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Netzsperren: Warum eine Seite für Schwangerschaftsabbrüche in Spanien gesperrt bleibt

Dieser Artikel stammt von Netzpolitik.org.Der Autor ist…
Eine Schwangerschaft auf Wunsch beenden? In Spanien ist das bis zur 14. Woche völlig legal. Trotzdem blockiert die Regierung seit drei Jahren die Webseite einer internationalen Organisation, die über Abbrüche informiert. Über einen Streit um Pillen und Meinungsfreiheit.
In einigen Regionen bietet keine öffentliche Klinik mehr Abbrüche an. – CC-BY 4.0 Illustration: DALL-E, Promt: a woman from the back standing in front of a clinic with a red cross on it that is barred, Outpainting: DALL-EEnde Januar 2020 wird langsam klar, dass etwas nicht stimmt. Bei Women on Web gehen Nachrichten ein: Ihre Website ist von Spanien aus nicht mehr zu erreichen. Wer die Adresse im Browser aufrufen will, bekommt etwa eine Fehlermeldung: „Fehler 404  – Seite nicht gefunden“. Die Ursache dafür erfährt die Organisation erst Wochen später: Die spanische Arzneimittelbehörde hatte eine Netzsperre angeordnet. Die größten Internetanbieter der Landes mussten dafür sorgen, dass ihre Nutzer:innen nicht mehr auf die Website von Women on Web gelangen.
Heute, mehr als drei Jahre später, haben sich drei verschiedene Gerichte mit der Sache beschäftigt, bis hinauf zu Spaniens Oberstem Gerichtshof. Dieser hatte im Oktober geurteilt, dass die Sperre von womenonweb.org nicht rechtens war. Und trotzdem ist die Seite bis heute von Spanien aus ohne Tricks nicht zu erreichen. Wie kann das sein?
„Illegaler Verkauf von Arzneimitteln“
Seit 18 Jahren informiert die internationale Organisation mit Sitz in Kanada kostenlos zu Schwangerschaftsabbrüchen. Und sie verschickt auf Anfrage die beiden Mittel Mifepristone und Misoprostol für einen medikamentösen Schwangerschaftsabbruch, meist in Länder, wo restriktive Gesetze den Abbruch schwer machen. Mit einigen Tagen Abstand genommen, sorgen diese Medikament mit hoher Wahrscheinlichkeit dafür, dass eine Schwangerschaft endet, die WHO empfiehlt die Methode bis zur 12. Woche und stuft sie als sicher ein.
In Spanien waren die Behörden anderer Ansicht. Bereits Mai 2019 schickte die Arzneimittelbehörde Women on Web eine E-Mail: Die telematische Vermarktung dieser Medikamente in Spanien sei illegal. Die Organisation dürfe keine Pillen anbieten. Denn Mifepristone und Misoprostol dürfen in Spanien nur von Ärzt:innen verschrieben werden. Aus Sicht der Behörde war es deswegen so: Weil Women on Web die Mittel an Hilfesuchende abgibt, ist damit der Straftatbestand des „illegalen Verkaufs von Arzneimitteln“ erfüllt. Dass die Organisation die Mittel gar nicht verkauft, sondern kostenlos anbietet und lediglich um Spenden bittet, machte da offenbar keinen Unterschied.
Das Spanische Gesetz erlaubt seit 2019 bei Gefahren für die „öffentliche Sicherheit“ und „nationale Sicherheit“ das Sperren von Websites – auch ohne eine richterliche Anordnung. Genau das hat die Behörde getan. Nur sperrte sie eben nicht nur den Teil des Seite, wo die Medikamente angeboten wurden, sondern die gesamte Website. Das betraf auch alle Informationen zu Schwangerschaftsabbrüchen, die Women on Web bietet. Damit ist eingetreten, wovor Organisationen wie Amnesty International schon bei der Einführung des Gesetzes gewarnt hatten: Eine Behörde hatte einfach entschieden, dass Menschen in Spanien keinen Zugang zu einer bestimmten Website mehr haben sollten.
Oberster Gerichtshof kassiert Sperre
Rein technisch funktioniert eine Netzsperre wie eine Art Sichtschutz. Die gesperrten Webseiten bleiben weiter online, sie sind lediglich in einem bestimmten geografischen Gebiet nicht mehr zu sehen – zumindest nicht ohne entsprechende Werkzeuge. Wer sie umgehen will, kann beispielsweise ein VPN oder den Tor-Browser nutzen.
Freiwillige des Open Observatory of Network Interference (OONI), das mit Hilfe einer freien Software Netzblockaden untersucht, haben detailliert zusammengetragen, welche Internetanbieter mit welchen technischen Verfahren die Seite blockieren. Ihre Analyse zeigt, dass mindestens vier Verfahren zum Einsatz kommen – von einer eher zahmen Umleitung bis zur technisch versierten Blockade bestimmter Daten. Besonders weit gehen Vodafone und Telefónica. Sie haben sogar eine Technik namens Deep Packet Inspection angewandt, eine der invasivsten Technologien, um Inhalte zu blockieren. Sie kommt sonst vor allem in Ländern wie China, der Türkei oder Indien zum Einsatz, wo Massenabschaltungen des Internets gängige Praxis sind.
Auch rechtlich gelten Netzsperren als schweres Geschütz. Sie verletzen den Grundsatz der Netzneutralität, also die Gleichbehandlung aller Daten bei der Übertragung im Netz und den freien Zugang dazu. Vor allem autoritäre Staaten machen von ihnen Gebrauch, um unliebsame Inhalte zu zensieren. In demokratischen Staaten sollten die Hürden deswegen hoch liegen, bevor dieses Mittel ausgepackt wird.
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In Spanien schien die Hürde nicht ganz so hoch zu liegen. Die Arzneimittelbehörde konnte die Netzsperre einfach anordnen, Internetanbieter von Vodafone bis Orange mussten sich daran halten. Oder so schien es zunächst. Denn offenbar war diese Interpretation der Rechtslage etwas voreilig.
Women on Web klagte 2021 gegen die Sperre und bekam in Teilen recht. Im Oktober urteilte der Oberste Gerichtshof Spaniens, dass die Netzsperre gegen womenonweb.org nicht im Einklang mit dem Gesetz war. Die Behörde hätte zwar ohne richterliche Anordnung die Teile der Seite sperren dürfen, auf denen die Medikamente angeboten wurden, also die Seiten, auf denen Women on Web titelt „Bestelle Abtreibungspillen online“ – nicht aber die ganze Website.
Denn die Medikamentenabgabe sei zwar klar illegal, aber neben den Arzneimitteln finde man hier auch „Informationen, Empfehlungen und Meinungen zu sexueller Gesundheit und reproduktiven Rechten“. Diese Inhalte fielen „zweifellos in die Kategorie der Informationen und Meinungsäußerungen, so dass ihre Unterbrechung ohne vorherige richterliche Genehmigung nicht rechtmäßig erfolgen konnte“. Darüber hinaus übten Organisationen, die sich für die sogenannten reproduktiven Rechte einsetzen, eine Tätigkeit mit einer politischen Dimension aus. Da müsse man besonders auf die Meinungsfreiheit achten.
Das Urteil: Die Sperre des Seite als Ganzes müsse wieder aufgehoben werden. Nur die Teile, auf denen Medikamente angeboten werden, dürften weiter blockiert bleiben.
„Unfair und unaufrichtig“
Das war im Oktober. Geschehen ist danach erst mal lange nichts, berichtet die Anwältin Gema Fernández, die die Organisation vor Gericht in Spanien vertritt. Der Streit ging stattdessen weiter. Die Arzneimittelbehörde und die sie vertretende Staatsanwaltschaft hatte nun ein neues Argument: Es sei technisch unmöglich, das Urteil des Obersten Gerichtshofes umzusetzen. Denn wer die Website besucht, nutzt HTTPS, eine verschlüsselte Verbindung. Der Internetanbieter sieht nicht, welche Unterseiten eine Person aufruft und kann sie deshalb nicht einzeln blockieren. Deswegen müsse eben die gesamte Seite in Spanien gesperrt bleiben, um illegalen Handel mit Medikamenten zu verhindern.
Women on Web ist wütend. „Wir fühlen uns durch dieses Urteil in die Irre geführt und verraten“, sagt Venny Ala-Siurua, aktuelle Geschäftsführerin von Women on Web in einer aktuellen Pressemitteilung. „Wir waren nie ganz zufrieden mit der Entscheidung, einen Teil unserer Seiten gesperrt zu halten. Aber zu erfahren, dass es nie eine echte Möglichkeit gab, unsere Seiten teilweise zu entsperren, fühlt sich sehr unfair und unaufrichtig an.“ Die Spanische Regierung müsse die Seite sofort wieder freigeben, alles andere sei ein Verstoß gegen das Recht auf freie Information zum Schwangerschaftsabbruch.
Abbrüche: Legal und doch schwer zu bekommen
Schwangerschaftsabbrüche sind in Spanien seit 2010 nicht mehr kriminalisiert. Die damalige sozialdemokratische Regierung hat den Kurs gewechselt und etabliert, dass jede Person auf Wunsch eine Schwangerschaft bis zur 14 Woche beenden kann. Vor kurzem hat die amtierende Regierung von PSOE und der linken PODEMOS den Zugang zur Abbrüchen noch weiter erleichtert, nun muss man sich vor dem Abbruch nicht verpflichtend beraten lassen. Auf dem Papier klingt die Situation besser als in Deutschland, wo der Abbruch immer noch im Strafgesetzbuch geregelt wird.
In der Praxis ist sie das offenbar nicht. Spanien ist ein katholisches Land. Ärzt:innen oder Krankenpfleger haben das Recht, einen Abbruch aus Gewissensgründen zu verweigern. Niemand weiß genau, wie häufig das geschieht – man muss die Verweigerung aus Gewissensgründen nicht melden. Feministische Organisationen berichten aber von bestimmten Regionen, etwa im andalusischen Süden, wo gar keine Abbrüche mehr angeboten werden. Die New York Times berichtete vor zwei Jahren, in der ganzen Region Aragonien im Norden des Landes gebe es keine einzige öffentliche Klinik, die noch einen Abbruch durchführt. Auch das Forschungsprojekt European Abortion Access verweist auf Studien, die zeigen, dass in bestimmten Regionen kaum noch eine Versorgung besteht.
Women on Web argumentiert: Schwangere in Spanien sind auf die Informationen auf ihrer Seite angewiesen, es gehe um ein Grundrecht.
Schwangerschaftsabbruch per Mausklick

Women on Web will vor das Verfassungsgericht
Der Streit geht weiter: Women on Web kämpft nicht nur mit der Arzneimittelbehörde um die Freigabe ihrer Website. Sie will auch das Urteil des Obersten Gerichtshofes nicht anerkennen, der Streit soll bis vors Verfassungsgericht.
„Die Entscheidung ist zwar weitgehend positiv“, sagt Gema Fernández. Und dennoch hatte das Gericht geurteilt, es sei illegal, dass Women on Web Medikamente abgebe, die in Spanien nicht zugelassen sind, „selbst wenn die Medikamente von einem Arzt in einem anderen EU-Mitgliedstaat verschrieben wurden“. Dagegen hat die Organisation Berufung eingelegt. Sie argumentiert, dass man erstens keine Medikamente verkaufe, sondern bei Bedarf nur den Kontakt zu Ärzt:innen herstellt. Diese würden dann die gleichen Medikamente verschreiben, wie sie auch in Spanien verschrieben würden. Zweitens seien die Medikamente entgegen der Auffassung des Gerichtes sehr wohl in Spanien zugelassen. Die Entscheidung über die Zulässigkeit der Beschwerde durch das Verfassungsgericht steht noch aus.
Die Situation ist paradox. Ausgerechnet das Verschlüsselungsprotokoll HTTPS, mit dem die Organisation den Besuch auf ihrer Webseite für ihre Nutzer:innen sicherer macht, sorgt jetzt womöglich dafür, dass die ganze Seite in Spanien gesperrt bleibt. Zu einem weniger sicheren Standard zu wechseln, sei für Women on Web aber keine Option, sagt Gema Fernández. Die Organisation bleibt bei ihrer Forderung: Die ganze Seite muss entsperrt werden.

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Author: Chris Köver

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