Robert Ogman stellte RIAS Baden-Württemberg im Jüdischen Gemeindezentrum Mannheim vor.
(Quelle: Dominique Brewing)
„Ich tue das besonders, um den Ermordeten eine Stimme zu geben“, erklärt Ruth Michel. Seit Jahren geht die 96-jährige Frau an Schulen, um jungen Menschen das Leid nahezubringen, das ihrer Familie im Nationalsozialismus angetan wurde.
Ruth Michel, geb. Rosenstock, hatte einen jüdischen Vater und eine evangelische Mutter. Als die Nazis an die Macht kamen, verließ die Familie ihre Heimat in Ostpreußen und ging in das polnische Dorf Mykulytschyn. Nach dem Nazi-Überfall auf Polen und die Sowjetunion wurde der Vater abgeholt. Er wurde erschossen und in einem Massengrab verscharrt.

2010 kehrte Michel in das Dorf zurück, um das Massengrab zu suchen und ließ dort im Winter 2011 eine Tafel anbringen, die erinnert „an meinen Vater Aaron Rosenstock und alle Juden von Mykulytschyn, die hier am 12. Dezember 1941 von Deutschen bestialisch ermordet wurden“. Bis heute schickt Michel, um die Pflege des Grabes zu gewährleisten, Geld nach Mykulytschyn.
Antisemitismus-Fachtagung im Südwesten
Seit langem ist Michel in Leinfelden-Echterdingen, einer Stadt mit 40.000 Einwohner*innen im Südwesten Deutschlands, zu Hause. Am Nachmittag des 6. November 2025 hat sie ein Heimspiel: In der Filderhalle, einem Kongresszentrum der Stadt, erzählt Michel ihre Familiengeschichte. Den Ermordeten eine Stimme geben – das treibt die 96-Jährige an.
Als Michael Blume, der Beauftragte der Landesregierung gegen Antisemitismus und für jüdisches Leben, nach der Lesung einen Blumenstrauß überreichen will, ringt er um Worte. Blume verspricht, es werde eine Delegationsreise der Stadt nach Polen geben und eine Lösung für die Grabpflege gesucht. Michel ist dankbar und gerührt. Damit beginnt die erste Fachtagung des Antisemitismus-Beauftragten im Südwesten.

Die Tagung hat das Motto „Gemeinsam gegen Antisemitismus: Verantwortung, Vernetzung, Zukunft“. Die Nachfrage ist enorm. „Wir haben mit 50 oder 100 Teilnehmenden gerechnet“, erklärt Blume im Gespräch mit Belltower.News, „am Ende kamen fast 200 Menschen“. Das freue ihn und sein Team. Mit der Veranstaltung sei gelungen, Interessierte aus Bildung und Forschung, Polizei und Justiz, Kunst und Kultur, Politik und Zivilgesellschaft zu vernetzen. „Die Vernetzung der Engagierten ist uns ein Kernanliegen“, betont er.
Im Aufbau: RIAS Baden-Württemberg
Das Programm deckt eine Vielzahl relevanter Themen ab. Beispielsweise spricht Luis Engelhardt (Makkabi Deutschland) über Antisemitismus im Fußball oder Dorothea Kleintges (OFEK Baden-Württemberg) über Antisemitismus an Gedenkstätten und Hochschulen. Mit Prof. Oliver Decker referiert ein Herausgeber der „Leipziger Autoritarismusstudie“ über die aktuelle Lage in Baden-Württemberg.
Ein Vertreter des Landesamtes für Verfassungsschutz Baden-Württemberg beleuchtet antisemitische Entwicklungen im Islamismus seit dem 7. Oktober 2023. Zuletzt seien etwa 70 Minderjährige mit islamistischen Tendenzen aufgefallen, schildert er. Viele sind 15, 16 Jahre alt. Der Vertreter betont, das sei lediglich die Spitze des Eisbergs. In der Diskussionsrunde kommen Lehrkräfte zu Wort. Sie reden über ihre Erfahrungen im Schulalltag. Es gelte, wachsam zu sein, um erste Schritte einer Radikalisierung zu erkennen.
Robert Ogman stellt die Recherche- und Informationsstelle (RIAS) Baden-Württemberg vor. Er ist in den USA aufgewachsen, hat in New York und Potsdam studiert, in Leicester promoviert. Zahlreiche Projekte gegen Antisemitismus hat Ogman geleitet. Nun baut er die neue Meldestelle im Südwesten auf. Gegenüber Belltower.News sagt er: „Wir sind froh, Räume wie diese Fachtagung zu haben, um die Meldestelle einer breiten Öffentlichkeit vorstellen zu können.“ Schließlich ist RIAS Baden-Württemberg erst Anfang 2025 geschaffen worden. Unentwegt ist Ogman auf den Beinen, um die Meldestelle im Ländle bekannt zu machen.
„Wir haben lange auf diesen Tag gewartet“
So auch fünf Tage später, am 11. November 2025, in Mannheim. Am Abend stellt der Bundesverband RIAS seinen Jahresbericht 2024 im Jüdischen Gemeindezentrum vor. Rund 50 Interessierte sind gekommen. Bianca Loy, wissenschaftliche Referentin bei RIAS, wirft im Vortrag einen Blick in den Südwesten. 226 antisemitische Vorfälle hat der Bundesverband im Jahr 2024 registriert. Aus den Regierungsbezirken Freiburg (78) und Karlsruhe (63) sind die meisten Vorfälle eingegangen. Loy warnt, die Dunkelziffer dürfte hoch sein.
Das soll die neue Meldestelle ändern. Ogman präsentiert RIAS Baden-Württemberg im Rahmen der Veranstaltung und erfährt viel Zuspruch. „Wir haben lange auf diesen Tag gewartet“, sagt Alon Bindes in einem Grußwort. Bindes studiert an der Universität Hohenheim in Stuttgart und ist Präsident der Jüdischen Studierendenunion Württemberg. Im Grußwort macht er deutlich, was Jüdinnen*Juden seit dem 7. Oktober 2023 an Hochschulen erleben. „Seit zwei Jahren haben wir keine Ruhe“, klagt er. „Wir wollen Seminare belegen, Prüfungen bestehen, Unipartys besuchen. Aber wir müssen unsere jüdische Identität verstecken.“ Die Meldestelle stärke das jüdische Leben.
Das sieht Michael Blume, der Beauftragte der Landesregierung gegen Antisemitismus und für jüdisches Leben, ähnlich. Auch er ist nach Mannheim gekommen und begrüßt die Meldestelle. Optimistisch stellt Blume fest, Menschen begännen zunehmend, „sich gegen Antisemitismus zu wehren“ und antisemitische Vorfälle zu melden. Das große Dunkelfeld werde aufgehellt, nun werde der Antisemitismus sichtbar. Das schaffe ein Problembewusstsein, auch und gerade im Südwesten Deutschlands. Gegenüber Belltower.News bekräftigt er: „Ich bin trotz allem überzeugt, dass wir uns gemeinsam dem Hass gegen Jüdinnen und Juden entgegenstellen können. Das braucht Ausdauer und Entschlossenheit.“
