
510
Der geheime rechte Masterplan hinter dem Brosius-Gersdorf-Canceling
von Thomas Laschyk, Frederik Mallon | Aug. 8, 2025 | Aktuelles
Über das „Autoritäre Playbook” wurde in der Vergangenheit öfter gesprochen. Jetzt sehen wir es in Deutschland erstmals in Aktion. Denn das, was offiziell wie ein Rückzug der Verfassungsrechtlerin Frauke Brosius-Gersdorf aussieht, ist buchstäblich die Umsetzung von Schritt 1 und 2 der Anleitung autoritärer Rechter zur Machtergreifung. Wir schauen genauer hin, warum dieser Fall so entscheidend für die Entwicklung der liberalen Demokratie ist.
Jetzt zog Brosius-Gersdorf ihre Kandidatur zurück
Die Verfassungsrechtlerin Frauke Brosius-Gersdorf hat sich nach einer radikal rechten Kampagne geopfert, um Schaden von der Verfassungsrichterwahl und der Regierung abzuwenden. Sie hat ihren Rückzug angekündigt, nachdem eine unglaubliche, rechte Schmutzkampagne gegen sie inszeniert wurde. Die von der SPD nominierte Kandidatin mit harmlosen Positionen aus der breiten Mitte, die auch in Fachkreisen hoch angesehen ist, sollte auch nach Zustimmung der Union vor der Sommerpause mit zwei weiteren Kandidierenden gewählt werden.
Jetzt zog sich Brosius-Gersdorf dennoch zurück. Sie begründete ihren Rückzug: „Mir wurde aus der CDU/CSU‑Fraktion – öffentlich und nicht‑öffentlich – in den letzten Wochen und Tagen sehr deutlich signalisiert, dass meine Wahl ausgeschlossen ist. Teile der CDU/CSU‑Fraktion lehnen meine Wahl kategorisch ab.“
Sie kritisierte, dass Teile der Unionsfraktion sich von “zum Teil KI-generierte[n] Desinformations- und Diffamierungskampagnen” haben beeinflussen lassen. Rechte Fake News entscheiden jetzt erstmal über das höchste juristische Amt in unserem Land.
Der ganze Vorfall und die künstlich inszenierte Empörung um Brosius-Gersdorf verliefen dabei wie im Bilderbuch. Oder genauer gesagt: Nach einem bekannten Masterplan der autoritären Rechten.
Rechte lesen das autoritäre Playbook – und folgen Wort für Wort
Das „Autoritäre Playbook“ ist eine Art Anleitung der autoritären Rechten, mit dem sie Schritt für Schritt die Demokratie aushebeln. Weil es für die Verteidigung der Demokratie so wichtig ist, diese Taktiken zu durchschauen, haben sich in den letzten Jahren immer mehr demokratische Forscherinnen und Journalisten damit beschäftigt. So arbeitete die NGO Protect Democracy in den USA eine Variante des autoritären Playbooks heraus, welches die extreme MAGA-Rechte um Donald Trump dort aktuell in die Tat umsetzt.
Das Konzept lässt sich aber auch auf andere Länder übertragen, denn die Strategie basiert auf sieben sehr grundlegenden Taktiken. Dazu gehören die Politisierung unabhängiger Institutionen, Desinformationskampagnen, die Stärkung exekutiver Gewalt auf Kosten der Gewaltenteilung, die Vernichtung jeglicher Kritik, die Verwendung von Minderheiten und marginalisierten Gruppen als Sündenbock, die Manipulation von Wahlen und schließlich: Gewalt.
Das Playbook wird in den USA bereits komplett umgesetzt
Wenn man diese Taktiken als Teil einer Strategie versteht, erklärt sich, warum gerade in den letzten Jahren „zufällig“ an so vielen Orten der Welt ein sehr ähnlicher Rechtsruck stattfindet. An manchen Orten ist es dabei schon weiter fortgeschritten. In den USA überbieten sich die CEOs der großen Unternehmen darin, möglichst intensiv die Schuhe des Autokraten Trump zu lecken, weil sie wissen, wie dessen Regime mit Kritik umgeht (Taktik 4), während erst vor einigen Wochen Marineinfanteristen gegen die Zivilbevölkerung nach Los Angeles geschickt wurden (Taktik 7).
In der vergangenen Woche entließ Trump die Chefstatistikerin des Landes, weil sie echte (und damit: für Trump schlechte) Zahlen zum Arbeitsmarkt veröffentlichte (Taktik 1), generell wurden Massendeportationen und „concentration camps” gegen Menschen mit Migrationshintergrund (der Sündenbock für alles, was schiefläuft) eingerichtet (Taktik 5) und in Texas will Trump gerade buchstäblich die Grenzen der Wahlbezirke neu ziehen, weil er sich sorgt, sonst seine Mehrheit im Repräsentantenhaus zu verlieren (Taktik 6).
Wie es die Forschenden 2022 vorhergesagt haben, wird das autoritäre Playbook von Trump in die Tat umgesetzt. In Deutschland sind wir noch nicht so weit. Doch der Fall Brosius-Gersdorf ist ein Alarmsignal, dass die Umsetzung jetzt auch hierzulande beginnt.
Brosius-Gersdorf-Canceling ist autoritäres Playbook in Aktion
Wer den Fall Brosius-Gersdorf genau beobachtet hat, dem wird bei den oberen Absätzen etwas aufgefallen sein. Taktik 1: Politisierung unabhängiger Institutionen, wie des Bundesverfassungsgerichts. Taktik 2: Die Verbreitung von Desinformation, wie absurde Lügen über Brosius-Gersdorfs Haltung zum Schwangerschaftsabbruch und ihrer Doktorarbeit. Und Taktik 5: Gezielte Angriffe auf marginalisierte Gruppen, wie Frauen in juristischen Führungsämtern. Was für ein komischer Zufall, dass genau das jetzt hier passiert? Das klingt ja fast so, als hätten die rechtsextreme AfD und ihre rechten Vorfeld-Medien das autoritäre Playbook gelesen – und setzen es gerade1:1 in die Tat um?
Für manche mag das jetzt wenig überraschend sein. Wer unsere Berichterstattung zu dem Thema verfolgt, weiß schon länger von den politsphere-Analyseergebnisse, die nahelegen, dass schon vor der abgesagten Wahl Brosius-Gersdorf gezielt mit Desinformation attackiert wurde.
Demnach begannen einschlägige rechtsradikale und gesichert rechtsextreme Multiplikatoren Anfang Juli damit, diffamierende und falsche Inhalte über Brosius-Gersdorf zu streuen. Teilweise wurden diese Postings sogar als bezahlte Werbung auf sozialen Netzwerken geschaltet, um ihre Reichweite künstlich zu erhöhen. Mit anderen Worten: Hier war keine spontane Basisempörung am Werk, sondern eine gezielte Kampagne, die algorithmisch verstärkt wurde.
Doch in Teilen der Politik, in vielen Mainstream-Medien und damit auch in Teilen der Gesellschaft ist das noch nicht durchgedrungen.
Das war eine gezielte Manipulation einer rechtsradikalen Minderheit
Umso wichtiger ist es zu zeigen: Das sind keine zufälligen Meinungsäußerungen aus „dem Volk”, das ist eben nicht „was die Menschen so wollen“. Fachlich ist Brosius-Gersdorf kompetent, bei inhaltlichen Themen wie der Reform des §218 StGB befindet sich ihre Haltung in der Mitte der Gesellschaft – 80 % der Deutschen haben ihre Haltung. Auch eine Mehrheit der Unionswähler sprach sich für sie aus. Brosius-Gersdorf kritisiert an der Unionsfraktion explizit, dass sie sich weigern, mit ihr zu sprechen – und stattdessen den Lügen aus dem Netz glaubten. Sie schrieb sogar:
“Die ablehnende Haltung von Teilen der CDU/CSU-Fraktion wegen meiner Position zum Schwangerschaftsabbruch steht im Widerspruch zum Koalitionsvertrag. Es ist paradox, jemanden wegen einer Position abzulehnen, die man selbst vertritt.“
Die Rechtsradikalen haben hier – leider erfolgreich – genug Unions-Abgeordneten Lügen eingeredet, damit sie sich ihnen anschließen. Und nicht nur die Gesellschaft gespaltet – auch der Regierung massiv geschadet.
Doch die autoritäre Rechte hat ihr Playbook ausgepackt und einfach mal ganz stumpf Schritt 1 [Politisierung unabhängiger Institutionen] und Schritt 2 [Desinformation] ausprobiert, gewürzt mit ein bisschen Misogynie [Schritt 5]. Und sind vielleicht gerade selbst ein bisschen überrascht, wie gut es funktioniert hat. Wie hilflos die demokratische Opposition im Bundestag ist, wie bereitwillig Teile des konservativen Spektrums die Kampagne mitgetragen haben.
Der Faschist Sellner, der hinter dem verfassungsfeindlichen Konzept der „Remigration“ steht, feiert nicht umsonst den Rückzug von Brosius-Gersdorf als „gewinnen“ „an allen Fronten“.

Fall Brosius-Gersdorf: Testlauf für autoritäre Taktiken in Deutschland
Der Fall Brosius-Gersdorf ist mehr als nur eine politische Personalie. Er ist ein Testlauf für autoritäre Taktiken in Deutschland – und er hat funktioniert. Rechte Netzwerke haben gezielt Lügen gestreut, um eine fachlich anerkannte und gesellschaftlich breit akzeptierte Kandidatin zu verhindern. Eine Wahl, die bisher nie zu einer öffentlichen Debatte wurde. Teile der Union haben diese Kampagne bereitwillig aufgegriffen oder ihr zumindest nicht widersprochen. Das Ergebnis: Eine unabhängige Institution wie das Bundesverfassungsgericht wurde politisch instrumentalisiert, und ein gefährlicher Präzedenzfall wurde geschaffen. Wer glaubt, das sei ein einmaliger Ausrutscher, verkennt, dass genau solche Muster systematisch wiederholt werden. Bis sie zur neuen Normalität werden.
Wenn wir diesen Vorgang einfach als normale politische Auseinandersetzung verbuchen, haben die Drahtzieher schon gewonnen. Der Fall zeigt, wie schnell demokratische Standards erodieren, wenn Desinformation und gezielte Diffamierung unwidersprochen bleiben. Es ist keine Übertreibung zu sagen: Wenn diese Methoden erneut funktionieren, stirbt die Demokratie auch bei uns letzten Endes. Wir müssen daraus lernen und Mechanismen entwickeln, um solche Kampagnen früh zu erkennen, öffentlich zu entlarven und politisch klar zurückzuweisen. Bevor sie sich festsetzen und zum Werkzeug werden, mit dem autoritäre Kräfte schrittweise die Kontrolle übernehmen. Und es ist auch im Interesse des Kanzlers, gegen diese Manipulationen vorzugehen. Denn sie blamieren und zerstören auch seine Regierung.
Wer genauer wissen will, über welche Positionen von Brosius-Gersdorf wie gelogen wurde, und sich selbst überzeugen will, dass sie kontroverse und angesehene Positionen der Mitte vertritt, hier haben wir das ausführlich gefaktencheckt mit allen Quellen zum selbst prüfen:
Brosius-Gersdorf: Wie die Union von einer rechten Kampagne manipuliert wurde
Artikelbild: Britta Pedersen/dpa, Screenshot protectdemocracy.org (2022)
