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Wieso alle Parteien gleichzeitig die Berlin-Wahl als Erfolg feiern

In Berlin wurde am Sonntag ein Teil der Bundestagswahl wiederholt. Bei einer Wahl, in der nur gut ein Fünftel der Bezirke neu wählt, die auch noch enorm ungleichmäßig über das Stadtgebiet verteilt sind, ist die Aussagekraft über das eigentliche Ergebnis hinaus beschränkt. Noch dazu kommt, dass die ursprüngliche Wahl ja fast 2,5 Jahre her war. Dennoch versuchen die meisten Parteien, sich aus dieser Wahl ein günstiges Narrativ zu basteln. Wir schauen kritisch auf die Berlin-Wahl – und zeigen, wie leicht man sich das Wahlergebnis schönrechnen kann, ohne dabei explizit zu lügen!

Berlin-Wahl: Hier wurde wiederholt

In Berlin wurde am Sonntag mal wieder gewählt. Die letzte Bundestagswahl von 2021 war in einigen Berliner Wahlbezirken für ungültig erklärt worden, in diesen wurde nun die Wahl wiederholt. Und das ist auch schon der erste Punkt, warum die ad-hoc-Analysen auf Social Media so problematisch sind: Es haben „nur“ 455 der über 2.000 Berliner Wahlbezirke neu gewählt. RBB hat eine Grafik erstellt, in der man schön sieht, wie zersplittert die „Berlin-Wahl“ eigentlich ist: Nur in den bunt eingefärbten Bezirken gab es überhaupt Neuwahlen.

Screenshot rbb24.de

Wie man sieht ist auch enorm ungleich verteilt, wo überall neu gewählt wird. In Pankow mussten 85% der Bezirke neu gewählt werden, in Treptow-Köpenick 3,4% und in Lichtenberg nur 2,9%. Zu den Gründen für die Wahlwiederholung gehörten lange Wartezeiten vor den Wahllokalen, Unterbrechung der Wahlen an einigen Wahllokalen, verlängerte Öffnungszeiten der Wahllokale, teilweise zu spät zugestellte Briefwahlunterlagen und falsche Stimmzettel.

Was wir an Fakten über die Neuwahlen wissen ist relativ schnell und unspektakulär zusammengefasst. Die Wahlbeteiligung in den nachgewählten Bezirken war offenbar sehr niedrig bei nur knapp über 50%, rechnet man die Wahlbeteiligung mit der der anderen Bezirke von 2021 zusammen liegt Berlin in Summe nur noch bei 69,5% und verliert daher vier Mandate. An den Sitzverhältnissen im Bundestag ändert sich nur, dass die FDP jetzt insgesamt einen Sitz weniger hat. Die anderen drei verlorenen Mandate in Berlin wurden durch Kandidaten von anderen Landeslisten ihrer Partei aufgefüllt.

Darum sind Schlussfolgerungen aus der Berlin-Wahl so schwierig

Aufgrund des großen Abstands zur eigentlichen Bundestagswahl, der niedrigen Wahlbeteiligung und der Tatsache, dass die Neuwahlen nur in einigen Bezirken stattfanden, ist es enorm schwer, aus dieser Berlin-Wahl Schlussfolgerungen zu ziehen. Dennoch tun das etliche Politiker:innen und User auf Social Media – die Ergebnisse sind überraschend. Denn irgendwie scheinen – alle gewonnen zu haben?

Also zumindest sieht Jürgen Trittin (Grünen) das Ergebnis als Bestätigung für seine Partei:

Der Berliner Bürgermeister Kai Wegner (CDU) sieht das Ergebnis dagegen als Stoppsignal für die Ampelkoalition:

Die Linke Berlin ist sich auch sicher, dass „die Richtung stimmt“ und sieht die Wahl als Erfolg:

Franziska Giffey (SPD) feierte die verteidigten Direktmandate als Erfolg, schlug aber immerhin auch selbstkritische Töne an.

Und natürlich sieht sich auch die rechtsextreme AfD weiterhin im Aufwärtstrend, beispielsweise in Person von Beatrix von Storch:

Doch wie kann das sein, dass fast alle Parteien diese Wahl als Erfolg interpretieren? Natürlich ist da ein gewisser Zweckoptimismus dabei – doch aufgrund der komplizierten Situation bei der Berlin-Wahl kann sich quasi auch jede Partei herauspicken, was sie möchte und Wahlergebnisse wild untereinander vergleichen, so dass alles wie ein Erfolg aussieht. Wir zeigen euch, warum es so kompliziert ist.

Berlin-Wahl: Gleich vier Wahlergebnisse?!

Gerade in den sozialen Medien werden aktuell bis zu vier verschiedene Wahlergebnisse miteinander verglichen und durcheinander gewürfelt. So ist für jede:n eine Zahl dabei, die schon irgendwo ins eigene Narrativ passt. Dabei gehen folgende Ergebnisse um:

  • Bundestagswahlergebnis Berlin 2017 (also die vorletzte Bundestagswahl als Ausgangslage)
  • Bundestagswahlergebnis Berlin 2021 (die Wahl, die in Teilen wiederholt werden musste)
  • Bundestagswahlergebnis Berlin Nachwahl 2024 (die isolierten Ergebnisse der nachgewählten Bezirke von Sonntag)
  • Gesamtergebnis Berlin 2021 + 2024 (also die Ergebnisse aus den Bezirken von 2021, die nicht wiederholt wurden + die Ergebnisse der Berlin-Wahl vom Sonntag in den wiederholten Bezirken)

Und jetzt beginnt die Magie, mit der man so ziemlich jede Aussage behaupten kann.

Vergleichen wir erstmal ganz klassisch das Ergebnis der Bundestagswahl 2021 (korrigiert um die Bezirke, die 2024 nachgewählt wurden) mit dem Ergebnis von 2017:

Diese Grafik scheint eine eindeutige Sprache zu sprechen: Krachende Niederlage für die CDU und die Linken, deutliche Verluste für die AfD, dagegen SPD und Grüne mit großen Gewinnen. Nun werden aber wache Leser:innen sagen, dass das ja absolut kein sinnvoller Vergleich ist, um die aktuelle politische Stimmung zu beurteilen. Immerhin stammen vier Fünftel dieses Ergebnisses von vor 2,5 Jahren. Und das stimmt auch – diese Zahlen sagen mehr darüber aus, wie sich zwischen 2017 und 2021 die Meinung der Wähler:innen verändert hat, nicht, wie es aktuell aussieht. Aber vielleicht kann man ja dann das Ergebnis nach den Neuwahlen mit den Ergebnissen der Berlin-Wahl von 2021 vergleichen?

Anderer Vergleich – andere Tendenz!

Das sähe dann so aus:

Obwohl wir immer noch dasselbe Wahlergebnis betrachten, können daraus jetzt komplett andere Interpretationen abgeleitet werden. Plötzlich sehe CDU und AfD wie die Gewinnerparteien aus, während Grüne, SPD und FDP Verluste hinnehmen mussten. Aber nun könnten Leser:innen wieder berechtigterweise fragen: Warum sollten wir das Ergebnis von Sonntag mit dem der Berlin-Wahl von 2021 vergleichen? Diese Wahl war ja aus guten Gründen teilweise ungültig. Denn eben weil damals Wähler:innen behindert oder sogar am Wählen gehindert wurden, musste die Wahl wiederholt werden. Warum sollte man diese ungültige Wahl jetzt plötzlich als Maßstab nutzen?

Es ist ja beispielsweise gut möglich, dass 2021 potentielle AfD-Wähler:innen effektiv an der Stimmabgabe gehindert wurden. Immerhin ist schon länger bekannt, dass die rechtsextreme Partei gegenüber ihren Wähler:innen mittels Lügen und Verschwörungsmythen die Briefwahl diskreditiert. Daher hat die AfD auch immer deutlich schlechtere Ergebnisse als alle anderen Parteien bei der Briefwahl, wie man auch bei der aktuellen Berlin-Wahl wieder sah.

Screenshot wahlen-berlin.de

Wenn nun aber eine Partei bei der Urnenwahl fast doppelt so gut abschneidet wie bei der Briefwahl, dann ist es nur logisch, dass im Umkehrschluss diese Partei besonders große Nachteile hat, wenn die Urnenwahl chaotisch abläuft – wie es in Berlin geschehen ist. Man könnte also argumentieren, dass die AfD durch das Wahlchaos 2021 überdurchschnittlich benachteiligt wurde und jetzt bei den ordnungsgemäß ablaufenden Wahlen darum logischerweise dieser Nachteil aufgeholt wurde.

Ungültige Wahl vs. gültige Wahl?!

Aber war das tatsächlich der Grund für den Anstieg? Wie groß war der Einfluss dieses Effekts wirklich, wenn man bedenkt, dass ja auch einige Briefwahlbezirke neu wählen mussten? Das sind keine suggestiven, sondern ehrlich gemeinte Fragen. Wir können es nicht wissen, da das wissenschaftlich nicht komplett sicher nachzuweisen ist.

Noch deutlicher wird das, wenn man einen Vergleich macht, der das Ganze noch etwas mehr überspitzt, den wir aber öfter sehen: Viele vergleichen nur die Ergebnisse der neu gewählten Bezirke mit den Ergebnissen genau dieser Bezirke von vorher. Es wird also eine vollständig gültige mit einer vollständig ungültigen Wahl abgeglichen. Die Aussagekraft dessen ist aus den oben genannten Gründen maximal fragwürdig. Schließlich sind, wie gesagt, die Ergebnisse ja nicht ohne Grund als ungültig erklärt worden. Allerdings bringt diese schwierige Betrachtungsweise ein paar spektakuläre Ergebnisse und wird deswegen besonders gern geteilt, sogar von seriösen Accounts:

Und schon sieht es auf einmal nach Erdrutschsieg der CDU und der rechtsextremen AfD (ein externer Beobachter sprach sogar von „fast verdoppelt„) aus, während SPD und FDP katastrophale Verluste hinnehmen müssen und Linke sowie Grüne stagnieren. Was das nun bedeutet, steht in diesen Zahlen allerdings nicht – und kann damit frei interpretiert werden. Man könnte jetzt vermuten, dass wir bei der AfD vor allem den oben beschriebenen Effekt sehen, dass ihre verhinderten Urnen-Wähler:innen jetzt „nachgeholt“ werden konnten. Die Parteien selbst bauen sich währenddessen natürlich ihre eigenen Narrative. Von der rechtsextremen AfD wird diese selektive Wahrnehmung der Wahlergebnisse als grandioser Erfolg gefeiert, von der CDU vor allem als Klatsche für die Ampel.

Fazit: Kontext entscheidet

Keine dieser Interpretationen ist die absolute Wahrheit. Wie ihr gesehen habt, kann man aus eindeutigen Wahlergebnissen sehr unterschiedliche Narrative spinnen, je nachdem wie es der jeweiligen Partei gerade passt. Und wir können euch auch nicht sagen, was davon nun eigentlich „wirklich“ die Wahrheit ist. Und das wollen wir auch gar nicht. Wir wollen stattdessen anhand dieses Beispiels zeigen, dass man auch bei so scheinbar eindeutigen Fakten wie einem Wahlergebnis immer den Kontext beachten muss. Allein dadurch, in welches Verhältnis man das Wahlergebnis stellt, erzeugt man bereits ein Framing. Die rechtsextreme AfD macht das natürlich am regelmäßigsten und am aggressivsten – wir sollten aber auch bei den demokratischen Parteien kritisch bleiben.

Wie die rechtsextreme AfD die Briefwahl diskreditiert, konnten wir letztes Jahr an einem schönen Beispiel live mitverfolgen. Damals hatte der Kandidat der Partei die Bürgermeisterwahl im thüringischen Nordhausen knapp verloren – und natürlich sah die AfD die Niederlage nicht ein. Aber schaut selbst:

Artikelbild: Diego Grandi

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