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Merz-Vorwurf von Gerrymandering – was ist dran?

Friedrich Merz, der CDU-Vorsitzende, sieht die deutsche Demokratie in Gefahr – und zwar durch die von der Ampel-Regierung geplante und am Donnerstag vom Bundestag beschlossene Änderung des Bundeswahlgesetzes. Die Ampel-Regierung hatte vorgeschlagen, aufgrund der veränderten Bevölkerungszusammensetzung, einen Wahlkreis in Sachsen-Anhalt zu streichen und einen neuen in Bayern zu schaffen – denn Wahlkreise müssen immer im Schnitt etwa gleich viele Menschen repräsentieren. 

Die Lage ist ernst – zumindest laut Friedrich Merz: “Was die Amerikaner seit 30 Jahren mit ihrem sogenannten Gerrymandering machen, hat dazu geführt, dass diese Demokratie in Amerika nicht mehr richtig funktioniert. Die Koalition – SPD, Grüne, FDP – machen [sic] in Deutschland genau dasselbe. Und mit dieser Änderung des Bundeswahlgesetzes in dieser Woche wird wieder einmal das Wahlrecht manipuliert und wieder einmal der Demokratie unseres Landes schwerer Schaden zugefügt, verantwortlich, SPD, FDP und Grüne. Ich bedaure das sehr, wir hätten das gerne anders gesehen”, verkündete der CDU-Vorsitzende am vergangenen Montag (29.1. 2024). 

Was ist überhaupt Gerrymandering?

Bevor wir uns Merz’ USA-Vergleich mit dem deutschen Wahlgesetz widmen, erst einmal zur Klärung, was überhaupt mit “Gerrymandering” gemeint ist: Der Begriff bezeichnet die manipulative Neuziehung von Wahlbezirksgrenzen in den USA nach parteipolitischen Interessen: Hintergrund ist, dass die Wahlbezirke für die Wahl zum Repräsentantenhaus alle zehn Jahre nach dem Zensus neu gezogen werden, um die aktuellen Bevölkerungsentwicklungen zu berücksichtigen. Tatsächlich hat exzessives Gerrymandering dazu geführt, dass die GOP in einigen Bundesstaaten, wie beispielsweise Wisconsin, effektiv eine Ein-Parteien-Herrschaft geschaffen hat. Ein schwerwiegender Vorwurf also. Was ist dran an Merz’ Behauptungen?

Prof. Fabian Michl (Universität Leipzig) ist Experte für Wahlrecht – und erklärt mir, worum es bei der Änderung des Bundeswahlgesetzes konkret geht:

“Es gibt ja einen Bericht der politisch unabhängigen Wahlkreiskommission, der bereits eine Änderung in der Gegend um Augsburg vorgeschlagen hat. Man muss allerdings dazu sagen, dass die Wahlkreiskommission, als sie den Bericht im Januar 2023 erstattet hat, von 280 Wahlkreisen ausging. Durch die Wahlrechtsreform ist die alte Zahl von 299 Wahlkreisen beibehalten worden, das heißt also, man kann den Bericht nicht mehr eins zu eins umsetzen.” 

Rechtlich sei es sogar so, dass – ausgehend von der Zahl der 299 – die Wahlkreise in der Augsburger Gegend neu eingeteilt werden müssten, weil die Bevölkerungsabweichung vom Durchschnitt dort über der gesetzlichen Grenze von 25 % liege, erklärt Michl. 

Daraus ergebe sich folgende Situation:

“Für Bayern kommt ein neuer Wahlkreis hinzu, das ergibt sich aus der Bevölkerungsstatistik: Es wird einer in Sachsen-Anhalt gestrichen und ein neuer in Bayern eingerichtet. Das ist rechtlich so vorgesehen, denn man gleicht ja Wahlkreise an die Bevölkerung an. Deswegen liegt es nun nahe, genau diesen neuen bayerischen Wahlkreis in der Augsburger Gegend einzurichten.” An dieser Entscheidung, sagt Michl, sei nichts undemokratisch oder ungewöhnlich: “Denn genau diese beiden Wahlkreise, deren Bevölkerungszahl über der Obergrenze liege, also Augsburg Land und Ostallgäu, sind auch die, die man durch einen neuen Wahlkreis verkleinern kann. Das ist im Wesentlichen eine mathematische Operation.”

Er gibt aber auch zu bedenken: “Natürlich muss man am Ende eine politische Entscheidung treffen. Dass die Wahlkreiseinteilung etwas Politisches ist, ist ja nichts Neues. Man muss schließlich entscheiden, welche Gemeinden man welchem Wahlkreis zuschlägt. Aber an der Kritik, so wie sie vorgetragen wird, ist eindeutig nichts dran.”

Aus den Reihen der CDU kam außerdem der Vorwurf, dass das Innenministerium in diesem Fall nicht noch einmal einen neuen Bericht der unabhängigen Wahlkreiskommission angefordert habe. Dass die Anzahl der Wahlkreise, nach denen gewählt werde, sich von denen im Bericht der Wahlkreiskommission unterscheide, sei natürlich eine Sondersituation, sagt Michl – doch er sieht das Zeit-Argument der Regierung als begründet an: “Die Wahlkreiskommission hat nach Beginn einer Wahlperiode 15 Monate Zeit, um ihren Bericht vorzulegen. Man ahnt also schon, wie aufwendig das ist. Es dürfte praktisch kaum möglich sein, einen neuen Bericht rechtzeitig zu erstatten. Denn schon im Sommer 2024 beginnt die Kandidatenaufstellung in den Wahlkreisen.” 

Reform laut Experten „zweckmäßig“

Was die Ampel-Regierung als Reform beschlossen hat, hält Michl daher für zweckmäßig: “Sie verwendet die Bevölkerungszahlen aus dem Bericht, die sind ja nicht umstritten, das sind Fakten. Aber die Koalition muss eine eigene Wahlkreiseinteilung vornehmen, weil sie die Vorschläge der Wahlkreiskommission für 280 Wahlkreise nicht mehr übernehmen kann. Das Vorgehen ist zwar ungewöhnlich, aber es dürfte auch noch keinen Fall gegeben haben, in dem der Wahlkreiskommission von einer anderen Zahl der Wahlkreise ausging.“

Dabei ist es nicht so, dass es in der Geschichte der Bundesrepublik keine explizit parteipolitischen Ziehungen von Wahlbezirksgrenzen gegeben hat. Michl weist jedoch in unserem Gespräch darauf hin, dass dies weniger auf der Ebene des Bundestagswahlrechts geschehen sei: “Bei den Landtagswahlen passiert das schon häufiger”, erklärt Michl.

“Da geht es dann darum, dass man einen bestimmten Politiker mit einem sicheren Wahlkreismandat absichern möchte. Und manchmal will man auch nur die Farbgestaltung der Wahlkreiskarte optimieren – also sozusagen eine symbolische Wirkung erreichen, die es eben hat, wenn alle Wahlkreise eine relativ einheitliche Farbe haben.” Beispiele dafür gebe es dabei laut Michl in allen politischen Parteien – aber eine sei besonders wirkungsvoll: die CSU. 

“Es gibt in Bayern immer wieder – ganz konkret in München – Diskussionen über die Einteilung der dort sogenannten Landtagsstimmkreise. Denn in München werden innerstädtische Wahlbezirke mit Stadtrandbezirken zusammengelegt. Die politische Situation in München sieht aus wie in vielen Großstädten: Das progressive Wählerpotenzial ist im Zentrum und das konservative am Rand. So kann man also progressive Mehrheiten verhindern, wenn auch nicht immer mit Erfolg. Wenn Sie die Münchner Stimmkreiskarte anschauen, sehen Sie, dass da langgezogene Streifen ins Zentrum ragen.”

Vergleich mit den USA hinkt

Trotzdem warnt Michl vor dem direkten Vergleich – beziehungsweise der Gleichsetzung mit dem aus den USA bekannten Gerrymandering. Denn in Deutschland ergeben sich, so Michl, aus derartigen Einwirkungen auf die Wahlkreisgrenzen nur ganz selten wirkliche Vorteile bei der Sitzverteilung im Parlament: “Es geht hier also, anders als in den USA, nicht um parteipolitische Machtfragen. In den Wahlkreisen wird nicht über die nächste Regierung entschieden, sondern es geht um Personalfragen und auch ein bisschen um Symbolpolitik.” Kurz: Mit der Einwirkung auf Wahlkreisgrenzen lässt sich in Deutschland – anders als in den USA – höchstens beeinflussen, wer für eine Partei ins Parlament zieht, aber nicht, wie viele Sitze die Partei gewinnt. 

Dass radikale Wahlkreismanipulationen wie beim Gerrymandering in den USA entgegen der Behauptung von Merz nicht möglich sind, liegt am deutschen Wahlsystem, erklärt Michl – denn, anders als in den USA, wird in Deutschland nach Verhältniswahlrecht gewählt.

“Das heißt also, bei uns werden grundsätzlich die Parlamentssitze nach dem Stimmenverhältnis der Parteien verteilt. Und das unterscheidet unser System kategorial vom US-amerikanischen System, das ja ein reines Mehrheitswahlrecht mit relativer Mehrheit in den Wahlkreisen vorsieht. Ein Verhältniswahlsystem schließt Gerrymandering weitgehend aus, weil es auf die territorialen Grenzen grundsätzlich nicht ankommt. Die Mandate also werden nach dem Stimmenverhältnis verteilt”, sagt Michl.

Die einzige Einschränkung: “Wir haben allerdings, jedenfalls im Bundestagswahlrecht und auch im Wahlrecht der meisten Länder, eine Mehrheitswahl im Wahlkreis. Grundsätzlich ist auch da gewählt, wer die meisten Stimmen im Wahlkreis erhält, und diese Wahlkreiswahl, die zur Listenwahl hinzutritt, setzt gewisse Anreize für Manipulationen.”

Gerrymandering-Kritik von der Union ist überzogen

Aber auch hier sieht Michl einen entscheidenden Unterschied zum Gerrymandering in den USA: “Nur zahlen sich diese Manipulationen machtpolitisch nie aus, weil unser Wahlgesetz sicherstellt – und das ist ganz entscheidend – dass keine Partei insgesamt mehr Sitze erhält, als ihr ja nach dem Wahlergebnis der Verhältniswahl zustehen. Diesen Verhältniswahlcharakter des Wahlrechts hat übrigens die Wahlrechtsreform aus dem vergangenen Jahr sogar noch optimiert. Aber bezeichnenderweise wird auch die von der Union mit sehr scharfer Rhetorik kritisiert.”

In den USA ist sind Republikanische Manipulationen der Wahlkreise derweil eine akute Bedrohung für die Demokratie, erklärt der Historiker Thomas Zimmer (Georgetown University) im Guardian:

“In Staaten, in denen die Republikaner das Sagen haben, sind sie fest entschlossen, Ein-Parteien-Herrschaftssysteme zu errichten. Der Plan ist immer derselbe: aggressive parteipolitische Umstrukturierung, Gesetze zur Unterdrückung von Wählern, Erleichterung künftiger Wahl-Subversion durch die Beseitigung staatlicher und lokaler Wahlvorstände und die Verleihung von mehr Macht an Republikanisch geführte Landesparlamente über die Durchführung von Wahlen. Diese Vorhaben sind nicht subtil, und die Republikaner fühlen sich zweifellos durch die Tatsache ermutigt, dass die konservative Mehrheit am Obersten Gerichtshof der USA eindeutig auf ihrer Seite ist.”

Eines der Beispiele für besonders dramatische Manipulation der Wahlbezirksgrenzen durch die GOP ist North Carolina: Dort hatten die Republikaner 2022 zwei Sitze am Obersten Gerichtshof des Bundesstaates gewonnen – und somit eine konservative Mehrheit geschaffen, was die Partei nutzte und das Gericht dazu aufforderte, frühere Urteile zu revidieren, die die parteiische Ziehung von Wahlbezirksgrenzen als Verstoß gegen die Verfassung North Carolinas gewertet hatten. Die GOP hatte Erfolg: Das Gericht verkündete, dass es in Fragen der Wahlkreisziehung nicht zuständig sei, weil es sich dabei um eine politische Frage handle.

Gerrymandering in den USA mit katastrophalen FOlgen

Laut dem Brennan Center for Justice ist die Neuziehung der Wahlbezirksgrenzen, die die GOP-geführte Legislative seitdem vollzogen hat, noch katastrophaler als befürchtet: “Nach Berechnungen des Brennan Centers ist die neue Karte zusammen mit der von Texas eine der beiden extremsten Kongresskarten, die es derzeit gibt. Die neue Wahlkreiskarte der Republikaner für North Carolina ist sogar so stabil, dass sie selbst in einem Jahr mit außergewöhnlich starken Demokratischer ‘Waves’ (z. B. 2018) nicht umgestoßen werden konnte.”

Trump hatte in North Carolina 50 Prozent der Stimmen gewonnen, Biden 49 Prozent. 

Statt der vorherigen Wahlkreiskarte, die North Carolinas Status als “purple state”  – also einem Staat, der mal Republikanisch, mal Demokratisch schwingt – mit einer bisherigen 50/50 Sitzverteilung widergespiegelt hatte, lässt die aktuelle Wahlkreis-Ziehung 10 Sitze für die GOP und 3 für die Demokraten vermuten, sowie einen umkämpften Wahlkreis (der momentan in Demokratischer Hand ist) – statt wie zuvor 7 Sitze für die GOP und 7 für die Demokraten. North Carolina ist eines von vielen Beispielen, die zeigen, wie die GOP versucht, durch Gerrymandering ihre Macht zu festigen, auch wenn ihre Politik keine numerischen Mehrheiten mehr erreichen kann.

Merz‘ USA-Vergleich: „grob irreführend“

Wisconsin ist ein weiteres, besonders extremes Beispiel für eine solche Manipulation der Wahlkreise, schreibt der Journalist Ian Millhiser:

“Die Legislative des Bundesstaates ist so aggressiv gerrymandered, dass es für die Republikaner wahrscheinlich unmöglich ist, die Kontrolle darüber in einer Wahl zu verlieren. Im Jahr 2018 erhielten die demokratischen Kandidaten für die Staatsversammlung in Wisconsin beispielsweise 54 Prozent der Stimmen, aber die Republikaner gewannen trotzdem 63 der 99 Sitze in der Versammlung.”

Vor dem Hintergrund dieser Situation in den USA, nennt Michl den Vergleich des Handelns der Ampel-Regierung mit Gerrymandering “grob irreführend”: “Denn aufgrund der geschilderten Systemunterschiede kann eine Situation wie in den USA in Deutschland überhaupt nicht eintreten. Wir haben kein Wahlrecht, in dem man Regierungsmehrheiten dadurch organisieren kann, dass man Wahlkreise passend zuschneidet. Man kann nur hoffen, dass Merz da einer Fehlinformation seiner Berater aufgesessen ist. Wenn das so ist, würde ich denen ein paar Nachhilfestunden in Wahlrecht empfehlen.” 

Merz: Unwissen oder bewusste Falschinformation?

Die Alternative dazu, sagt Michl, wäre erschreckend:

“Wenn das aber eine bewusste Falschinformationen wäre, ein bewusst verzerrender Vergleich, dann untergräbt das natürlich das Vertrauen in die Rechtmäßigkeit der nächsten Bundestagswahl. Und damit würde die Union die Axt an das Fundament der Demokratie legen. Die Demokratie lebt ja davon, dass die Bürgerinnen und Bürger das Parlament als legitim akzeptieren, also anerkennen, dass es rechtmäßig zustande gekommen ist. Irreführende Vergleiche mit dem Gerrymandering in den USA sind Wasser auf die Mühlen derjenigen, die sich der üblichen rechtspopulistischen Delegitimierungsstrategien bedienen.”

Sollte Merz sich bewusst sein, was er da impliziert hat, würde er sich in den Fußstapfen der Republikanischen Partei bewegen – und denen von Rechtspopulisten weltweit, die versuchen, das Vertrauen in die demokratische Grundordnung zu untergraben, indem sie grundlos behaupten, dass es bei der Zusammensetzung von demokratischen Parlamenten nicht mit rechten Dingen zugeht. Bestenfalls hat Merz sein Unwissen zur Schau gestellt – auch keine wirklich tröstliche Alternative. 

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Artikelbild: photocosmos1

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