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Threads, Bluesky und Mastodon: Die Chance ist jetzt

Dieser Artikel stammt von Netzpolitik.org.

Das Fediverse ist sich oft selbst genug, viele wehren sich reflexhaft gegen alles Neue. Damit verspielt das dezentrale Netzwerk die einzigartige Chance, Motor für eine neue globale Öffentlichkeit zu sein. Doch genau an dieser sollten wir jetzt gemeinsam bauen. Ein Plädoyer.

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Die Zukunft der sozialen Netzwerke kann dezentral sein. – Public Domain Generiert mit Midjourney

Kaum eine Debatte wird im Fediverse derzeit so hart geführt wie die, ob sich Mastodon gegenüber anderen Netzwerken öffnen sollte. In dieser Debatte crashen immer wieder zwei Positionen aufeinander: Auf der einen Seite sind die, die auf Mastodon ihr gemütliches, sicheres Wohnzimmer haben wollen, in dem sie sich mit vertrauten Menschen austauschen können. Diese Fraktion will das unkommerzielle, freie Mastodon schützen vor den Einflüssen kommerzieller Anbieter mit ihren toxischen Inhalten und Eingriffen in die Privatsphäre.

Und dann gibt es diejenigen, die das alles viel viel größer sehen, und die sich nach der Kernschmelze bei Twitter einen neuen Ort für eine globale Öffentlichkeit wünschen. Einen Ort, an dem wie früher bei Twitter Informationen aus der ganzen Welt zusammenlaufen, dieses Mal aber besser, dezentral und frei. Mit revolutionärer Ungeduld blicken sie auf das Fediverse und vor allem auf Mastodon. Um diesem Ziel näher zu kommen, wollen sie das Risiko eingehen, die Dienste jetzt lieber schnell zu öffnen, zu förderieren, zu wachsen und einfach auszuprobieren, was möglich ist.

Ich gehöre zu dieser Fraktion. Denn Wohnzimmer gibt es schon genug, etwa in den zahlreichen abgeschlossenen Messenger-Gruppen, in die schon heute ein guter Teil unserer täglichen Kommunikation fließt. Von einem sozialen Netzwerk will ich dagegen viel mehr, als ein Wohnzimmer bieten kann.

Seismograph für Debatten und Bewegungen

Von sozialen Netzwerken und einer digitalen Öffentlichkeit erhoffe ich mir aktuelle Informationen aller Art, nicht nur als Journalist. Ich möchte wissen, was Politiker:innen schreiben, was Regierungen verlautbaren, was NGOs veröffentlichen und was spannende Menschen zu sagen haben. Ich möchte mir selbst ein weitverteiltes Informationsnetzwerk zusammenstellen, das mich jederzeit wissen lässt, wenn etwa die Rechte von Migrant:innen in Italien unter die Räder geraten oder wenn in Indonesien Leute gegen Menschenrechtsverletzungen auf die Straße gehen.

Ich möchte die großen Debatten aus meinen Interessengebieten und aus der breiten Öffentlichkeit mitbekommen. Ich möchte sehen können, was die Welt bewegt. Ich möchte mir in Breaking-News-Situationen direkt Quellen zusammenstellen können, von denen ich glaubwürdige Informationen bekomme – sowohl direkt vor Ort als auch von Expert:innen kuratiert.

Ein solches Netzwerk soll ein Seismograph sein für politische und soziale Bewegungen, für Umwälzungen und Debatten. Diesen Seismographen möchte ich persönlich steuern. Ich will selbst bestimmen und filtern können, wie welche Information zu mir gelangt – ohne dass mir eine Plattform etwas vorsetzt, sortiert von Algorithmen, die ich nicht durchschauen oder kontrollieren kann.

Darüber hinaus möchte ich in diesem sozialen Netzwerk Kontakte knüpfen und halten, ich will spontan mit tollen Menschen zusammenarbeiten und ihnen Fragen stellen können. Verbunden sein mit guten Leuten, mit spannenden Organisationen oder einfach Menschen, die verdammt lustig sind und mich jeden Tag erneut zum Lachen bringen.

Twitter konnte all dies ziemlich gut, bevor es zu dieser giftigen Jauchegrube wurde, in der eine einzige, megareiche Person an den Reglern dreht. Dennoch hatte Twitter schon vor der Übernahme durch Elon Musk Probleme mit toxischer Kommunikation. Für die Zukunft der Plattform gibt es keine Hoffnung mehr. Wir brauchen etwas Neues.

 

Auf dem Boden aufgemaltes Netzwerk, auf dem Menschen stehen

Die Chance ist jetzt

Wenn ich diesen Wunsch nach einem globalen Netzwerk im Mastodon-Umfeld äußere, sind die Reaktionen oft ablehnend bis aggressiv. Ich bekomme Dinge wie „Geh doch zu Twitter“ an den Kopf geworfen. Oder: „Ihr mit euren kurzfristigen, journalistischen Bedürfnissen!“, „Ihr wollt doch nur Aufmerksamkeit“, „Ihr mit Eurer Twitter-Kultur“, „Wir machen das hier aber anders und ihr müsst euch anpassen“.

Das macht mich wütend. Erstens sehnen sich nicht nur Journalist:innen nach solchen Informationsnetzwerken, sondern Menschen aus sehr vielen Bereichen, etwa aus Forschung und Bildung, Politik, Verwaltung oder Zivilgesellschaft. Zweitens sind solche Netzwerke eine Chance für soziale und politische Bewegungen: Sie können Motor sein, um die Welt zu verbessern. Und drittens will ich wirklich nicht mehr zu Elon Musks ekelhaftem Twitter zurück. Ich möchte, dass wir zusammen ein dezentrales, globales Netzwerk bauen, das eben nicht in der Hand eines Milliardärs liegt, der alles kontrollieren kann. Wir haben jetzt die Chance dazu!

Wer ein Mastodon in den Grenzen von 2021 will, verkennt die große Chance und die einmalige Situation, in der wir gerade sind. Wir befinden uns am Beginn einer neuen und aufregenden Entwicklung. Um die Lücke zu füllen, die Twitter lässt, stehen gleich mehrere soziale Netzwerke bereit. Drei davon sind besonders prominent. Sie wollen es anders machen, und sie haben zumindest die Voraussetzungen, Teil eines dezentralen, föderierten Netzwerkes zu sein.

Der Dienst Threads von Facebooks Mutterkonzern Meta ist über das Activity-Pub-Protokoll an das Fediverse anschließbar. Beim Dienst Bluesky, der Twitter optisch am meisten ähnelt, können Nutzer:innen selbst wählen, wie ihre Inhalte sortiert werden sollen. Bluesky verwendet außerdem ein eigenes Protokoll namens AT, und ist dezentral erweiterbar. Und Mastodon ist als Vorreiter dieser Entwicklung längst Teil des dezentralen Fediverse – und damit Vorbild für die anderen.

Mitmachen statt Abwehrkämpfe führen

Threads hat mit mehr als 130 Millionen Nutzer:innen gerade zahlenmäßig die Nase vorne – die Zahl dürfte aber auch deshalb so hoch sein, da Nutzer:innen ihre bereits aufgebaute Instagram-Gefolgschaft direkt zu Threads mitnehmen durften. Bluesky hat derzeit knapp fünf Millionen Nutzer:innen. Das freie, offene und wirklich dezentrale Mastodon ist im Vergleich am kleinsten mit rund 1,2 Million aktiven Nutzer:innen.

Wir haben es also mit ungleichen Akteuren zu tun, nicht nur was die Zahl der Nutzer:innen angeht. Hinter Threads steht der überwachungskapitalistische Meta-Konzern; bei BlueSky hat Twitter-Mitgründer Jack Dorsey die Finger im Spiel, und Mastodon wird vor allem getragen von einer Unzahl kleiner Hobby-Instanzen und ganz viel Idealismus. Mastodon dürfte außerdem der einzige Akteur sein, bei dem finanzielle Interessen kaum eine Rolle spielen und der nicht einer sogenannten Enshittification unterzogen werden kann. So nennt man es, wenn sich Plattformen aus kommerziellen Interesse nach einiger Zeit zum Schlechten wandeln, etwa indem Business-Inhalte und Werbung Überhand nehmen, während die aufgebaute Netzkultur zurückgedrängt wird oder stirbt.

Wir haben also hier und jetzt die historische Chance, eine Infrastruktur für ein gemeinwohlorientiertes, dezentrales und globales Netzwerk der Informationen zu schaffen. Über selbstbestimmte Filter können wir uns dieses Netzwerk formen – egal ob wir das kleine gemütliche Wohnzimmer haben wollen oder eben den globalen Seismographen. Wer das Fediverse oder Mastodon bereits mag und sich für diese Idee begeistern kann, sollte keinen Abwehrkampf dagegen führen, sondern mitmachen und diese riesige Chance nutzen.

 

Buntes Netzwerk

Es wird nicht im Wohnzimmer alleine klappen

1,2 Millionen Menschen im Mastodon-Wohnzimmer reichen nicht, um eine globale Öffentlichkeit auf dezentraler Infrastruktur zu bauen. So ein Netzwerk wird auch nicht entstehen, wenn wir den Kern vehement gegen äußere Einflüsse verteidigen, seien es Ambitionen einer Fediverse-Anbindung von Threads oder eine Brücke zu Bluesky. Aus der Vision wird nichts, wenn wir lieber die Fenster und Türen verrammeln anstatt auszuloten, wie Netzwerke wachsen können – ohne, dass die Grundideen verloren gehen. Die Welt ist ein aufregender Ort voller Krisen und Probleme, aber auch voller Schönheit und Hoffnung. Dem sollten wir uns stellen.

Es gibt natürlich Argumente gegen Bluesky und noch viel bessere Argumente, Meta nicht zu vertrauen – und die mögliche Threads-Anbindung ans Fediverse als Übernahmeversuch zu deuten. Es gibt aber auch gute Argumente, dass wir eine historische Chance verpassen, wenn wir jetzt nicht wachsen und uns auf Mastodon zur Vermeidung von Risiken in der Nische zurückziehen.

Leider triefen viele Debatten-Beiträge auf Mastodon gegen eine Öffnung zur Außenwelt nicht nur vor Angst, sondern auch vor einer kaum auszuhaltenden Selbstgewissheit, mit der eigenen Abschottungs-Mentalität auf der richtigen Seite zu stehen, ja, die Weisheit mit übergroßen Löffeln gefressen zu haben.

Mut statt Mauern

Es trifft ja zu: Mastodon steht mit seinem dezentralen, offenen und nicht-kommerziellen Ansatz tatsächlich auf der richtigen Seite, und ist zurecht Vorbild. Aber genau daraus sollten wir auf Mastodon die Aufgabe ableiten, uns aktiv an der Entwicklung großer, dezentraler, sozialer Netzwerke zu beteiligen, moralischer Kompass zu sein – und uns eben nicht abzuschotten. Es braucht endlich Mut statt Mauern!

Gerade die Menschen, die das Fediverse und Mastodon zu dem gemacht haben, was es heute ist, können einen wertvollen Beitrag leisten, um im viel größeren Maßstab das Internet zu einem besseren Ort zu machen. Es gibt so viele ungelöste und spannende Fragen, die wir jetzt angehen sollten: Wie finanzieren wir neue, digitale, nicht-kommerzielle Öffentlichkeiten? Wie können die Nutzer:innen wirklich mitentscheiden? Wie machen wir die vielen, dezentralen Fürstentümer demokratischer? Wie moderieren wir Inhalte? Wie gehen wir mit denen um, die alles wieder zerstören wollen?

Die wichtigste Frage auf dem Weg vom kleinen Fediverse zur globalen Öffentlichkeit lautet aber: Wie verbinden wir uns mit anderen, potentiell gefährlichen Akteuren, ohne von ihnen gefressen zu werden? Wie geben wir den Nutzer:innen und Betreibern von Instanzen die Werkzeuge in die Hand, selbst zu entscheiden wie weit sie sich verbinden und was sie sehen? Wie können wir eine gemeinwohlorientierte Infrastruktur schaffen, die auch gegen Angriffe standhält? Und all das, ohne dass sich in den Debatten die Toxizität breit macht, die schon im letzten Jahrzehnt die Kultur auf den großen Plattformen geprägt hat. Das wird alles schwer und unglaublich spannend und lehrreich werden – aber den Versuch ist es wert.


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Author: Markus Reuter