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NS-Verharmlosung eines rechten Aktivisten erhält breiten Applaus – Murray

Die tektonischen Platten des öffentlichen Diskurses in Deutschland scheinen sich gerade zu verschieben. Nur zwei Tage nach dem 9. November, an dem den jüdischen Opfern der Reichspogromnacht gedacht wurde, teilten hohe Regierungmitglieder – darunter Gesundheitsminister Karl Lauterbach, das Mitglied des Sachverständigenrats Wirtschaft Veronika Grimm, der Antisemitismus-Beauftragte des Landes Baden-Württemberg Michael Blume und Schleswig-Holsteins Bildungsministerin Karin Prien einen Tweet von Jan Fleischhauer, in dem der begeistert einen Interviewausschnitt zwischen dem britischen Journalisten Piers Morgan und dem rechten Aktivisten Douglas Murray zeigte. Fleischhauer schrieb: “Das ist großartig. Von beiden Seiten. So etwas wäre im deutschen TV undenkbar. Die ganze Erziehung von Fernsehjournalisten zielt bei uns darauf ab, solche glasklaren Fragen zu vermeiden – und solche glasklaren Antworten.”

Verharmlosung von Naziverbrechen im Vergleich mit der Hamas

Douglas Murray ist ein rechter Aktivist, neben dem sogar Piers Morgan, der tief im rechtskonservativen Spektrum verankert ist, fast gemäßigt wirkt. Murray ist in dem Videoclip aus Israel zugeschaltet. Er macht keinen Unterschied zwischen der Hamas und der palästinensischen Zivilbevölkerung, wischt Morgans Widerspruch diesbezüglich weg und schließt das Interview mit der Verharmlosung von Naziverbrechen im Vergleich mit der Hamas. Murray behauptet, dass die Täter des Holocausts, anders als Hamas – Scham bei der Ermordung von Juden empfunden hätten. Dabei erwähnt er explizit:

“Sogar die Nazis haben sich über das, was sie getan haben, geschämt. SS-Battallione, die ihre Tage damit verbrachten, Juden in den Hinterkopf zu schießen und sie in Gruben zu treten, mussten sich abends sehr, sehr betrinken, um zu vergessen, was sie getan hatten.”

Anders als die SS-Mitglieder, die Jüdinnen und Juden ermordeten, habe die Hamas Freude an den Massakern gezeigt: “Der Unterschied ist: Sie haben es mit Stolz getan. Sie waren sehr stolz”, sagt Murray und berichtet von einem Hamas-Mitglied, das stolz seine Eltern angerufen habe, um damit zu prahlen. Murray behauptet anschließend, die Nazis hätten versucht, ihre Verbrechen zu vertuschen – während die Hamas damit öffentlich prahle  – implizierend, dass die Täter der Hamas moralisch verwerflicher und barbarischer als die Nazis seien. 

Hamas-Verurteilung muss erfolgen, ohne dass der Holocaust relativiert wird

Bevor wir in die historische Analyse gehen, eines vorneweg: Das grausige Massaker der Hamas ist kategorisch zu verurteilen. Das steht nicht zur Debatte. Diese Verurteilung muss erfolgen, ohne dass dabei die Verbrechen der Nazis und der Holocaust relativiert werden. Murray stellt in dieser Erzählung eine Abstufung der Grausamkeit von Massakern her – bei der er impliziert, die Täter, die sechs Millionen Juden töteten, seien weniger moralisch verkommen als die Schlächter der Hamas. 

Es gibt, wie der Holocaust-Historiker Dr. Waitman W. Beorn auf Twitter im Bezug auf Murrays Interview anmerkt, “Berge an Beweisen von glücklichen SS Mördern.” Zwar gab es damals noch kein TikTok, aber es gibt genügend Fotos, auf denen die deutschen Mörder mit Leichen posieren, und abertausende Ereignismeldungen der Einsatzgruppen der SS, sowie Unterlagen aus den Vernichtungslagern, die den Genozid an den Juden ausführlichst dokumentieren. 

“Berge an Beweisen von glücklichen SS Mördern”

Ich habe Dr. Beorn gefragt, wie er als Experte Murrays Behauptungen aus dem Interview einordnet. Boern weist zunächst auf den schiefen Vergleich hin: “Zwar hat die Hamas in der Vergangenheit schon israelische Zivilisten ermordet, aber wenn wir uns auf die Nazis beziehen, sprechen wir über einen modernen Nationalstaat mit einer massiven Bevölkerung und einer massiven Bürokratie, die sich dem Massenmord an Juden verschrieben hat, und nicht über eine (wie ich annehme) kleinere Gruppe fanatischer Mörder, die sich Rache für das, was sie als Verbrechen gegen sich sehen, verschrieben haben. Das ist keine Hamas-Apologetik, sondern der Hinweis auf grundlegende Unterschiede der Umstände der Morde.” 

Es ist nicht immer ganz klar, auf welche Nazis Murray sich bezieht – allerdings nennt er häufig die SS. “Beginnen wir also mit den Einsatzgruppen”, sagt mir Beorn. “Die Führungsriege wurde nicht zuletzt aufgrund ihrer ideologischen Übereinstimmung mit der Notwendigkeit der Ermordung der Juden ausgewählt und auf diese Positionen vorbereitet. Das Fußvolk wurde eher willkürlich ausgewählt. Murray et. al. scheinen ein zweiteiliges Argument vorzubringen: Erstens, dass die Nazi-Mörder (wer auch immer gemeint ist) sich irgendwie moralisch unwohl fühlten, weshalb sie ihre Taten nicht öffentlich gemacht hätten, wie es die Hamas mit ihren Morden getan hat – was mir als Rechtfertigung für das seltsame Argument zu dienen scheint, dass die Hamas (und/oder islamische Extremisten) schlimmer als die Nazis sind, weil sie die sozialen Medien nutzen, um ihre Verbrechen zu Propagandazwecken zu veröffentlichen.”

“Der zweite Teil des Arguments ist der islamophobe Teil“

An dieser Stelle weist Beorn darauf hin, dass er kein Experte für Hamas oder Israel sei, und deswegen nicht wisse, auf welche Materialien Murray sich hier stütze. “Der zweite Teil des Arguments ist der islamophobe Teil, der darauf abzuzielen scheint, die Gewalt der Hamas als einzigartig schrecklich darzustellen, mit dem Subtext, dass der Grund dafür ist, dass sie Muslime sind, und um dann weiter buchstäblich jede Art von Reaktion zu rechtfertigen.” 

Seit der Verbreitung des Videos wurde vermehrt – unter anderem auch von einem von Murrays Verteidigern, Rabbi Solomons, auf eine Rede Himmlers verwiesen, die dessen These stützen würde. Beorn widerspricht dieser Behauptung auf Grundlage der Quellen: “In Himmlers Posener Rede geht es nicht darum, dass er zugibt, dass das Töten ‘falsch’ war. Leute wie Murray und Rabbi Solomons scheinen sich auf den Teil zu konzentrieren, der ‘niemals geschrieben werden darf’, anstatt auf den Teil, der ‘das größte Kapitel unserer Geschichte’ beschreibt”, sagt Beorn im Verweis auf Himmlers Rede an SS-Mitglieder.

“An anderer Stelle der Rede macht sich Himmler über die Nazis in der Heimat lustig, die mit der allgemeinen Notwendigkeit, alle Juden zu ermorden, übereinstimmen, aber ihre Beispiele für ‘gute Juden’ haben, d.h. eine verirrte Gesinnung. Nirgends sagt er, dass das, was sie getan haben, falsch war”, stellt Beorn richtig. “Das bringt uns zu der offensichtlichen Idiotie der Behauptung ‘Nazis vertuschten ihre Verbrechen, weil sie sich ihrer schämten’. Das ist einfach eine sehr seltsame und apologetische Fehlinterpretation”, sagt Beorn. 

Die nazis wollten Beweismaterial vernichten, sie haben sich nicht geschämt

Versuche durch die Nazis, ihre Gräueltaten zu verstecken, waren stattdessen dem Ziel geschuldet, Beweismaterial zu vernichten. “Die Sonderkommando 1005-Mission ist ein gutes Beispiel dafür. Während der Erschießungen der Einsatzgruppen in Osteuropa waren die Gräber oft sehr schlecht abgedeckt.” Während ihres Mordzuges im Schatten der ostwärts rückenden Wehrmacht, machten sich die Einsatzgruppen keinesfalls die Mühe, ihre Mordspuren zu beseitigen. “Die Erschießungen waren buchstäblich KEIN GEHEIMNIS für jeden in der Gegend”, erklärt Beorn. “Als jedoch klar war, dass der Krieg schlecht verlief – 1943-, wurden Blöbel und das Sonderkommando 1005 losgeschickt, um die Leichen auszugraben und zu verbrennen und so weiter. Die Verbrennung der Leichen in den Tötungsanstalten hatte nichts mit Beweisvernichtung zu tun, sondern nur mit Hygiene.” 

Zudem wäre die Publizierung der Massenmorde an Jüdinnen und Juden für die Nazis sinnlos gewesen, sagt Beorn: “Die Ermordung der Juden war eine staatliche Aufgabe, die von der Regierung eindeutig sanktioniert und von einem großen Teil der Bevölkerung akzeptiert wurde.” 

Hamas will wohl Repressalien provozieren

Die Veröffentlichung der Morde der Hamas durch Social Media scheine hingegen ein bestimmtes Ziel zu verfolgen: “Wenn ich davon ausgehe, dass ein Teil des Ziels der Hamas darin besteht, absichtlich einen massiven Rückschlag gegen die Bevölkerung des Gazastreifens herbeizuführen, um einen permanenten Kriegszustand herbeizuführen, dann macht es durchaus Sinn, ihre schrecklichen Taten so weit wie möglich bekannt zu machen, um so viel Wut wie möglich zu erzeugen”, erklärt Beorn. 

Ordnete Himmler an, dass die führenden Offiziere der Einsatzgruppen Gemeinschaftsabende nach Massakern veranstalten sollten? Sicher – aber der Grund dafür war nicht, dass die Männer so ihre Scham ertränken sollten (Himmler verabscheute Alkohol), sondern um ein Zusammengehörigkeitsgefühl unter den Mördern zu fördern. 

Alkoholisierte Gewaltorgien

Untersuchungen von Historikern zur Verwendung von Alokohol im Holocaust lassen darauf schließen, dass Alkoholmissbrauch im Zusammenhang mit Massakern teils zu noch brutaleren Gewaltexzessen führte. Die Trinkgelage waren teils Feste, teils selbst Gewaltorgien, um einem brutalen Männlichkeitsideal zu huldigen und den Zusammenhalt der Täter zu festigen. Gleichzeitig war Alkoholmissbrauch auch eine Möglichkeit für die Mörder, ihre körperlichen Reaktionen auf das Morden zu betäuben. 

Die Einsatzgruppen experimentierten mit verschiedenen Hinrichtungsmethoden, während sie ihre Mordexzesse eskalierten. Dafür gab es verschiedene Gründe – einer davon waren die psychischen Auswirkungen auf die Täter. Und Himmler schlug in der Tat “Kameradschaftabende” vor, damit die Männer das Trauma des Tötens verarbeiten sollten.

“Bei denjenigen, die das Töten von Angesicht zu Angesicht durchführten, gab es in erheblichem Umfang sogenannte Posttraumatische Belastungsstörungen. Dies war in erster Linie auf die körperliche Erfahrung zurückzuführen, Tausende von Menschen aus einer Entfernung von wenigen Metern zu ermorden. Da die meisten Mörder keine klinischen Soziopathen waren (d. h. unfähig, sich in andere Menschen einzufühlen), erlebten sie natürlich Trauma und Abscheu vor ihren Taten, insbesondere wenn sie Frauen und Kinder töteten. Wenn man mit Blut und Hirnmasse bedeckt ist, kann das passieren”, erklärt Beorn. 

Doch was Murray und seine Verteidiger bei ihrer Referenz von “Ordinary Men”, dem Standardwerk des Holocaust-Historikers Christopher Browning übersehen, ist folgender zweiter Punkt, sagt Beorn: “Die meisten Männer waren in der Lage, dies zu überwinden und weiter zu töten. Und viele haben dann Wege gefunden, ihr Töten zu rechtfertigen.” Alkohol bei “Kameradschaftsabenden” sei zwar auch eingesetzt worden, um das Erlebte zu betäuben, und habe die effiziente Ausführung der Massaker teils erschwert: “Es wurde sicherlich als Mittel eingesetzt, um zu vergessen, was sie getan hatten. Aber: PTBS nicht dasselbe ist wie moralische Uneinigkeit.”

PTBS nicht dasselbe wie eine moralische Ablehnung der Taten

Ein Beispiel dafür, dass auch entschlossene Mörder PTBS haben konnten, ohne von ihrer Überzeugung, Juden müssten getötet werden, abzurücken, ist Erich von dem Bach-Zelewski, sagt Beorn: “Als Höherer SS- und Polizeiführer für Weißrussland leitete er Massenmord an den dortigen Juden (und schlug den Aufstand in Warschau nieder). Er wurde von seinem Arzt so beschrieben, dass er Flashbacks und Alpträume hatte, die mit der Ermordung von Juden zusammenhingen. Aber auch hier gilt, dass eine PTBS nicht dasselbe ist wie eine moralische Ablehnung der Taten. Dasselbe gilt für Himmlers Besuch im August [1941] bei der Erschießung in Minsk.” Bei dieser Massenhinrichtung, bei der Wissenschaftler davon ausgehen, dass auch Frauen erschossen wurden, wurde Himmler schlecht. “Zu behaupten, das bedeute, dass er tief im Inneren wusste, dass was er tat, falsch war, ist ein Schluss, der an Wahnsinn grenzt”, so Beorn. 

Und selbst wenn einige Mörder nicht freudestrahlend den Abzug drückten, mache das keinen Unterschied: “Das Unbehagen einiger Mörder mag aus dem Gefühl resultieren, dass es falsch war – na und? Und während die jüngsten Kommentatoren (vermutlich) von den Schützen sprechen, was ist mit dem Lagerpersonal?! Das hat auch viele Menschen ermordet. Kurt Franz [ erst stellvertretender, dann Lagerkommandant von Treblinka ] nannte sein Fotoalbum ‘Die gute alte Zeit’. Sobald sie sich nicht mehr selbst töteten, schien das Lagerpersonal recht zufrieden mit dem, was sie taten”, resümiert Beorn. 

Auch die Behauptung, dass Nazis ihre Taten nicht hinausposaunten, ist nicht haltbar

Tatsächlich: In einem Luxus-Ferienresort, nur ein paar Meilen vom Vernichtungslager Auschwitz entfernt, genossen SS-Mitglieder, Männer wie Frauen, ihre freie Zeit, wie zahlreiche Fotos belegen. Auch die Behauptung, dass Nazis ihre Taten nicht in die Welt hinausposaunten, ist vor dem Hintergrund der Quellenlage nicht haltbar. Zwar sind Frontbriefe und -Postkarten eine insgesamt schwierige Quellengattung, weil erstens unklar ist, was es nicht durch die Zensur schaffte und es sich zweitens um sog. Ego-Dokumente handelt, doch auch hier ist die Beweislast drückend – und zeichnen eine rasche Normalisierung und Rechtfertigung der systematischen Ermordung von Juden, inklusive Frauen und Kindern bis ins Babyalter. 

So beschrieb beispielsweise der Polizeisekretär Walter Mattner das erste Massaker in Mogilew im Oktober 1941, bei dem ein Drittel der jüdischen Bevölkerung der Stadt massakriert wurde und bei dem die allerletzte menschliche Hemmschwelle fiel – die Tötung von kleinen Kindern. Bevor er an dem ersten Massaker teilnahm, schrieb er an seine Frau: 

„Was liegt schon an tausendzweihundert Juden, die wieder irgendeinmal in einer Stadt zuviel sind und umgelegt werden müssen.“ 

Am 5. Oktober 1941 schrieb Mattner in einem Brief an seine Frau:

„Ich war auch dabei bei dem großen Massensterben am vorgestrigen Tage. Bei den ersten Wagen hat mir etwas die Hand gezittert, als ich geschossen habe, aber man gewöhnt [sich an] das. Beim zehnten Wagen zielte ich schon ruhig und schoß sicher auf die vielen Frauen, Kinder und Säuglinge.“ 

Anschließend verteidigt er seine Taten: 

„Eingedenk dessen, dass ich auch 2 Säuglinge daheim habe, mit denen es diese Horden genauso, wenn nicht zehnmal ärger machen würden. Der Tod, den wir ihnen gaben, war ein schöner, kurzer Tod […] Säuglinge flogen in großem Bogen durch die Luft, und wir knallten sie schon im Fliegen ab, bevor sie in die Grube und ins Wasser flogen.”

(zit. n. Gerlach, Christian: Kalkulierte Morde. Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrußland 1941 bis 1944, Hamburg 1999, S. 587 ff. und Mallmann, Klaus-Michael; Rieß, Volker; Pyta, Wolfram: Deutscher Osten 1935-1945. Der Weltanschauungkrieg in Photos und Texten, Darmstadt 2003, FN 217, S. 28.)

„vergessen wir nicht die Berichte, in denen sie damit prahlten, wie viele Juden sie ermordet hatten”

“Und vergessen wir nicht die Stroop und Katzmann Berichte, in denen sie damit prahlten, wie viele Juden sie ermordet hatten”, sagt mir Beorn. “Und den Stahlecker Bericht.” Eine Zeichnung aus letzterem ist eine Federzeichnung Stahleckers, SS-Brigadeführer – eine Landkarte, auf die er feinsäuberlich Särge gemalt hatte, und mit den jeweiligen Zahlen der dort von der durch ihn geleiteten Einsatzgruppe A ermordeten Juden versehen hatte: Estland, über dessen 936 ermordete Juden er “JUDENFREI” geschrieben hatte. Lettland, 35.238 ermordete Juden. Litauen, 136.421 ermordete Juden. Der Bericht verzeichnet die Ermordung von insgesamt 118.000 Juden- Männer, Frauen und Kindern, zwischen Juni und Oktober 1941. Im Winter 1941 meldete Stahlecker 249.420 getötete Juden.

Murray strickt eine Erzählung, die nicht nur Nazi-Täter entlastet, sondern eine Dichotomie aufmacht zwischen “Westlichem” Morden – schlimm, aber man fühlt sich immerhin schlecht dabei, zivilisiertes Morden – und Hamas-Morden, die als schlimmer und barbarischer dargestellt werden. 

Entlastung der Verbrechen der (Ur-)Großelterngeneration

Damit bietet Murray etwas, das bei vielen Deutschen scheinbar auf großen Zuspruch stößt: Entlastung der Verbrechen der (Ur-)Großelterngeneration, die sich als Unterstützung Israels darstellen lässt. Stattdessen ist es der Versuch, die schrecklichen Massaker der Hamas zu instrumentalisieren, um Nazi-Verbrechen zu verharmlosen. Dabei schreckt Murray auch nicht davor zurück, Kritikern mit juristischen Schritten zu drohen – wie beispielsweise Jessica Simor, Visiting Professor an der London School of Economics. Simor ist jüdisch, die Nachfahrin von Holocaust-Überlebenden und hatte Murrays Behauptungen kritisiert, ihn als “Nazi Apologeten” bezeichnet – und erhielt prompt Post von seinem Anwalt. Daraufhin sah sie sich gezwungen, ihren Tweet zu löschen und schrieb: “Ich werde alle meine Tweets löschen, weil ich eine Familie zu unterstützen habe. Die Familie meines Vaters wurde in Auschwitz getötet. Ich bin zutiefst verstört und verletzt durch das, was Murray über die SS gesagt hat.- Ich lösche jetzt meine Tweets von gestern.” 

Der Journalist Marius Mestermann fasst auf Twitter treffend das Entsetzen über diejenigen, die Murrays Interview so begeistert teilten, zusammen:

“Wenn prominente, intellektuell hochfähige Leute nicht in der Lage sind, das Problem an Nazi-Relativierung zu sehen, fällt mir einfach nichts mehr ein. Braucht es den Vergleichswert SS-Kommandos, um die Dimension des Hamas-Terrors zu beschreiben? Wir sind diskursiv bald bankrott.” 

Und auch Mathieu von Rohr vom Spiegel trifft den Nagel auf den Kopf:

“Dass Leute, die sich vor kurzem noch als liberal bezeichnet hätten, nun ihre Liebe für Douglas Murray entdecken, sagt einiges aus über die Diskursverschiebungen, die gerade stattfinden.”

Karl Lauterbach löschte seinen Tweet ohne Erklärung oder Entschuldigung

Doch auch nachdem Historiker und andere Journalisten Murrays Aussagen kontextualisiert und über seinen eigenen rechten Hintergrund aufgeklärt hatten, beharren mehrere prominente Figuren in Politik und Medien auf der Legitimierung eines Rechtsaußen-Akteurs im öffentlichen Dialog. 

Karl Lauterbach löschte seinen Tweet ohne Erklärung oder Entschuldigung. Karin Prien schrieb, dass sie zwar Murrays Aussagen zur SS nicht teile und die Massaker der Hamas nicht zur “Relativierung der singulären, industriellen Vernichtung der europäischen Juden, des Menschheitsverbrechens der deutschen Nationalsozialisten” missbraucht werden dürften – obwohl Murray genau das tut. Des weiteren behauptete sie: “Murray ist konservativ, aber kein Nazi und kein Rassist, er bewegt sich im demokratischen Meinungsspektrum.”

Sie teile zwar “seine undifferenzierte Islamkritik nicht”, aber “habe Respekt vor seinem Engagement für Israel, für Freiheit und Bürgerrechte und halte ihn für eine Stimme, die man hören sollte in der Debatte um Verteidigung von Freiheit und Sicherheit in westlichen Demokratien.” Veronika Grimm schrieb: “Murray ist offensichtlich nicht die ideale Person, um über seine Aussagen einige wichtige Punkte zu verdeutlichen. Er ist zu polarisierend, das ist sicher.” Und erklärt weiter,

“Andere sehen die Relativierung des Holocaust. Seine Behauptungen sind nicht falsch, aber schmerzhaft unvollständig und verharmlosen dadurch die Grausamkeit und Brutalität des Holocaust. Die Relativierung, die das ausdrückt, teile ich definitiv nicht, sie ist völlig unangemessen.”

hier noch eine Falschaussage und Verharmlosung Murrays

Auch hier noch eine Falschaussage und Verharmlosung Murrays – dessen Aussagen in der Tat einfach falsch, nicht nur “schmerzhaft unvollständig” sind. Abschließend findet Grimm noch Zeit für eine bizarre Bemerkung: “Auffällig ist auch, dass mittlerweile „rechtsradikal“, „Rassist“, o.ä. inflationär verwendet wird und vor allem auch für viele Politiker, die durchaus dem demokratischen Spektrum zuzuordnen sind.”

Und auch Jochen Bittner von der “Zeit” verteidigte Murray gegen den Vorwurf, sich rassistisch geäußert zu haben. Annette Dittert, die ARD-Korrespondentin für London, die Murrays Rolle als rechter Akteur schon zuvor eingeordnet hatte, widersprach ihm, doch Bittner ließ sich in seiner Verteidigung Murrays nicht beirren und schrieb: “Ich finde vieles, was er mittlerweile sagt, deutlich zu wutgesteuert. Das rechtfertigt aber noch keinen Rassismus-Vorwurf.”

Rassistische Äußerungen von Murray:

Schauen wir doch mal in Murrays Äußerungen der letzten Jahre: Er nannte den Islam eine “opportunistische Infektion” und Muslime eine “demografische Zeitbombe”. Für den Fall, dass Verteidiger Murrays dies aus unerfindlichen Gründen nicht als Rassismus, sondern noch als ganz normale “Islamkritik” verstehen sollte, gibt es noch mehr: 

Auf der Nationalist Conservatism Conference, einem Ableger derselben rechtsaußen Fraktion unter Republikanern in den USA, in London, verharmloste Murray dieses Jahr schon einmal den Holocaust in “Vogelschiss”-Manier und behauptete: “Es gab nichts Falsches am Nationalismus in Großbritannien. Es ist nur so, dass mit dem Nationalismus in Deutschland etwas nicht in Ordnung war. Ich sehe nicht ein, warum es niemandem erlaubt sein sollte, sein Land zu lieben, nur weil die Deutschen es zweimal in einem Jahrhundert vermasselt haben.” 

Nachdem er Tags zuvor noch abgestritten hatte, dass Murray Holocaust-Verharmlosung betreibe, räumte Bittner später ein, dass dessen Äußerungen doch „Demagogie“ seien.

Murray: Rechte Untergangsszenarien

Murray schrieb 2022 ein Buch mit dem Titel “Der Krieg gegen den Westen”, das in der Tradition von rassistischen Machwerken wie Pat Buchanans “Der Tod des Westens” zu sehen ist. Darin behauptet Murray, “der Westen” werde angegriffen – und erklärte in einem Interview mit dem Wall Street Journal, es gäbe “nur eine zulässige Form von Rassismus, und diese zulässige Form ist Rassismus gegen Weiße, über die mittlerweile fast alles gesagt werden kann.” Für Murray ist “der Westen” Weiß –  daher sei dieser “Krieg gegen den Westen” “ein Krieg gegen die Mehrheitsbevölkerung in westlichen Ländern, ein sehr erbarmungsloser, sehr hässlicher, sehr erniedrigender Krieg gegen sie auf der Grundlage von nichts anderem als der Hautfarbe.” 

Murrays Werk gehört zu einem Genre von apokalyptischen Untergangsszenarien, in denen vor “woken Kämpfern” gewarnt wird, Narrative, die sich auch hierzulande vermehrt verbreiten. Murray zitiert darin Enoch Powells rassistische “Rivers of Blood” Rede als “prophetisch”. Im Buch fragt sich Murray außerdem, was er wohl auf die Frage, was er daran möge, Weiß zu sein, antworten würde – und sagt, dass vieles, was ihm einfiele, sich wahrscheinlich am Rande der “Grenze des Sagbaren” befinde. Seine (hier stark gekürzte) Antwort lautet dann wie folgt:

“Zu den guten Dingen daran, weiß zu sein, gehört, dass man in eine Tradition hineingeboren wurde, die der Welt unverhältnismäßig viele, wenn nicht sogar die meisten Dinge beschert hat, von denen die Welt derzeit profitiert. […] Sie umfassen fast jeden medizinischen Fortschritt, den die Welt heute genießt. Sie umfassen nahezu jeden wissenschaftlichen Fortschritt, von dem die Welt heute profitiert. Seit vielen Jahrhunderten ist in keinem dieser Bereiche ein bedeutender Durchbruch von irgendwo in Afrika oder von irgendeinem Indianerstamm zu verzeichnen. Keine Weisheit der First Nation hat jemals einen Impfstoff oder ein Heilmittel gegen Krebs hervorgebracht.” 

Verharmlosung von Kolonialismus

Und weiter, in einer atemberaubenden Verharmlosung von Kolonialismus

“Unter allen Völkern waren es fast die einzigen Weißen, die sich – im Guten wie im Schlechten – für andere Kulturen als ihre eigenen interessierten und nicht nur von diesen Kulturen lernten, sondern einige von ihnen wiederbelebten … Das ist bei den meisten anderen Völkern nicht der Fall. Kein Aborigine-Stamm hat dazu beigetragen, Fortschritte beim Verständnis der verlorenen Sprachen des indischen Subkontinents, Babylons oder des alten Ägypten zu erzielen.… Weiße westliche Völker haben zufällig auch die erfolgreichsten Handelsmethoden der Welt entwickelt, einschließlich des freien Kapitalflusses.

Dieses System des freien Marktkapitalismus hat allein im 21. Jahrhundert bisher mehr als eine Milliarde Menschen aus der extremen Armut befreit. Es hat seinen Ursprung nicht in Afrika oder China, obwohl die Menschen dort davon profitierten. […] Und das alles, bevor man überhaupt auf die kulturellen Errungenschaften eingeht, die der Westen der Welt geschenkt hat. Die in Jamalpur Tila ausgegrabenen Mathura-Skulpturen sind Werke von außergewöhnlicher Raffinesse, aber kein Bildhauer hat jemals Bernini oder Michelangelo übertroffen. Bagdad brachte im achten Jahrhundert bedeutende Gelehrte hervor, aber niemand brachte jemals einen anderen Leonardo da Vinci hervor.

Überall auf der Welt gab es künstlerische Blüte, aber keine war so intensiv und produktiv wie die, die ab dem 14. Jahrhundert nur wenige Quadratmeilen von Florenz entfernt entstand. Natürlich haben viele Zivilisationen großartige Musik und Kultur hervorgebracht, aber es ist die Musik des Westens sowie seine Philosophie, Kunst, Literatur, Poesie und sein Drama, die solche Höhen erreicht haben, dass die Welt daran teilhaben möchte.” 

Murray: White Supremacy

Diese Weltsicht lässt sich recht einfach zusammen fassen: White Supremacy, die angebliche Überlegenheit Weißer, “Westlicher” Kultur. 

2006 forderte Murray im Niederländischen Parlament das Verbot “aller Einwanderung nach Europa aus muslimischen Ländern” und lobte die Gründung der English Defense League, einer rechtsextremen, anti-muslimische Hate Group, die aus dem Hooligan-Milieu entstand. Den damaligen Chef der EDL, den Antisemiten und Rassisten Tommy Robinson, nannte Murray 2018 verharmlosend einen “citizen Journalist“ und sprach sich für seine Freilassung aus, nachdem Robinson wegen Missachtung des Gerichts verhaftet worden war (nicht zum ersten Mal). Murray verteidigte den Robinson, einen der prominentesten britischen Rechtsextremen, noch 2018: “Ich weigere mich zu sagen, Tommy Robinson ist ein Nazi, Tommy Robinson ist ein Faschist – […] so weit ich weiß, hat er noch nie etwas Rassistisches gesagt.” 

Schon 2013 zeigte Murray, wes Geistes Kind er ist, und behauptete, London sei zu einem “fremden Land” geworden, weil “Weiße Briten” jetzt in einer Mehrheit der Bezirke der Hauptstadt eine Minderheit seien. Kurz: Für Murray sind nur Weiße Briten “echte” Briten – eine Ansicht, die er Ende 2022 noch einmal wiederholte

Murray in reiner AfD-Sprache: nur Weiße Briten seien“ echte” Briten

Jonathan Portes, Professor am King’s College London, ordnete Murrays Äußerungen folgendermaßen ein: “Glasklarer Powellistischer White Nationalism, ohne wenn und aber.” 2017 kritisierte Murray Angela Merkel in einer Rede dafür, dass sie syrische Flüchtlinge nach Deutschland gelassen habe und behauptete, das habe “zu ein bisschen mehr Massenvergewaltigungen und Köpfungen geführt als wir früher hatten.”

Dr. Beorn fasst die Folgen des Narrativs von Murray und seinen Verteidigern zu den Verbrechen der Nazis folgendermaßen zusammen: “Unabhängig davon, ob sie beabsichtigen, den Holocaust zu verzerren und zu verharmlosen (oder ob es ihnen um eine rhetorische Position gegenüber Israel/Palästina geht), ist das Endergebnis, dass es jetzt diese Erzählung von widerwilligen, gequälten Nazis gibt, die tief im Inneren wussten, dass das, was sie taten, falsch war, und sich deswegen schlecht fühlten.“

Auf Twitter fügt er hinzu: “Eine weitere Gefahr besteht darin, dass es nur noch ein kleiner Schritt von der Annahme ist, dass die meisten Mörder sich mit dem Töten unwohl fühlten oder es irgendwie ablehnten, bis hin zu der Annahme, dass sie dazu gezwungen wurden, es zu tun. Das ist eine ganz andere Ebene der Holocaust-Verharmlosung.”

Es zeigt sich, dass im November 2023 eine ganze Reihe von Politikern, Berater*innen der Bundesregierung und Minister*innen aus dem gesamten politischen Spektrum sich von einem geschliffenen Oxbridge-Akzent dazu verleiten lassen, einen rechtsradikalen Akteur nicht nur zu mainstreamen, sondern auch noch zu verteidigen. Warum? Vielleicht, weil man die rassistischen Ressentiments teilt? Weil man endlich Erleichterung von der deutschen Schuld will, egal ob bewusst oder unbewusst? Egal, was der Grund ist: Die Folgen dürften verheerend sein.

Transparenzhinweis: Eine Distanzierung von Jochen Bittner wurde nachgetragen. Artikelbild: Screenshot twitter.com

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