirsch (23), Markus Hölzl (44), Paul Lux (52), Ignatz Platzer (6), Ilona Platzer (8), Franz Schiele (33), Angela Schüttrigkeit (39), Errol Vere-Hodge (25), Ernst Vestner (30) und Beate Werner (11) verlieren ihr Leben. Es dauert 40 Jahre, bis im Jahr 2020 die Generalbundesanwaltschaft ein rechtsextremes Tatmotiv anerkennt. Zwischenzeitlich werden zahlreiche Asservate vernichtet, an mehreren Stellen der Ermittlung ist von Strafvereitelung im Amt die Rede.

Duisburg, Schwandort, Lampertheim: Tote, Tote, Tote

Im Jahr 1984 sterben bei einem Brandanschlag in Duisburg Döndü Satır (40), Songül Satır (4), Ümit Satır (5), Çiğdem Satır (7), Zeliha Turhan (18), Rasim Turhan (18) und Tarık Turhan. Der kleine Tarık ist 50 Tage alt. Die Tatverdächtige Evelin D. wird im Zuge eines anderen Brandanschlags in Duisburg ermittelt. Zeugen berichten von Hakenkreuzen am Tatort. Dennoch befragt die Polizei im Krankenhaus die Überlebenden, ob sie Streit mit anderen Familien gehabt hätten, und vermutet einen Bandenkrieg zwischen Türken und Jugoslawen. D. wird daraufhin als Pyromanin ohne politisches Tatmotiv verurteilt.

Im Jahr 1988 sterben bei einem Brandanschlag in Schwandorf Osman Can (49), Fatma Can (43), Mehmet Can (11) und Jürgen Hübener (47). Vor Gericht ist der Täter geständig und sagt »Ich hasse Ausländer«. Der Richter verurteilt ihn wegen schwerer Brandstiftung, will aber keinen Mord erkennen. Im Umfeld des Täters werden Hakenkreuz-Aufkleber und der Schriftzug »Türken raus« gefunden.

Im Jahr 1992 legen drei Jugendliche ein Feuer in der Flüchtlingsunterkunft in Lampertheim. Es stirbt eine dreiköpfige Familie aus Sri Lanka. Die Täter werden wegen schwerer Brandstiftung verurteilt. Ein fremdenfeindliches Motiv möchte das Gericht allerdings nicht erkennen. Im Nachgang an die Tat stellt der stellvertretende Landrat Heinz Fraas, ein Politiker der SPD, der Botschaft von Sri Lanka die Sozialhilfe und die Beerdigungskosten in Rechnung. Der Spiegel vermeldet dazu einen kurzen Beitrag.

Die lange Liste der Opfer von „Normalen Deutschen“

»Der Kreis habe der dreiköpfigen Familie insgesamt 22 194,40 Mark Hilfe zum Lebensunterhalt gezahlt, ›hinzu kommen Kosten in Höhe von 1822,86 DM, die für die Bestattung aufgewendet wurden‹. Das Geld soll jetzt aus dem Nachlaß eingetrieben werden, nachdem ein Sparkonto der Familie entdeckt wurde. ›Wir sind nicht dafür verantwortlich, wenn Kriminelle ein Haus anzünden‹, verteidigt sich Fraas.«

Im Jahr 1992 greifen Neonazis in Mölln zwei Wohnhäuser an, die von türkischen Familien bewohnt werden. Bei dem Brandanschlag kommen Yeliz Arslan (10), Ayse Yilmaz (14) sowie Bahide Arslan (51) in den Flammen um. Die Täter rufen im Anschluss an ihre Tat bei der Polizei an und beenden das Gespräch mit »Heil Hitler«. Als im Rahmen der öffentlichen Auseinandersetzung mit der Tat Bundeskanzler Helmut Kohl gefragt wird, warum er nicht nach Mölln reise, um den Hinterbliebenen sein Beileid auszusprechen, lässt Kohl ausrichten, er halte nichts von »Beileidstourismus«.

Im Jahr 1993 zünden Neonazis in Solingen ein Wohnhaus an, das von zwei türkischen Familien bewohnt wird. Es sterben Saime Genç (4), Hülya Genç (8), Gülüstan Öztürk (11), Hatice Genç (18) und Gürsün İnce (27). Verletzt werden zudem ein sechs Monate alter Säugling und ein dreijähriges Kind. Als im Rahmen der öffentlichen Auseinandersetzung mit der Tat Bundeskanzler Helmut Kohl gefragt wird, warum er nicht nach Solingen reise, um den Hinterbliebenen sein Beileid auszusprechen, lässt Kohl ausrichten, er habe »weiß Gott wichtigere Termine«.

Lübeck, Ludwigshafen: Tote Kinder, unbekannte Täter

Im Jahr 1996 sterben acht Menschen aus Zaire, Angola, Togo und dem Libanon in Lübeck durch einen Brandanschlag. Es verbrennen Monica Maiamba Bunga (17), Nsuzana Bunga (7), Christine Makodila Nsimba (8), Christelle Makodila Nsimba (8), Sylvio Bruno Comlan Amoussou (27), Rabia El Omari (17), Françoise Makodila Landu (32), Jean-Daniel Makodila Kosi (3), Legrand Makodila Mbongo (5) und Miya Makodila (14). Rabia El Omari kann noch rechtzeitig seine Familie wecken, kommt aber selbst in den Flammen um. Die Täter sind bis heute auf freiem Fuß. Die Polizei ermittelt mit Vehemenz gegen einen libanesischen Hausbewohner, dem sie allerdings nichts nachweisen kann. Die vier tatverdächtigen Neonazis kommen davon.

Im Jahr 2008 sterben bei einem Brand in Ludwigshafen Ilyas Calar (2), Kennan Kaplan (2), Kamil Kaplan (3), Karanfil Kaplan (4), Dilara Kaplan (11), Döne Kaplan (21), Hülya Kaplan (31), Medine Kaplan (48) und Belma Özkapli (22). Es tun sich mögliche Verbindungen zum NSU auf. Die Polizei ist engagiert, ermittelt gezielt zu den Neonazis in der Umgebung, kann aber weder Täter noch Brandursache abschließend klären. Einen rechtsextremen Anschlag schließen sie nicht aus.

»Der Staat ist hier mit seiner ganzen Kraft gefordert.«

Eine Gedenkveranstaltung für die Opfer rechtsextremistischer Gewalt. Der Raum ist abgedunkelt. Die Bundeskanzlerin trägt Schwarz. Im Hintergrund die schwarz-rot-goldene Flagge Deutschlands. Angela Merkel weiß um diesen geschichtsträchtigen Moment. Sie klingt bedächtig. Ungefähr in der Mitte ihrer Rede sagt sie Folgendes:

»Als Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland verspreche ich Ihnen: Wir tun alles, um die Morde aufzuklären und die Helfershelfer und Hintermänner aufzudecken und alle Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Daran arbeiten alle zuständigen Behörden in Bund und Ländern mit Hochdruck. Das ist wichtig genug, es würde aber noch nicht reichen. Denn es geht auch darum, alles in den Möglichkeiten unseres Rechtsstaates Stehende zu tun, damit sich so etwas nie wiederholen kann. (…) Der Staat ist hier mit seiner ganzen Kraft gefordert.«

Erst ein Blick auf das Datum verrät: 23. Februar 2012. Es ist die Gedenkfeier für die Opfer des NSU.

Der sogenannte Nationalsozialistische Untergrund, eine rechte Terrororganisation, profitiert von den verstolperten Ermittlungen der Sonderkommission »Bosporus«, die ihre Aufgabe darin sieht, »Döner-Morde« zu ermitteln. Der NSU ermordet Enver Şimşek (38), Abdurrahim Özüdoğru (49), Süleyman Taşköprü (31), Habil Kılıç (38), Mehmet Turgut (25), İsmail Yaşar (50), Theodoros Boulgarides (41), Mehmet Kubaşık (39), Halit Yozgat (21) und die Polizistin Michèle Kiesewetter (22). Jahrelang werden die Angehörigen verdächtigt. Je weniger die Sicherheitsbehörden finden, umso erbitterter ermitteln sie. Um den Angehörigen auf die Schliche zu kommen, locken die Ermittler die Familien in eine Falle. Der verwitweten Semiya Şimşek legen sie das Bild einer unbekannten Frau vor und sagen, ihr Mann habe mit dieser Frau eine Affäre gehabt und Kinder gezeugt. Semiya Şimşek sagt daraufhin: Wenn mein Mann diese Frau geliebt hat, werde auch ich sie lieben. Ihre Kinder sind auch meine Kinder.

Als mir der Anwalt der Nebenklage und der heutige Beauftragte der Bundesregierung gegen Antiziganismus Mehmet Daimagüler von diesem Vorfall erzählt, fällt es mir schwer, die Fassung zu bewahren.

Inmitten von Deutschland wird ein terroristisches Netzwerk offenbar, in das Neonazis, Ermittlungsbehörden und Nachrichtendienste verstrickt sind. Im Rahmen der Aufklärung müssen fünf Präsidenten verschiedener Verfassungsschutzämter zurücktreten, neun Parlamente richten Untersuchungsausschüsse ein, mehrere Angeklagte werden im Anschluss an einen fünf Jahre währenden Strafprozess verurteilt.

Und weiter ermorden rechtsextreme viele Menschen

Die Bundeskanzlerin, die Bundesregierung, die Sicherheitsbehörden, sie alle möchten nach den vielen, vielen Versäumnissen, den Ermittlungspannen, den entpolitisierten Morden gegenüber Zuwanderern endlich einen Schritt nach vorne tun. Um das Vertrauen der Migranten zurückzugewinnen, um anzuzeigen, dass Hass und Gewalt gegenüber Ausländern und Flüchtlingen bedingungslos geahndet und konsequent verfolgt werden. Sie möchten die Spitze des Bundesamts für Verfassungsschutz austauschen, um ihre Bekundungen mit einem personellen Neuanfang zu begleiten. Der neue Verfassungsschutzchef, der den rechten Extremismus entschieden bekämpfen soll, heißt Hans-Georg Maaßen.

Im Jahr 2016, vier Jahre nach dem Versprechen der Bundeskanzlerin, erschießt ein Rechtsextremist Armela Segashi (14), Can Leyla (14), Dijamant Zabërgja (20), Guiliano Kollmann (19), Hüseyin Dayıcık (17), Roberto Rafael (15), Sabina S. (14), Selçuk Kılıç (15) und Sevda Dağ (45) vor einem Einkaufszentrum in München. Trotz der offen rechtsextremen Gesinnung, die der Täter im Internet zur Schau stellte, und trotz der offensichtlich rassistischen Auswahl seiner Opfer braucht das Landeskriminalamt drei Jahre, um in diesem Terroranschlag ein »politisches Motiv« zu erkennen. Bis dahin wird der Vorfall als unpolitischer Amoklauf behandelt.

Im selben Jahr registrieren die Behörden 995 politisch motivierte Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte. Deutschland brennt. Kleine Angestellte. Normale Menschen. Sie zünden Wohnhäuser und Unterkünfte an, in denen Menschen leben.

»Fremdenfeindliche Gewalttaten sind vertretbar, wenn sie dazu führen, dass weniger Flüchtlinge in der Stadt angesiedelt werden.«

Im Jahr 2019 wird Walter Lübcke (65) erschossen.

Der Kasseler Regierungspräsident hat sich für den Bau von Flüchtlingsunterkünften eingesetzt, dafür geworben, den Asylsuchenden ein menschenfreundliches Leben zu ermöglichen.

»Mit Hochdruck«. »Alles in den Möglichkeiten unseres Rechtsstaates Stehende«. »Der Staat mit seiner ganzen Kraft«. »Damit sich so etwas nie wiederholen kann«. Das waren die Worte, mit denen die Bundeskanzlerin den Hinterbliebenen der Opfer des NSU versicherte, dass dieser Staat und seine Repräsentanten den Menschenhass nicht mehr dulden würden. Dass alle, wirklich alle Menschen einen Platz haben in diesem Land, das ihnen Heimat sein und Schutz bieten soll. Nie wieder sollte der Rechtsstaat in dieser Form und mit dieser Wucht versagen.

Und dann Hanau. Eine Stadt in Hessen. Wieder einmal Hessen. In Hessen ermordete der NSU Halit Yozgat in seinem Internetcafé. In Hessen gründete sich der NSU 2.0, aus dem heraus mutmaßlich Polizisten rassistische und rechtsextreme Drohbriefe an ihnen missliebige Personen versenden. In Hessen ermordete ein Neonazi Walter Lübcke. Und in Hessen beging ein Rechtsradikaler einen Mordversuch an dem Eritreer Bilal M. und tötete sich anschließend selbst. In Hessen agierten rechtsextreme Gruppierungen wie »Blood and Honour«, »Combat 18«, »Freier Widerstand Kassel«, »Sturm 18« oder die »Oidoxie Streetfighting Crew« jahrelang ungestört unter den wenig wachsamen Augen der Sicherheitsbehörden.

Und immer wieder Hessen

Bereits im Jahr 2006 warnen 13 zivilgesellschaftliche Gruppen in einem gemeinsam verfassten Schreiben vor der wachsenden Gefahr durch die Neonazi-Szene in Hessen. Sie listen rechtsextreme Anschläge und Vorkommnisse auf, verweisen auf die Schändungen jüdischer Friedhöfe, auf Gewalttaten gegen Migranten und Andersdenkende und die Organisation rechtsextremer Musikveranstaltungen. Sie stellen konkrete Forderungen und bitten die Landesregierung unter Volker Bouffier um Unterstützung im Kampf gegen den Rechtsextremismus.

Wer lange genug sucht, findet zudem eine Vorlesung Theodor Adornos aus dem Jahr 1967. Der große Philosoph spricht in Wien über »den neuen Rechtsradikalismus« und stellt dabei fest:

»Politische Gruppierungen überdauern Systeme und Katastrophen. In Deutschland scheinen zum Beispiel alte nationalsozialistische Zentren wie Nordhessen, wo es bereits in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts eine wilde antisemitische Bewegung gab, besonders anfällig zu sein.«

Eine Gedenkveranstaltung für die Opfer rechtsextremistischer Gewalt. Der Raum ist abgedunkelt. Kemal Kocak trägt Schwarz. Im Hintergrund die schwarz-rot-goldene Flagge Deutschlands. Aber auch die Flagge des Landes Hessen und die Flagge der Stadt Hanau. Kemal Kocak weiß vermutlich um diesen geschichtsträchtigen Moment. Er ringt um Fassung und klingt dennoch entschlossen.

Hanau

Kocak betreibt mit seinem Sohn einen Kiosk in Hanau. Ein Laden, der mehr Anlaufstelle und Zufluchtsort ist als reine Verkaufsfläche. Am 19. Februar 2020 stürmt ein Rassist in den Vorraum und tötet Mercedes Kierpacz (35), Gökhan Gültekin (37) und Ferhat Unvar (23). Anschließend stürmt er in die benachbarte Arena-Bar und erschießt dort Said Nesar Hashemi (21) und Hamza Kurtović (22). Zuvor tötete der Täter Kaloyan Velkov (33), Fatih Saraçoğlu (34) und Sedat Gürbüz (29). Vili Viorel Păun (22), der versucht, den Täter aufzuhalten, und verzweifelt die 110 in sein Telefon hämmert, wird durch die Windschutzscheibe seines Autos erschossen.

Kocak kannte alle Opfer persönlich. Er erzählt kurze Anekdoten über sie. Erzählt von ihren Eigenarten und Vorlieben. Erzählt von Mercedes, die immer ihre Musik leiser drehte, wenn er den Laden betrat. Und deren Musik nun verstummt ist. Erzählt von Said Nesar Hashemi, der jedes Mal drei Capri-Sonnen und zwei Naschtüten haben wollte. Er erzählt von sich selbst. Von seiner Verbundenheit zu seiner Heimatstadt Hanau. Erzählt von seiner Angst, die er nun verspürt. Und er richtet sich an die anwesenden Politikerinnen und Politiker:

»Ich möchte, von meiner Seite aus und genauso wie die Angehörigen, nicht mehr viele Worte hören, sondern wir wollen Taten sehen, dass was passiert, dass so was nie wieder zustande kommt.«

Taten statt Worte. Ein Rechtsstaat, der seine Bürger schützt

Auch jene, die in ihrer eigenen Heimat zu »Fremden« gemacht werden. Kocak weiß wohl selbst, dass dieser fromme Wunsch zu viel verlangt sein könnte. In einem Zeitungsinterview zeigt er sich zutiefst enttäuscht über das ständige Scheitern des Rechtsstaats im Kampf gegen den Rechtsextremismus. Er erwähnt die rassistischen Anschläge in den 1990er Jahren in Solingen, Mölln, Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen. Fragt nach den kapitalen Ermittlungsfehlern im Falle des NSU. Wundert sich über den Unwillen und die Unfähigkeit der Sicherheitsbehörden.

Seit vielen Jahren und Jahrzehnten sterben Menschen, weil sie nicht aussehen, wie man sich Deutsche vorstellt. Weil sie andere Namen tragen, andere Sprachen sprechen, andere Gebete beten als die Mehrheit in diesem Land. Weil die Sicherheitsbehörden nicht in der Lage sind, Minderheiten zu schützen. Und weil selbst hochrangige Beamte in diesem Land eine rechtsradikale Gesinnung in sich tragen.

Menschen, die hassen. Menschen, die töten.

Allzu oft wird die Spaltung der Gesellschaft beklagt, insbesondere dann, wenn die Mehrheit in diesem Land befürchtet, ihre Privilegien zu verlieren. Auch Maaßen spricht von dieser Spaltung und von seinem Versuch, »diese Menschen« zurückzugewinnen. Menschen, die hassen. Menschen, die töten. Menschen, die diese Gesellschaft zerreißen und dabei einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung hinter sich wissen. Vielleicht ist es nicht so sehr die Spaltung, die diese Gesellschaft bedroht. Sondern das, was als tiefer Riss im Firnis der Zivilisation offenbar geworden ist. Eine Dunkelheit, die das »Wir« umhüllt und das »Ihr« in die Ferne rückt. Es gibt ein besseres Wort als Spaltung, um all das angemessen zu beschreiben. Abgrund.

Dies ist ein Kapitel aus »Kampf und Sehnsucht in der Mitte der Gesellschaft« von Theologe und Autor Stephan Anpalagan, das Volksverpetzer veröffentlichen durfte. Es erscheint im Fischer Verlag.

Stephan Anpalagan, geboren 1984 in Sri Lanka und aufgewachsen in Wuppertal, ist Diplom-Theologe und Autor. Nachdem er viele Jahre in der Wirtschaft als Manager tätig war, ist er nun Geschäftsführer der gemeinnützigen Strategieberatung »Demokratie in Arbeit«. In seinen Texten verhandelt er die Themen Heimat und Identität. Er ist Lehrbeauftragter an der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung in NRW. In dem SWR-Podcast »Gegen jede Überzeugung« diskutierte er mit Nicole Diekmann über die kontroversen Themen unserer Gesellschaft. Zudem ist er Jurymitglied des Grimme Online Awards.

Artikelbild: Michael Kappeler/dpa

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