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Es sieht aus, als hätte ein schwerer Sturm oder ein Erdbeben die Siedlung Litterode heimgesucht. Geborstene Glasscheiben, loses Mauerwerk und zerbrochene Dachziegel liegen auf dem Boden verstreut. Ein Haus ist halbiert – die eine Hälfte liegt in Trümmern, die andere ist nach wie vor bewohnt. Doch es war keine Naturkatastrophe, die im Essener Außenbezirk Leithe gewütet hat. Ein geparkter Bagger und ein Bauzaun verraten: Die Zerstörung läuft nach Plan. Die Siedlung Litterode soll abgerissen werden.

Doch die alteingesessenen Mieterinnen und Mieter wehren sich gegen den Abriss ihrer Heimat. Viele von ihnen wohnen seit Generationen in der Siedlung, die in den 1930er Jahren für die Arbeiter der nahegelegenen Kohlezechen gebaut wurde. Für sie ist die Litterode mehr als eine Ansammlung in die Jahre gekommener Häuser. Gegenüber CORRECTIV betonen die Mieterinnen und Mietern den starken Zusammenhalt in ihrer Nachbarschaft – und den Wunsch, die Siedlung zu erhalten.
Eigentümer der Siedlung ist die kommunale Wohnungsgesellschaft Allbau GmbH, nach eigenen Angaben „Essens größter Wohnungsanbieter mit fast 18.000 Mietwohnungen“. Das Unternehmen gehört zu einem Zusammenschluss, dem sogenannten „Immobilienkompetenzzentrum für die Stadt Essen“, von der die Allbau GmbH 2023 die Verwaltung der Siedlung Litterode übernahm. Die Häuser in der Litterode seien „in die Jahre gekommen“, so die Allbau GmbH, eine Sanierung sei unwirtschaftlich. „In der Abwägung war Niederlegung und der Neubau eine unausweichliche Entscheidung“, so die Pressestelle auf Anfrage von CORRECTIV. Der Pressesprecher fügt hinzu: „Im Übrigen ist das für uns nichts Unübliches, da wir bereits an anderer Stelle abgängige Gebäude durch Neubau ersetzt haben.“

In der Litterode plant das Unternehmen für rund 26 Millionen Euro den „Rückbau aller Immobilien, danach Neubau von 73 Wohneinheiten.“ Der Rückbau, also der Abriss der bestehenden Häuser, sei Teil einer breiteren Strategie: „Wir stellen uns den Herausforderungen an eine nachhaltige Stadtteilentwicklungspolitik, die an vielen Stellen in unserer Stadt auch den Rückbau von Wohnungsbeständen bedeuten muss.“
Studie bestätigt: Mieterinnen und Mieter werden oft „entmietet und verdrängt“
Bundesweit gibt es ähnliche Fälle, in denen alte Siedlungen abgerissen und durch teure Neubauten ersetzt werden sollen. Viele davon hat CORRECTIV zusammen mit Bürgerinnen und Bürgern im Abriss-Atlas dokumentiert: von Esslingen, Waiblingen und Freiburg im Südwesten, über München, Hannover und Braunschweig bis Schönebeck in Sachsen-Anhalt. Auch in diesen Fällen sind es häufig kommunale Wohnungsgesellschaften und Baugenossenschaften, die wie die Essener Allbau GmbH dem Gemeinwohl verpflichtet sind. Deren Geschäftsführer sagt über den Abriss der Siedlung Litterode in Essen: „Er ist kein Verlust, sondern ein Gewinn von Lebensqualität, örtlicher Attraktivität und der Perspektive, einen breit gefächerten Wohnungsmix zu schaffen.“
Abriss Atlas: Wo wird abgerissen – und wer ist davon betroffen?
Im Abriss Atlas dokumentiert CORRECTIV gemeinsam mit Bürgerinnen und Bürgern den Abriss von Gebäuden: zunächst in der Schweiz und in Deutschland, nun gemeinsam mit Partnermedien auch europaweit im Demolition Atlas Europe. Jeder und jede ist eingeladen, uns Informationen zu abgerissenen Gebäuden oder einem geplanten Abriss mitzuteilen. Im Trägerkreis des deutschen Abriss Atlas sind unter anderem der Verein Architects for Future sowie die Leibniz Universität Hannover vertreten. Architekturprofessor Tim Rieniets, der in diesem Artikel zu Wort kommt, lehrt dort Stadt- und Raumentwicklung.
Abriss und Neubau: eine „spezifische Form von direkter Verdrängung“

Eine Studie mit dem Titel „Entmietet und verdrängt“ des Leibniz-Instituts für Sozialforschung bestätigt: „Das Verfolgen immobilienwirtschaftlicher Strategien von Eigentümerschaften und die damit verknüpfte bauliche Aufwertung“ führe vielerorts “zur Verdrängung der bislang dort lebenden Menschen.“ Abriss und Neubau von Siedlungen führe in der Regel zu einer „Verteuerung von Wohnraum“, oft mit gravierenden Folgen für die alteingesessenen Mieterinnen und Mieter: „Die ansässigen Mieter*innen können ihre Wohnung nicht mehr bezahlen und müssen sich eine andere suchen.“ Die Autorinnen und Autoren der Studie sehen darin eine „spezifische Form von direkter Verdrängung – erzeugt durch massenhafte Wohnungskündigungen innerhalb einzelner Siedlungen“.
Auch in der Essener Litterode hat die Allbau als Eigentümerin der Siedlung allen Mieterinnen und Mietern gekündigt. „Leerkündigung“ nennt sich diese Praxis in der Immobilienbranche. Doch Hevres Becker und ihre Familie sowie neun weitere Mietparteien harren in der Litterode aus. Inzwischen versucht die Allbau vor Gericht, den Auszug der verbleibenden Mieterinnen und Mieter einzuklagen.

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Author: Marius Münstermann