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Kommentar: Wenn der Wunsch nach Nationalstolz die Geschichte verzerrt

Belltower.News


Im Zuge der Novemberpogrome 1938 wurden Geschäfte von Jüdinnen*Juden, jüdische Friedhöfe und Synagogen von NS-Truppen zerstört.

(Quelle: picture alliance / akg-images | akg-images)

Auschwitz ist der Stachel im Fleisch – zumindest all derjenigen, die sich nach einem unbeschwerten deutschen Nationalstolz sehnen. Es lässt sich so gar nichts Positives, Konstruktives aus der Shoa gewinnen – es ist die Verantwortung, sich mit ihr zu beschäftigen. Und viel zu sehr umgibt sich die Auseinandersetzung mit schmerzhaften Eingeständnissen: Dass die Vorfahren aller Wahrscheinlichkeit nach nicht im Widerstand waren, dass viele von ihnen sogar mit eigener Hand gemordet oder aktiv das (industrielle) Morden unterstützt haben, dass der Antisemitismus auch nach der sogenannten „Stunde Null“ 1945 fortexistierte und dass die deutsche Aufarbeitung eine Mär ist, die es von der Grausamkeit her locker mit den Märchen der Gebrüder Grimm aufnehmen kann. Daher rührt der Wunsch, es hinwegzuwischen, sich dieser Vergangenheit – und ihren Kontinuitäten – zu entledigen. Wer das zu offensichtlich tut, findet sich schnell an der Seite der „Ewiggestrigen“, der vulgären Neonazis und Shoa-Leugner*innen. Das passt nicht recht ins bürgerliche Selbstverständnis. Und doch, das zeigte sich nicht zuletzt im vergangenen Bundestagswahlkampf, in dem die CDU ein Deutschland forderte, „auf das wir wieder stolz sein können“.

Man könnte meinen – oder zumindest hoffen –, dass sich angesichts der globalen rechten Revolte zunehmend auch in jenem politischen Lager ein Bewusstsein dafür entwickeln würde, welche Bedrohung vom unbedingten Wunsch nationaler Größe ausgehen kann. Doch dem ist nicht so. Vielmehr nutzen es jene politischen Kräfte als Gelegenheit. Sie reihen die Tiefpunkte der Nationalgeschichte an einer Perlenkette neben denjenigen auf, die als glorreich empfunden werden. So soll ihnen ihr Bann genommen werden. Das klingt dann ungefähr so: „Wir haben aus dunkelster Zeit heraus die Freiheit gewonnen: Der 9. November erinnert uns daran, wie schnell sich Geschichte wenden kann, wie wertvoll Demokratie ist und wie wichtig es ist, unsere Freiheit zu verteidigen. Diese Freiheit müssen wir schützen – heute und in Zukunft.“ Auf der zugehörigen Collage, die Bundeskanzler Friedrich Merz am 9. November 2025 auf X teilte, wird das Bild einer brennenden Synagoge von weiteren Bildern mit Menschen beim „Mauerfall“ und der Verkündung der Republik durch Philipp Scheidemann gerahmt. Die Novemberpogrome werden zu einem von vielen Ereignissen, die die deutsche Geschichte geprägt haben.

In seinem Vortrag „Was bedeutet: Aufarbeitung der Geschichte“ berichtet Theodor W. Adorno davon, dass das Institut für Sozialforschung während seines Gruppenexperiments erlebt habe, dass „bei Erinnerungen an Deportation und Massenmord mildernde Ausdrücke, euphemistische Umschreibungen gewählt werden […]; die allgemein eingebürgerte, fast gutmütige Wendung ‚Kristallnacht‘ für das Pogrom vom November 1938 belegt diese Neigung.“ Es ist eine weitere Volte jener Haltung, die Bedeutung der Pogrome dadurch zu entstellen, dass sie in eine Reihe mit den „Glücksmomenten“ deutscher Geschichte gestellt werden. Hinzu wurden sie nicht als das bezeichnet, was sie waren – nämlich ein weiterer Schritt zum industriellen Massenmord, getragen von der großen Mehrheit der Gesellschaft –, vielmehr werden sie zum Hintergrundrauschen, entkonkretisiert bezeichnet als „dunkelste Zeit“, aus der ein angebliches „Wir“ seine Freiheit gewonnen habe. Dabei wird geschickt außer Acht gelassen, dass die Deutschen sich in großer Mehrheit so gar nicht nach dieser demokratischen Freiheit sehnten, sondern für ihren Führer in den Endkampf zogen, nachdem sie Europa mit dem Vernichtungskrieg überzogen und Millionen Menschen ermordet hatten.

Merz bespielt – recht ungeschickt – die Klaviatur der „Wiedergutwerdung“. Und er setzt damit jene Tendenzen fort, die der leider viel zu früh verstorbene Essayist Eike Geisel bereits 1989 erkannt und kritisiert hatte. Dass der „Fall der Mauer“ und die deutsche Vereinigung zum Fall der Hemmschwellen führen würden, dass die gesellschaftliche Akzeptanz gegenüber geschichtsrevisionistischen Haltungen zunehmen werde, dass mit „jedem Stein, der aus der Mauer gehämmert wurde, […] auch allen eine Zentnerlast vom Herzen [fiel]: das letzte markante Erinnerungszeichen daran, daß die Deutschen den Zweiten Weltkrieg doch nicht gewonnen hatte, begann zu verschwinden.“

Manche mögen einwenden, dass der Bundeskanzler sich sehr wohl der Geschichte bewusst sei. Wie könnte man sonst seine Tränen und seine emotionale Rede bei der Eröffnung der Synagoge in der Münchener Reichenbachstraße im September erklären? Nun ist es so – auch das kritisierten Geisel, Michal Y. Bodemann u.a. bereits in den 1990ern –, dass an Jüdinnen*Juden die Erwartung gerichtet wird, die deutsche „Wiedergutwerdung“ als stillschweigende Objekte zu bezeugen. Wie erfolgreich diese stattfindet, ob die Demokratisierung Deutschlands gelungen ist, das alles wird am Verhältnis zu den Jüdinnen*Juden bemessen. Der Besuch in der Synagoge ist – ob bewusst oder unbewusst – eine Gelegenheit, das unter Beweis zu stellen. Merz mag wirklich gerührt gewesen sein, doch was ist diese Rührung wert, wenn er unterschiedslos vom deutschen Schicksalstag spricht? Eines sollte doch immer klar sein: Deutschland wurde nicht befreit, sondern die Menschen, die von der nationalsozialistischen Zustimmungsdiktatur verfolgt und ermordet wurden. Wer nicht bereit ist, das auch beim Namen zu nennen, sollte in Synagogen lieber schweigen.

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