Drücken Sie „Enter“, um den Inhalte zu überspringen

RIAS-Jahresbericht 2023: Antisemitische Vorfälle in Berlin auf Höchststand

Belltower.News

Anstieg um 170 Prozent bei Vorfällen, die sich gegen Jüdinnen*Juden oder Israelis richten.

Von RIAS Berlin|

(Quelle: Unsplash)

Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin (RIAS) dokumentierte 2023 insgesamt 1.270 antisemitische Vorfälle in der Hauptstadt. Das sind knapp 50 Prozent mehr als im Vorjahr. Der sprunghafte Anstieg antisemitischer Vorfälle ist auf die antisemitischen Reaktionen auf den 7. Oktober 2023, den Tag an dem die Hamas und andere Terrororganisationen Massaker an der israelischen Zivilbevölkerung verübten, sowie die darauffolgenden Kriegshandlungen zwischen Israel und der Hamas zurückzuführen. 487 antisemitische Vorfälle ereigneten sich in den etwas mehr als neun Monaten vor dem 7. Oktober, 783, rund 62 Prozent der insgesamt registrierten Vorfälle 2023, nach dem Terrorangriff der Hamas bis zum 31. Dezember 2023.

Noch nie wurden so viele Vorfälle dokumentiert wie im Oktober 2023

Der Oktober ist mit 323 Vorfällen der Monat mit den meisten Vorfällen, die das Projekt seit seinem Bestehen im Jahr 2015 bisher dokumentiert hat. Im November wurden 279 Vorfälle registriert, im Dezember waren es 188. In den neun Monaten vor dem 7. Oktober kam es durchschnittlich zu 53 Vorfällen pro Monat.

Für das Jahr 2023 insgesamt wurden zwei Vorfälle extremer Gewalt sowie 34 Angriffe dokumentiert. 2022 waren es ein Vorfall extremer Gewalt und 21 Angriffe gewesen. Gezielte Sachbeschädigungen sind von 31 Vorfällen in 2022 auf 52 Vorfälle in 2023 gestiegen. Es wurden 49 Bedrohungen verzeichnet, mehr als doppelt so viele wie im Vorjahr (24).

Nach dem 7. Oktober haben sich durchschnittlich etwa 14 Vorfälle pro Woche ereignet, die sich gegen Jüdinnen*Juden und Israelis richteten. 2023 waren in 262 Vorfällen 365 jüdische oder israelische Einzelpersonen betroffen. 2022 waren es 98 Vorfälle gewesen, in denen 134 jüdische oder israelische Einzelpersonen als Betroffene gezählt wurden. Es handelt sich um einen Anstieg von 170 Prozent.

Jüdisches Leben findet nach dem 7. Oktober weniger sichtbar und offen in Berlin statt

Neben dem Anstieg antisemitischer Vorfälle zeigt sich eine qualitative Veränderung in der Wirkungsweise der Vorfälle seit dem 7. Oktober auf Jüdinnen*Juden, Israelis und sichtbares jüdisches Leben in Berlin. Das Leben von Jüdinnen*Juden, jüdischen Gemeinden und Organisationen in Berlin fand wegen der Zunahme antisemitischer Vorfälle und einer erhöhten Gefährdung seit dem 7. Oktober im öffentlichen Raum nur noch stark eingeschränkt statt.

Viele Jüdinnen*Juden ergriffen unmittelbar nach dem 7. Oktober Schutzmaßnahmen, um nicht als jüdisch erkennbar zu sein, oder sie mieden Räume, die ihnen nicht sicher erschienen. Diese umfassenden Auswirkungen sind eine Zäsur für jüdische und israelische Communitys in Berlin und müssen neben konkreten antisemitischen Vorfällen berücksichtigt werden.

Antisemitische Vorfälle nehmen in Räumen des Alltags zu

Antisemitische Vorfälle prägten auch vor dem 7. Oktober den Alltag von Berliner Jüdinnen*Juden. Nach dem 7. Oktober ist der Antisemitismus noch raumgreifender geworden. So berichten jüdische Betroffene von Situationen, in denen sie in Bus oder U- und S-Bahnen beschimpft oder angerempelt wurden. Wohnhäuser wurden mit Davidsternen markiert, in anderen Fällen kam es zu antisemitischen Anfeindungen durch Nachbar*innen.

Nach dem 7. Oktober dokumentierte das Projekt 22 antisemitische Vorfälle an Berliner Schulen. 18 dieser Vorfälle ereigneten sich von Angesicht zu Angesicht, z. B. wurden Kinder von Mitschüler*innen antisemitisch beschimpft, bedroht oder auch angegriffen. Auch die Hochschule sticht 2023 als Tatort heraus. Während in den Jahren 2019 – 2022 durchschnittlich etwa zwei Vorfälle pro Jahr an Hochschulen dokumentiert wurden, waren es 2023 29 Vorfälle, 25 davon nach dem 7. Oktober.

Israelbezogener Antisemitismus dominiert das Vorfallgeschehen

Rund 62 Prozent der Vorfälle enthielten im Jahr 2023 Elemente des israelbezogenen Antisemitismus. Dieser trat jedoch mehrheitlich in Kombination mit anderen Erscheinungsformen auf. Werden z. B. Jüdinnen*Juden kollektiv beschimpft und im gleichen Zuge Israel dämonisiert, so handelt es sich auch um antisemitisches Othering; wird die Politik Israels mit der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik gleichgesetzt, handelt es sich auch um eine antisemitische Täter-Opfer-Umkehr und eine Bagatellisierung der Schoa.

Zum ersten Mal seit Beginn der Dokumentation ist der antiisraelische Aktivismus dasjenige politisch-weltanschauliche Spektrum, dem die meisten zuordenbaren Vorfälle (15,5 Prozent) zugewiesen werden konnten. Dem rechtsextremen/rechtspopulistischen Spektrum, dem seit 2015 immer die meisten Vorfälle zuordenbar waren, wurden 2023 6,3 Prozent zugewiesen.

Gezielte Mobilisierung auf den Straßen mit Bezug zum 7. Oktober

2023 dokumentierte RIAS Berlin 83 Versammlungen, in deren Kontext sich antisemitische Vorfälle ereigneten, 56 davon wurden nach dem 7. Oktober abgehalten (2022: 36). Der 7. Oktober und der Krieg Israels gegen die Hamas diente als Anlass für eine breite Mobilisierung zu Versammlungen, bei denen antisemitische Inhalte festgestellt wurden.

Dort traten teilweise Akteur*innen aus dem linken/antiimperialistischen, dem islamisch/islamistischen Spektrum sowie dem Spektrum des antiisraelischen Aktivismus gemeinsam auf. Dies zeigt, dass die Israelfeindschaft als verbindendes Element zwischen politischen Milieus fungieren kann, die sich sonst nicht nahestehen.

Online-Vorfälle vervierfachen sich nach dem 7. Oktober

Auch die antisemitischen Vorfälle, die sich im Internet ereigneten, sind nach dem 7. Oktober stark angestiegen. Während vor dem 7. Oktober wöchentlich im Durchschnitt sechs Vorfälle online verzeichnet wurden, waren es danach mehr als 24 Vorfälle pro Woche. Es ist allerdings für die Zeit nach dem 7. Oktober gerade im Online-Bereich von einem großen Dunkelfeld antisemitischer Vorfälle auszugehen.

Views: 0
Star economist isabella weber : “companies use inflation as excuse to raise prices”.