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„Römerpass“ unter Gletscher widerspricht nicht dem menschengemachten Klimawandel
Das Eis auf einem Schweizer Alpenpass ist nach Jahrtausenden komplett geschmolzen. In Sozialen Netzwerken heißt es, die Römer hätten den Pass in einer eisfreien Periode vor 2.000 Jahren genutzt – und dies widerspreche dem menschengemachten Klimawandel. Doch das ist falsch.
von Sarah Langner
Ein Passweg der Römer, der unter einem abgeschmolzenen Gletscher gelegen habe, widerspreche dem menschengemachten Klimawandel.
19.10.2024
Falsch
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Falsch. Es ist unklar, ob die Römer den Pass nutzten und ob er vor 2.000 Jahren eisfrei war – neuere Forschung spricht dagegen. Unabhängig davon sind Gletscherregionen, die in der Vergangenheit eisfrei waren, kein Beweis gegen den menschengemachten Klimawandel. Insbesondere die Geschwindigkeit, mit der sich das Klima in den letzten Jahrzehnten verändert hat, unterscheidet den aktuellen Klimawandel von vergangenen natürlichen Klimaschwankungen.
Der Tsanfleuronpass in den Schweizer Alpen verband über Jahrtausende die beiden Gletscher Sex Rouge und Tsanfleuron miteinander. Heute jedoch trennt er sie. Denn seit September 2022 zeigt der Pass seinen Geröllrücken, das Eis darauf ist gänzlich geschmolzen.
Das ist Anlass für manche, den menschengemachten Klimawandel in Frage zu stellen. Auch in einem viralen Instagram-Beitrag mit mehr als 10.000 Likes geht es offenbar um den Tsanfleuronpass, darin heißt es: „Wenn man unter weggeschmolzenen Gletschermassen einen 2.000 Jahre alten Passweg entdeckt, der zur Römerzeit noch fleißig benutzt wurde, sollte man seine paranoide Klimahysterie vielleicht mal überdenken.“ Die Argumentation dahinter: Wenn das Eis auf dem Passweg vor 2.000 Jahren auf natürliche Weise geschmolzen ist, dann kann der Einfluss des Menschen auf den aktuellen Klimawandel ja nicht so schlimm sein.
Der Instagram-Beitrag stammt von einem Account namens „Politik und Zeitgeschehen“, nach eigenen Angaben eine Medien- und Nachrichtenseite, die jedoch schon in der Vergangenheit mit falschen und irreführenden Behauptungen auffiel.
Auch die Argumentation in Bezug auf den Passweg ist irreführend und ihr fehlt Kontext: Zum einen wurde der Pass zur Römerzeit höchstwahrscheinlich nicht „fleißig benutzt“, es ist nicht einmal sicher, ob er vor 2.000 Jahren eisfrei war. Zum anderen widerspricht eine vergangene eisfreie Periode eines Gletschergebiets nicht dem menschengemachten Klimawandel. Warum das so ist, erklären wir im Faktencheck.
Tsanfleuronpass war wahrscheinlich kein „Römerpass“
Das Abschmelzen des Tsanfleuronpasses weckte internationales Interesse, viele Medien griffen das Thema 2022 auf. Der Focus titelte: „Hitze-Sommer legt seit 2000 Jahren verborgenen Pass in Alpen frei.“ In einem Spiegel-Artikel heißt es im Teaser, schon die Römer seien durch Schnee und Eis über den Pass gestapft.
Einige Medienberichte erweckten einen falschen Eindruck, erklärt uns auf Anfrage der Glaziologe Mauro Fischer von der Universität Bern. Er hat an der damaligen Pressemitteilung des Skigebiets Glacier 3000 mitgewirkt. In der Pressemitteilung heißt es, dass der Tsanfleuronpass „mindestens seit 2.000 Jahren“ beziehungsweise „mindestens seit der Römerzeit“ mit Eis bedeckt gewesen sei, wahrscheinlich sogar noch länger. Bei den 2.000 Jahren habe es sich um eine „konservative Schätzung“ gehandelt. Inzwischen liefere die neuere Forschung „starke Hinweise dafür, dass der Pass viel länger als die letzten 2.000 Jahre eisbedeckt war.“ Dass der Pass „mindestens“ seit 2.000 Jahren mit Eis bedeckt war, ordnen auch der Focus und Spiegel im Verlauf der Artikel ein.
Dass die Römer den Pass wie auf Instagram behauptet „fleißig genutzt“ hätten, halten sowohl Fischer als auch der Glaziologe Christoph Mayer von der Bayerischen Akademie der Wissenschaften für unwahrscheinlich. „Für die Überquerung der Berner Alpen gibt’s in der Region viel plausiblere und einfachere Routen“, erklärt Fischer. Tsanfleuron sei daher eher ein Nebenpass gewesen, der bei günstigen Verhältnissen vielleicht begangen worden sei, so Mayer.
Doch unabhängig davon, ob der Pass von den Römern genutzt wurde oder ob er vor 2.000 Jahren eisfrei war – beides wäre kein Beleg gegen den menschengemachten Klimawandel.
In der Vergangenheit abgeschmolzene Gletscher widerlegen nicht den menschengemachten Klimawandel
Das Argument komme immer wieder auf und sei „völlig haltlos“, schreibt uns auf Anfrage Matthias Huss, Glaziologe an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich. „Kein Klimawissenschaftler bestreitet, dass sich das Klima auch natürlich ändert.“ Gründe für natürliche Schwankungen in der Vergangenheit waren etwa Vulkanausbrüche oder eine veränderte Sonneneinstrahlung, wie wir in einem Hintergrund erklären.
Doch es gibt einen entscheidenden Unterschied: „Das Klima ändert sich seit einigen Jahrzehnten mit einem unglaublichen Tempo – und gewaltigen Konsequenzen für die Menschheit“, betont Huss. „Dass es in den Alpen vor 2.000 Jahren an gewissen Stellen weniger Eis gab als heute, ist eine interessante Beobachtung, aber sie hat nichts zu tun mit dem menschgemachten Klimawandel und seinen Auswirkungen.“
Auch Mayer betont uns gegenüber die hohe Geschwindigkeit des menschengemachten Klimawandels. Die Situation im Vergleich zu vor 2.000 Jahren beschreibt er so: „Die mittlere Temperaturschwankung war damals etwa 0,5 bis 0,7 Grad über 500 Jahre. Heute erleben wir einen Anstieg von bisher 1,3 bis 1,5 Grad in 150 Jahren und davon den größten Teil in den letzten 30 Jahren, mit einer deutlichen Tendenz zur Beschleunigung.“
Der Temperaturanstieg in den letzten Jahrzehnten sei zu 100 Prozent durch den Einfluss des Menschen zu erklären, schreibt Huss. „Es ist physikalisch ganz klar belegt, wieso der Ausstoß an Treibhausgasen zur Erwärmung führt. Die Zusammenhänge sind schon seit über 100 Jahren bekannt.“
Dass natürliche Faktoren den aktuellen Klimawandel nicht erklären können, belegt auch eine Grafik des Weltklimarats. Sie zeigt, wie sich die globale Oberflächentemperatur ändern würde, wenn menschliche Faktoren wegfielen: Sie wäre deutlich weniger angestiegen.
Eisfreie Fläche am Tsanfleuronpass wächst jedes Jahr
Auch den globalen Gletscherschwund der letzten Jahrzehnte könne man nur mit dem menschgemachten Klimawandel erklären, schreibt Fischer. Die eisfreie Fläche um den Tsanfleuronpass wachse von Jahr zu Jahr. Von der Schmelze seien auch die beiden an den Pass grenzenden Gletscher betroffen. Fischer misst für das Schweizerische Gletschermessnetz Glamos die Massenbilanzen dieser beiden Gletscher. Ihre Zukunft sieht er kritisch: „Sowohl der kleinere Sex Rouge als auch der etwas größere Tsanfleurongletscher werden beide innerhalb der nächsten Jahrzehnte komplett verschwinden.“
Der Verlust des letzten Eises auf dem Pass fiel mit 2022 in ein besonders warmes Jahr, schreibt Huss. Er bezeichnet es als „absolutes Rekordjahr“ – seit Beginn der Gletscher-Messungen in der Schweiz vor über 100 Jahren habe es keine annähernd starke Gletscherschmelze gegeben. Allein 2022 und 2023 hat die Schweiz zehn Prozent ihres verbleibenden Gletschereises verloren. Das Jahr 2024 sei dank viel Schnee im Winter etwas weniger dramatisch gewesen.
Mayer erklärt jedoch: Selbst wenn das jetzige Klima genau so bleiben würde, wie es ist, würden die Gletscher noch Jahrzehnte weiter abschmelzen, da sie verzögert auf Klimaentwicklungen reagieren. Fischers Prognose für die Region lautet: „Gegen Ende des 21. Jahrhunderts wird es in den Alpen fast kein Gletschereis mehr geben, und dafür sind nicht natürliche Klimaschwankungen, sondern der menschengemachte Klimawandel verantwortlich.“
Der Betreiber des Instagram-Accounts „Politik und Zeitgeschehen“ antwortete nicht auf eine Anfrage dazu.
Redigatur: Paulina Thom, Gabriele Scherndl
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Author: Sarah Langner
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